, 1. März 2017
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Der Pantoffel-Ministrant kehrt zurück

Das Theater St.Gallen bringt Thomas Hürlimanns «Fräulein Stark» als Hör-Drama in die Lokremise – 16 Jahre nach dem Wirbel um das Buch.

Es war eine schöne Sommerloch-Aufregung, damals in der Stadt. «Ein burleskes Sommertheater», schrieb die «Sonntagszeitung» unter dem schreienden Obertitel «Nachtragender St.Galler Filz». Von einer «Pantoffel-Posse» war andernorts die Rede, der «Blick», die «Schweizer Illustrierte», die «Coop-Zeitung» nahmen das Thema dankbar auf, auch deutsche Zeitungen berichteten, doch allzu lange hielt der Aufmerksamkeitspegel nicht an: «Die Aufregung ist für die Katz», meckerte der «Tagesanzeiger».

Man kann dies alles in einem säuberlich gebundenen Pressedossier nachlesen, das einem im Lesesaal der Stiftsbibliothek ausgehändigt wird unter einem Plakat mit Anweisungen zum richtigen Arbeiten aus der Mönchsregel des Hl. Benedikt. Um die Stiftsbibliothek ging es denn auch; in ihr und um sie spielte die Novelle Fräulein Stark von Thomas Hürlimann, die den Anstoss zur Sommeraufregung gab. Darin porträtierte der Autor einen Stiftsbibliothekar namens Katz, der dem real existierenden, damals 87-jährigen früheren Amtsinhaber Johannes Duft täuschend ähnlich sah, sowie dessen titelgebende Haushälterin, die sogar ihren richtigen Namen im Buch lesen musste.

Hürlimann, um das Mass vollzumachen, war zudem nicht irgendwer, sondern der Neffe des Stiftsbibliothekars; seine Mutter war eine geborene Duft. Sich selber schildert er im Buch als «Pantoffelministrant», der in den Sommerferien den Besucherinnen der Stiftsbibliothek die legendären Filzpantoffeln aushändigt und dabei seine ersten erotischen Erfahrungen macht.

Wo endet die künstlerische Freiheit?

Noch vor Erscheinen des Buchs reagierte Johannes Duft mit einer zehnseitigen Broschüre im Eigenverlag: Bemerkungen und Berichtigungen zum Buch «Fräulein Stark» von Thomas Hürlimann. Er warf dem Neffen, den er als «verklemmt» und als «verwöhntes Herrensöhnchen» titulierte, seine «peinlich anmutende Pubertät» vor, stellte die Familiengeschichte richtig und hob insbesondere die menschlichen Qualitäten von Fräulein Stark hervor.

Fräulein Stark: 3. (Premiere), 8., 10., 11. und 19. März, Theater St.Gallen
theatersg.ch

Dufts Streitschrift hatte zum einen zur Folge, dass die Rösslitor-Buchhandlung eine bereits fixierte Lesung mit Hürlimann absagte – und zum andern, dass der Verlag die Auslieferung des Buchs vorzog und die Erzählung erst recht in aller Munde war. Die Lesung kam dann doch noch zustande; «Tagblatt»-Chefredaktor Gottlieb F. Höpli und das Stadttheater sprangen in die Bresche. 400 Leute kamen ins Theater, ein einziger Besucher stellte eine Frage.

Anregender war die Mediendebatte. Sie drehte sich zum einen um die Grenzen der künstlerischen Freiheit. Alt-Stiftsbibliothekar Duft musste sich den Vorwurf gefallen lassen, Literatur und Wirklichkeit zu verwechseln, und Autor Hürlimann beharrte darauf, er habe «kein autobiografisches Buch geschrieben» und niemals mit Ärger gerechnet oder gar darauf spekuliert. Er räumte aber zugleich ein: «Der Stoff nimmt den Autor; wäre es umgekehrt, würde es schwierig. Man muss sich in den eigenen Beziehungen bewegen, sonst funktioniert Literatur nicht.»

Zum andern gab das katholische Milieu zu reden, das hier einmal mehr als «Zensurinstanz» funktionierte. Hürlimann selber deklarierte sich in Interviews als «katholischen Atheisten» und «Kulturkatholiken» mit alter Kindheits-Prägung. Im Gegensatz zu Meienberg habe seine Erzählung aber keine programmatische Absicht, das Milieu zu analysieren. «Fräulein Stark ist einfach eine Geschichte, die in dieser Luft spielt.»

Der Skandal von 1984

In Sachen katholischer Zensur war Hürlimann ein gebranntes Kind. 1984 hatte bereits einmal ein Text von ihm die St.Galler Öffentlichkeit bewegt: die Erzählung Grossvater und Halbbruder. CVP-Stadtrat Hans-Rudolf Schwizer verbot eine geplante Inszenierung des Stücks oben auf Drei Weieren kurzerhand; der Gesamtstadtrat musste nach lautstarken Protesten das Verbot rückgängig machen. Stein des Anstosses war hier, dass der Autor der besseren St.Galler Gesellschaft ihre Nähe zum faschistischen Deutschland vorhielt.

Das Verbot geriet zum Kulturskandal – 17 Jahre später reichte es bei Fräulein Stark kaum noch zu einem Sturm im Wasserglas. Die «einflussreichen St.Galler CVP-Kreise, die dem Stiftsonkel und seiner Haushälterin den frechen Schriftstellerneffen vom Leib hätten halten müssen», seien auch nicht mehr, was sie einmal waren, bilanzierte Charles Pfahlbauer jr. im August-Saiten. Alles lange her.

Noch einmal fast gleich viele Jahre später inszeniert das Theater St.Gallen Hürlimanns Novelle jetzt als «Hör-Drama» in der Lokremise, in der Regie des Schweizer Theatermachers Georg Scharegg. Ob es die Gemüter wieder in Wallung bringt, wird man sehen. Der Text jedenfalls liest sich bis heute mit allergrösstem Amüsement.

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