, 20. November 2018
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Der paternalistische Blick

Dass die SVP auf die Barrikaden geht, wenn Studierende sich kritisch gegen das neue Sozialversicherungsgesetz äussern, geschenkt. Dass ihnen aber der kantonale SP-Präsident und Historiker Max Lemmenmeier zur Hilfe eilt, ist erstaunlich. Er sollte es besser wissen. Ein Kommentar von Matthias Fässler.

Die handelnden Personen: ein Rektor, dem es vor einer neuen Sorbonne zu grauen scheint, ein SVP-Politiker, der mit seiner Partei seit Jahren Politik auf dem Rücken von IV-Bezügerinnen und -Bezügern betreibt und gerade aus der Menschenrechtskonvention austreten will und dabei Studierenden zuruft «Seid nicht politisch! Empört euch nicht!» – und ein SP-Parlamentarier, der sich in ein Boot mit den beiden begibt. Wollte man dem ganzen Trauerspiel etwas Positives abgewinnen, man könnte sagen: mal wieder etwas politische Reibungsfläche im sonst so oft harmoniebedürftigen St.Güllen. Doch es geht um mehr.

Am 25. November stimmen wir über die Revision des Sozialversicherungsrechts ab. Im Kern geht es um die Frage, wie viele Kompetenzen Sozialversicherungen bei der Überwachung ihrer Versicherten zugesprochen bekommen sollen. Aktuelle Umfragewerte lassen darauf schliessen, dass das Referendum scheitert und damit das neue Schnüffelgesetz bald in Kraft tritt.

Die Sozialistin Rosa Luxemburg schrieb einmal: «Wer sich nicht bewegt, spürt seine Ketten nicht.» Was vor 100 Jahren galt, ist heute noch immer aktuell. Bewegt hatten sich am vergangenen Montag Studierende (und angeblich auch Angestellte) der Fachhochschule St.Gallen, indem sie ein Transparent am Balkon der Schule entrollten. Und die Ketten folgten sogleich: Die Polizei beendete die Aktion nach wenigen Minuten. Rektor Sebastian Wörwag enervierte sich danach in einer internen Mitteilung darüber, dass die Aktion ohne Rücksprache bzw. Genehmigung durch die Hochschule durchgeführt worden sei. Die FHS unterstütze keine Veranstaltungen oder «Verlautbarungen mit einseitigen oder tendenziösen Positionsbezügen», schrieb er. Mittlerweile untersagte die Schulleitung der Kriso, die Räume der Hochschule für die «Lange Nacht der Kritik» zu nutzen.

Die Lange Nacht der Kritik findet neu im Kulturkonsulat an der Frongartenstrasse 9 statt.

Den Kritikern der Transparent-Aktion eilte ausgerechnet der Historiker, Kantonsrat und Präsident der kantonalen SP, Max Lemmenmeier zu Hilfe. Er halte die Aktion für «grundsätzlich falsch», sagte er zu TVO. Es gebe andere Arten, sich politisch zu engagieren, man könne sich schliesslich Parteien anschliessen. Darum sei die Fachhochschule der falsche Ort für solche politischen Äusserungen.

Lemmenmeier bekämpft hier mit erhobenem Zeigefinger seine eigene Wählerschaft: kritische Studierende, die sich gegen ein Gesetz engagieren, das eine massive Ausweitung der Kompetenzen von Sozialversicherungen bedeuten würde und die Überwachung zunehmend an private Unternehmen auslagert. Seine Kritik ist aber auch geschichtsvergessen, denn: Wo wäre die globale Linke, wo wäre die Sozialdemokratie heute, wenn nicht mutige Studierende, Lehrpersonen, Arbeiterinnen und Arbeiter sich das Recht genommen hätten, für ihre Anliegen einzustehen, über die Vorgaben der Universitäten, der Betriebe und der Behörden hinaus?

1968 wurde zur Chiffre für diese studentische Rebellion, die sich gleichzeitig an mehreren Orten auf der Welt – und mit etwas Verspätung auch in St.Gallen – manifestierte. Erkämpft wurden nicht nur mehr studentisches Mitspracherecht und eine Öffnung der Bildungsinstitutionen. Die Transparente, die an den Universitäten und in den Strassen von Paris, Berlin, Mexiko-Stadt, Rom und auch in Städten des globalen Südens wehten, trugen ihren Teil bei zur Stärkung der Frauenrechte, rückten die Grausamkeiten des Vietnamkriegs in ein kollektives Bewusstsein und führten zu einer Liberalisierung und Demokratisierung der autoritären und konservativen Nachkriegsgesellschaft. In Frankreich streikten im Mai 68 mehr als neun Millionen Menschen. Die soziale Dynamik des Wandels ergab sich auch dadurch, dass die Aktivistinnen und Aktivisten nicht um Erlaubnis fragten und sich Räume einfach nahmen.

Dass man einen Historiker und Sozialdemokraten an seine Geschichte erinnern muss, ist bedenklich.

Lemmenmeier hat sich in den vergangenen Monaten immer wieder kritisch zu den Vorgängen an der HSG geäussert und eine wissenschaftliche Öffnung der Universität gefordert. Das ist erfreulich. Noch erfreulicher wäre es, wenn solche Forderungen auch von Studierenden selber formuliert würden, wenn sich diese kritischer mit den Inhalten ihrer Ausbildung auseinandersetzen würden. Also das tun, was die Kriso gerade machen. Sie handelt damit übrigens im Sinne des «Code of Conduct» der FHS: «Sie [die Studierenden] werden aufgefordert, sich selbst wie auch die sie umgebenden Prozesse und Zeiterscheinungen kritisch zu reflektieren (…).»

Nun zu behaupten, es gäbe andere Orte als Universitäts-Balkone und die Strasse, um seine Meinung kundzutun, ist eine paternalistische Perspektive aus dem Elfenbeinturm der Parteipolitik. Man muss den Studierenden nicht erklären, wie Politik funktioniert. Die Aktion weist denn auch über den konkreten politischen Inhalt hinaus: Sie proklamiert den öffentlichen Raum als Ort der politischen Auseinandersetzung, als Bühne für «einseitige Positionen», die aufeinanderprallen. Und sie zerrt eine öffentliche Institution in die Verantwortung, sich mit sich selber auseinanderzusetzen – mit Überwachung und Disziplinierung, zwei gerade für die Soziale Arbeit zentralen Themenfeldern. Die FHS ist dabei Teil des öffentlichen Raums.

Das Transparent hing nur einige Minuten lang am FHS-Turm, die Polizei beendete die Aktion.

Die Forderung von Lemmenmeier, sich in Parteien zu organisieren, hat gerade im Fall der aktuellen Abstimmung eine zynische Pointe. Denn es war ein zivilgesellschaftliches Komitee, welches das Referendum ergriff. Die SP wollte es anfangs nicht unterstützen, lenkte erst nach öffentlichem Druck ein. Dass Lemmenmeier am nächsten Sonntag mit Nein stimmen kann, hat er also einer zivilgesellschaftlichen, ausserparlamentarischen Bewegung zu verdanken. Er sollte der Kriso nicht den Mund verbieten.

Für die Haltung des Rektorats, dass sich die FHS als Institution nicht politisch äussern will, kann man Verständnis haben. Auch wenn man sich, geraden in Zeiten wie diesen, eine Positionierung erhoffen würde und Bildung ohnehin nie «neutral» ist. Doch auch wenn das im Managementverständnis der FHS keinen Platz hat: Mitarbeitende und Studierende haben eine politische Haltung. Solange sie diese nicht im Namen der FHS vertreten, ist das unproblematisch.

Welche Art der Studentenschaft der FHS vorschwebt, lässt sich am Verein students.fhsg ablesen. Die Studierendenorganisation vertritt die Fachbereiche Wirtschaft, Gesundheit und Technik und ist das neoliberale Gegenstück zur SOSA, dem studentischen Zusammenschluss der Sozialen Arbeit. Students wird gesponsert von Schützengarten und PricewaterhouseCoopers – ganz neutral und unabhängig natürlich – und ist hauptsächlich damit beschäftigt, Networking zu betreiben und sich kecke Mottos für die Studipartys auszudenken. Das Motto des letzten Winterballs: The Great Gatsby.

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