, 8. März 2017
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Der unermüdliche Beck mit den abgerundeten Preisen

Jahrzehntelang machte Fritz Scheiwiller die besten Gipfeli und Bürli der Stadt. Man holte sie erst im Laden, später direkt aus der Backstube. Nun bleibt seine Bäckerei in St. Fiden für immer geschlossen.

Der Tipp kam aus der Nachbarschaft. Es war der pensionierte Schulleiter von gegenüber, der das erste Mal vom Bäcker ohne Laden erzählte. Und wie der Nachbar dann schwärmte von den Gipfeli und den Bürli: Die besten der Stadt seien es und der Bäcker ein Geheimtipp. Säckliweise hatte der Nachbar sie im Tiefkühler eingefroren – für besondere Anlässe und wenn man auf die Schnelle mal ein paar brauchte.

Schlange stehen für Gipfeli

An unseren Geburtstagen fuhr mein Vater meist schon vor 8 Uhr hin, um Gipfeli zu besorgen. Einmal kam er zu spät. Beck Fritz Scheiwiller soll es dann unheimlich leid getan haben, «hüt nöd diene z‘ chönne». Das machte nicht nur meinem Vater Eindruck. «Der unermüdliche Beck», nannte ihn Sarah Schmalz in einem Porträt im Tagblatt einmal.

Nun ist Fritz Scheiwiller im Alter von 77 Jahren gestorben. Vor 14 Jahren schloss er sein Bäckereigeschäft in St. Fiden. Doch er dachte nicht an den Ruhestand. Von nun stand man direkt bei ihm und seinen Mitarbeiterinnen in der Backstube. Im Ladengeschäft standen im Schaufenster anstatt Brote Orchideen. Bereits sein Grossvater hatte in der gleichen Backstube gearbeitet.

Das Bäcker-Handwerk lernte Enkel Fritz in der Confiserie Sprüngli am Zürcher Paradeplatz. Seit den 70er-Jahren hatte er sein eigenes Geschäft und den Verkauf erledigte bis kurz vor ihrem Tod vor acht Jahren seine Frau. Danach standen die Leute an den Samstagmorgen von der Backstube im Keller des unscheinbaren Gebäudes an der Lindenstrasse 78 bis hinauf zum Parkplatz an. Seine Bürli und Gipfeli waren in der ganzen Stadt bekannt.

Kater-Zmorge zum Sozialtarif

Auch für mich und andere Jugendlichen aus den östlichen Randgebieten der Gallusstadt wurde Scheiwillers Backstube in den Nächten auf Samstag zum gewohnten Halt. Entweder wir hatten den letzten Nachtbus verpasst oder wollten den unsinnigen Zuschlag sparen. Auf dem Velo fuhr es sich betrunken auf den Schleichwegen hinter dem Spital sowieso besser, als auf der Rorschacher Strasse von der Polizei gestoppt zu werden. Den gesparten Nachtzuschlag konnte man dann bei Scheiwiller in einen Kater-Zmorge investieren.

Meist reichlich beduselt stiegen wir jeweils die steile Treppe in die Backstube hinab. Es herrschte eine stille Geschäftigkeit, die wir manchmal andächtig beobachteten. Auch Scheiwillers Erscheinung machte uns Eindruck: den Rücken immer schwer gekrümmt, sein skeptischer Blick von unten. Man stand da manchmal einige Minuten, bevor man bedient wurde. Wenn man sich traute nach frischen Gipfeli zu fragen, erwiderte Scheiwiller jeweils, überrascht, dass das nicht selbstverständlich war: Man solle sich einfach nehmen, was man wolle. Beim Bezahlen mass er einen mit seinem Blick von oben bis unten. Immer rundete er den Preis ab.

So hatte uns seine soziale Preispolitik so manches Gipfeli für den Heimweg ermöglicht, ohne dass am Morgen für die Eltern und Geschwister welche fehlten. Eine Nachbarin, so erzählte mein Vater am Telefon, sei vor ein paar Tagen vor der geschlossenen Backstube von Scheiwiller gestanden. «Für immer geschlossen», soll da auf einem Zettel gestanden haben. Nicht nur für mich hat die Stadt ihren besten Beck verloren.

Die Trauerfeier von Fritz Scheiwiller findet am Donnerstag, 9. März um 10 Uhr in der Kirche St. Fiden, St. Gallen, statt. Die Urnenbeisetzung ist um 11:30 Uhr im Ostfriedhof.

 

 

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