, 15. Mai 2020
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Die Appenzeller Indonesiengänger

Sie hiessen Sonderegger oder Mösli. Und sie suchten ihr Glück in Indonesien. Das Museum Heiden erzählt am Beispiel von Appenzeller Kolonialisten des 19. Jahrhunderts die Vorgeschichte der Globalisierung. Ihr Erforscher, der Historiker Andreas Zangger im Interview von Hanspeter Spörri.

Das Museum Heiden beherbergt eine kleine Sammlung von Waffen, Kleidung, Schmuck und Alltagsgegenständen aus «Niederländisch-Indien» – heute Indonesien. Die Materialien sind über «Entrepreneurs» aus dem Appenzellerland in die Sammlung gekommen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Kaufleute insbesondere auf Java und Sumatra tätig waren – mit unterschiedlichem Glück.

Jetzt sind die Objekte und die Biografien, die dahinter stecken, aufgearbeitet worden. Die Protagonisten: Johann Conrad Sonderegger (1834-1885), Kaufmann und Schweizer Konsul in Batavia; Hermann Küng-Ganno (1842-1871), Tabakpflanzer auf Sumatra («Säntis Estate»), ermordet; Johann Küng-Mösli (1836-1908), übernahm die Plantage «Säntis Estate»; Johann Traugott Zimmermann-Sonderegger (1854-1918), Geschäftsmann und Financier (Plantagen, Goldminen) auf Java.

Ihnen ist die Ausstellung und das Buch «Ferne Welten – Fremde Schätze» gewidmet. Am Museumstag, 17. Mai hätte die Ausstellung eröffnet werden sollen – jetzt erscheint zumindest der Katalog: ein reich illustriertes Buch zur Vorgeschichte der Globalisierung. Andreas Zangger, Mitautor von Buch und Ausstellung, gibt im Gespräch mit Hanspeter Spörri Auskunft.

 

Saiten: Sie werfen mit diesem Buch, das Sie zusammen mit Ralph Harb herausgeben, und der geplanten Ausstellung einen Blick auf ein Kapitel der Schweizer und Appenzeller Geschichte, das bisher wenig beachtet wurde. Wie fanden Sie zu diesem Thema?

Andreas Zangger: Durch Zufall. Auf der Suche nach einem Dissertationsthema stöberte ich vor 15 Jahren an der ETH in Nachlässen von Botanikern herum. Dabei fiel mir auf, dass viele von ihnen nach Indonesien gegangen waren. Da packte mich die Neugier. Und dies war dann wohl doch kein Zufall, denn das Thema lag in der Luft. Mit zunehmender Globalisierung wuchs auch das Interesse an ihrer Vorgeschichte, auch aus Schweizer Perspektive. So nahm ich diesen Faden auf und verfolgte ihn, kam von den Botanikern zu den Plantagenbesitzern auf Sumatra und von diesen zu den ostschweizerischen Textilkaufleuten in Singapur und Batavia, dem heutigen Jakarta. Die Dissertation habe ich abgeschlossen, das Thema hingegen ist mir geblieben. Denn da steckt noch viel drin. Es ist wirklich erstaunlich, wie stark auch ländliche Gebiete wie Appenzell Ausserrhoden, das Toggenburg und das Glarnerland bereits im 19. Jahrhundert in die Weltwirtschaft eingebunden waren.

Stehende Herren, kauernde Untergebene: Starke Hierarchien prägten die Gesellschaft Niederländisch-Indiens.

Sie waren damit auch in den Kolonialismus verwickelt, in die Besitznahme und Ausbeutung fremder Territorien. Das hielt man damals aber wohl für rechtens und moralisch richtig?

Die schweizerische Textilindustrie stand damals in Konkurrenz mit den anderen europäischen Ländern. Die Märkte in Europa waren mehr oder weniger zu. So wich sie nach Übersee aus. Der Zugang zu den fernen Ländern war nur durch den Kolonialismus möglich. Die europäischen Grossmächte garantierten den Schweizern den Marktzugang, und diese nahmen die Offerte dankbar an. Machen wir es nicht, so tut es ein anderer – so der Tenor. Skrupel kommen äusserst selten zum Ausdruck, sowieso nicht in Bezug auf die eigene ökonomische Tätigkeit. Dass dabei die Kaufkraft dieser Länder langsam schwand, dass Menschen als billigste Arbeitskräfte zu grossen Profiten beitrugen, das wird als Begleitsymptom eines ökonomischen Rechts des Stärkeren hingenommen. Hingegen findet man ab und zu eine sanfte Kritik am Kolonialismus im Zusammenhang mit der Unterwerfung von freiheitsliebenden Völkern. So finden sich durchaus sympathisierende Beschreibungen des Freiheitskampfes in Aceh, im Norden Sumatras.

Viele Schweizer stellten sich damals wie heute auf den Standpunkt, dass der Kolonialismus ein Projekt der Grossmächte war und dass die Schweiz nicht beteiligt war.

Damit machen sie es sich aber zu einfach. Kolonialismus war ein europäisches Projekt, das viele Facetten hatte: die militärische Unterwerfung anderer Länder, die Besiedelung, die ökonomische Inbesitznahme, die wissenschaftliche Erforschung fremder Gebiete und ihrer Schätze und die moralische Legitimierung der weissen Vorherrschaft. In allen diesen Aspekten übten Schweizer eine Rolle aus.

Und auch Appenzeller. Im Zentrum des Buches stehen Biografien von Appenzeller «Indonesien-Gängern», über die Sie erstaunlich viel herausgefunden haben. Was waren Ihre Quellen?

Ganz verschiedene. Gewisse Ferngereiste, wie etwa Otto Alder aus Speicher, aufgewachsen im toggenburgischen Hemberg und für einige Jahre in Singapur tätig, oder der Thurgauer Arzt und Globetrotter Elias Haffter haben ihre Erinnerungen nach der Rückkehr sehr anschaulich aufgeschrieben. Alder tut dies allerdings aus grosser zeitlicher Distanz. Erinnerung ist trügerisch: Sie verleiht den Dingen nachträglich einen Sinn und ist gewissermassen eine kreative Kraft.

Das Buch: Ferne Welten – fremde Schätze, hrsg von Andreas Zangger und Ralph Harb, Edition Clandestin Biel 2020, Fr. 42.-

Die Ausstellung ist ab 19. Juni geöffnet.

museum-heiden.ch

Dann gibt es nüchterne Quellen wie Almanache, wo die Handelshäuser und ihre Angestellten vermeldet sind. So lassen sich Karrieren verfolgen. Hilfreich sind digitalisierte Zeitungen in der Schweiz, in Singapur und in den Niederlanden (für Indonesien). Mit der Volltextsuche stösst man schnell auf Unvermutetes. Früher hätte dies Wochen in Anspruch genommen. Bei speziellen Namen kann man die ganze Reisetätigkeit verfolgen, denn die Zeitungen vermelden Ankünfte und Abreisen.

Persönlich arbeite ich am liebsten mit Briefen. Es ist zwar sehr aufwändig, die teilweise schwierig zu lesenden Schriften zu entziffern. Aber dafür ergibt sich darin ein wenig gekämmtes Bild des Alltags und der Probleme. Natürlich wird auch in Briefen idealisiert, werden Ängste überspielt, um die Angehörigen nicht zu beunruhigen, und ein beschönigtes Bild des Lebens in den Tropen gezeigt. Doch lässt sich bei genaueren Kenntnissen vieles zwischen den Zeilen herauslesen.

Arbeiter in einer Goldmine auf Java.

Was für Leute waren diese Indonesienfahrer?

Traugott Zimmermann etwa: ein notorischer Schönredner, der seine Goldminengesellschaften stets in besserem Licht dargestellt hat, als es redlich war. Damit hat er viele Anleger gegen sich aufgebracht. Dann Johannes Küng: ein Eigenbrötler, der im einsamen Sumatra kaum dazu zu bewegen war, an eine der seltenen Soiréen zu gehen – sehr zum Leidwesen seiner Ehefrau. Oder sein Bruder Hermann Küng, der sich in Singapur in eine lokale Schönheit verliebte, sie heiratete und darauf die Stadt verlassen musste, da solche Mischehen gesellschaftlich geächtet waren. Solche Geschichten bringen einen die Personen näher, und man fragt sich, wie man selbst gehandelt hätte.

Briefe von Textilkaufleuten gesucht

Die Ostschweizer Textilindustrie hatte bereits im 19. Jahrhundert Netzwerke über den ganzen Globus. Viele junge Kaufleute sind im Dienst der Industrie in die Welt gezogen. Für ein Forschungsprojekt zu den Exportnetzwerken der Ostschweizer Textilindustrie werden Briefe solcher Kaufleute und ihrer Familien gesucht. Kontakt für Personen, die über solche Briefe oder andere Erinnerungen verfügen und bereit sind, dem Forschungsprojekt Kopien zu überlassen: zangger@ogre.ch.

Doch die Unterschiede überwiegen. Insbesondere fällt mir das bei den Geschlechterrollen auf. Die Männer wirken gefangen im engen Korsett ihres Rollenverständnisses, peinlich darauf bedacht, keine Schwächen zu zeigen. Ähnliches gilt für den Rassismus. Nicht dass dieser verschwunden wäre: Der koloniale Rassismus ist ein unheilvolles Erbe, das sich in Europa bis heute täglich manifestiert. Trotzdem fallen im Vergleich mit der damaligen Zeit die grossen Schritte auf, welche bereits getan wurden. Diese Schritte mussten sich die farbigen Menschen allerdings hart erkämpfen.

Die ethnografische Sammlung des Museums Heiden wurde bisher eher als Kuriosität betrachtet. Nun gewinnt sie durch Ihr Buch eine neue Bedeutung, dokumentiert einen ambivalenten Teil der Appenzeller Wirtschaftsgeschichte. Wie soll man mit diesen Gegenständen künftig umgehen?

Da ich in Amsterdam wohne und zurzeit nicht reisen kann, hatte ich noch keine Gelegenheit, die Ausstellung zu betrachten. Die Fotos zeigen aber, dass es sich um ein «Museum im Museum» handelt, das heisst man hat die ursprüngliche Darstellungsweise aus den 1950er-Jahren belassen. Das ist wertvoll, denn es stellt sich bei diesen Exponaten die Frage, was sie uns hier und jetzt sagen. Probiert man die Objekte aus dem Kontext herauszulösen und gewissermassen selber sprechen zu lassen, wie dies das Museum Rietberg in Zürich tut? Oder probiert man den Kontext einzubeziehen? Thematisiert man dann den Entstehungskontext und erklärt, woher ein Objekt kommt, was seine Funktion ist, etc.? Oder stellt man den Überlieferungskontext dar und zeigt auf, wie ein Exponat ins Museum gekommen ist und allenfalls, was es im Museum zeigen soll(te). Im Falle der Heidener Objekte scheint es mir sinnvoll, diesen Überlieferungskontext anzusprechen, wie das bereits getan wird. Mit der Sonderausstellung kann die Rolle der Stifter nun weiter vertieft werden. Damit betont man weniger die Distanz zu fremden Ethnien, sondern die historischen Verbindungen mit den fernen Welten.

Aus dem Bedürfnis, das «Obligatorische» auch im Ausland zu schiessen, wurde der Schweizer Verein in Deli-Medan gegründet.

Sind die Objekte Raubgut?

Die Provenienz ist von Stück zu Stück unterschiedlich zu beurteilen. Unproblematisch sind die Modellkästen, denn diese wurden für ein westliches Publikum extra hergestellt, um etwas über eine Kultur zu vermitteln. Problematischer können hingegen die Säbel und Schilder sein. Oft handelt es sich um Beutestücke von militärischen Expeditionen, welche Offiziere oder Soldaten in Batavia auf den Markt gebracht hatten. Die genaue Herkunft und die Umstände des Erwerbs zu eruieren, dürfte sich nicht immer einfach gestalten. Doch unmöglich ist es nicht, und entsprechende Bemühungen würden die Möglichkeit bieten, die historischen Verbindungen mit der Region zu aktualisieren.

Wer sich mit Geschichte befasst, fragt oft danach, was wir für die Gegenwart lernen können. Welches Fazit ziehen Sie aus der Geschichte der Appenzeller «Indonesien-Gänger»?

In meiner historischen Arbeit versuche ich meinen Leserinnen und Lesern mitzugeben, dass die moderne globalisierte Welt nicht erst in den letzten 30 Jahren entstanden ist, sondern dass sie eine lange Vorgeschichte hat. Die Schweiz hat schon seit Langem Verbindungen über die ganze Welt, und diese haben zum Wohlstand des Landes beigetragen. Die Schweiz ist nicht einfach reich geworden, weil die Menschen hier viel arbeiten, sondern weil sie sich in einer sich vernetzenden Welt gut positionieren konnte. Dieser Prozess hat im Zeitalter des Kolonialismus, das die Welt tiefgreifend verändert hat, begonnen.

Viele Probleme der Gegenwart sind globaler Natur, die Erderwärmung, die Migration, auch Corona in seinen gesundheitlichen und wirtschaftlichen Aspekten. Wenn wir mit diesen Problemen intelligent umgehen wollen, müssen wir lernen, weniger in partikularen Lösungen zu denken – also wie unser Land dabei am besten wegkommt –, sondern mehr in globalen Lösungen.

Andreas Zangger, 1967, ist im Aargau und Zürich aufgewachsen und hat in Zürich Geschichte und Philosophie studiert. Nach einer redaktionellen Tätigkeit bei der NZZ hat er sich wieder der Forschung zugewendet. Seine Dissertation Koloniale Schweiz – ein Stück Globalgeschichte zwischen Europa und Südostasien erschien 2011. Heute wohnt er mit seiner Frau und Tochter in Amsterdam und arbeitet als freischaffender Historiker.

Dieser Beitrag erschien im Maiheft von Saiten.

 

 

 

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