Die ganze Klangwelt im Klanghaus
«Es ist ein Pionierwerk und in dieser Art weltweit einmalig.» Christian Zehnder, künstlerischer Leiter der Klangwelt Toggenburg, schwärmt vorfreudig vom Potenzial des Klanghauses Toggenburg, obwohl das Gebäude noch gar nicht vollendet ist. Das Klanghaus, oder derzeit vielmehr die Baustelle, idyllisch zwischen Säntis und Chäserrugg am Ufer des Schwendisees gelegen, ist bei seiner Fertigstellung in rund einem Jahr auf mehreren Ebenen ein architektonisches und akustisches Juwel.
Bereits jetzt ist das unfertige Bauwerk ziemlich eindrucksvoll, aussen genauso wie innen. Auffallend an der Baustelle sind die fehlenden Betonmischer und Ziegelsteine, die gewöhnlich für den Häuserbau verwendet werden. Die braucht es auch nicht, denn was hier entsteht, ist der weltweit erste Vollholz-Proben-, Konzert- und Aufnahmeraum. Die Hülle, das Kleid des Gebäudes, besteht aus rund 480’000 Holzschindeln, eine für das Toggenburg typische Fassade.
Ein Pionierwerk der Akustik
Beeindruckend ist es auch im Innern. Das «Herzstück», wie es Mirjam Hadorn, Geschäftsführerin der Klangwelt Toggenburg, beim Rundgang nennt, ist ein acht mal acht Meter grosser und sieben Meter hoher Raum. In dessen Decke sind Tageslicht-Schächte eingelassen, die den künftig hier spielenden Musiker:innen Helligkeit spenden. Die grossen Fenster sind eine Metapher der Gleichzeitigkeit und Verbundenheit, sowohl zwischen dem Aussen, der Natur, und dem Innern, den Künstler:innen und dem Publikum. «Das Gefühl von Gemeinschaft und des gemeinsamen Erlebens ist eine zentrale architektonische Idee», sagt Hadorn.
Im Mittelpunkt der Architektur steht natürlich die Akustik. Decken und Wände sind verschachtelt, verwinkelt und vielschichtig gestaltet, kein Vergleich mit einer quadratischen, gleichförmigen Zweizimmer-Wohnung. Die Unebenheiten haben absichtliche Auswirkungen auf den Klang. «Es ist eine komplexe plastisch-geometrische Komposition des Raumes, die den Klang formt und ihn ausformuliert. Je mehr der Klang im Raum diversifiziert ist, desto mehr werden auch die mannigfaltigen Klangfarben weitergetragen», erklärt der Musiker und Komponist Christian Zehnder.
Ein Novum in der jahrhundertealten globalen Geschichte ähnlicher akustischer Räume ist der in einer Seitennische geplante «Hallraum», in dem durch das Schliessen oder Öffnen riesiger Türen ein natürlicher Hall erzeugt werden kann, ganz ohne Effektgerät. Das erinnert stark an die Akustik von Kirchen und Kathedralen. Unmittelbar neben dem «Herzstück» entsteht ein weiterer, etwas kleinerer Raum. Die Idee ist es, Musiker:innen künftig synchron in beiden Räumen spielen zu lassen; in einem Raum beispielsweise ein Blas-, im anderen parallel dazu ein Streichorchester.
Das Haus als gigantisches Instrument
Die gesamte Innenarchitektur ist vergleichbar mit einem riesigen Instrument, das durch die unregelmässige Struktur sowie durch in die Wände eingelassene Klangspiegel individuell auf die Bedürfnisse der Künstler:innen oder Orchester eingestellt werden kann. Vorbild für das Toggenburg ist eine Konzerthalle in Isfahan im Iran. Dort bestehen die Wände aus überdimensional grossen persischen Instrumenten wie Tar oder Setar, deren Hohlräume die Klänge des Orchesters reflektieren und vibrieren lassen. Um den Bezug zur Region Toggenburg zu verdeutlichen, haben sich die Klangwelt-Macher:innen und die am Bau beteiligten Architekt:innen jedoch für die opulente Ornamentik des Schalllochs des einheimischen Hackbretts entschieden und ermöglichen damit eine ganz eigene Klangvielfalt.
Neben individuellen akustischen Bedingungen soll dereinst jeder Raum auch über ein eigenes, ganz spezifisches technisches Setup verfügen. Ein klassisches Tonstudio samt Mischpult mit tausenden Knöpfen und Reglern soll es jedoch nicht geben, die einzelnen Räume werden lediglich via Steckboxen miteinander verkabelt und verbunden. «Die Technik ändert sich heute so rasch, da wäre ein fix installiertes Studio-Equipment rasch veraltet», erklärt Stimmkünstler Zehnder. «Ausserdem arbeiten Künstler:innen bei Produktionen heute praktisch alle mit ihrem eigenen Setup.»
Die Geschichte des Klanghauses erstreckt sich über 20 Jahre, von der Idee bis zu seiner Eröffnung im Frühling 2025. Die treibende Kraft dahinter, der Musiker, Komponist und Klangwelt-Initiator Peter Roth, hatte die Vision, das alte Naturfreunde-Haus am Schwendisee in ein zeitgemässes Klanghaus zu verwandeln. Nachdem ein erstes Betriebs- und Architekturkonzept an der Urne gescheitert war, hatte die Stimmbevölkerung 2019 dem Vorhaben zum Bau des 23-Millionen-Projekts im zweiten Anlauf zugestimmt. Der Kanton St.Gallen ist denn auch Besitzer und Bauherr, Astrid Staufer von Staufer & Hasler Architekten in Frauenfeld führt den Bau aus, der Verein Klangwelt Toggenburg ist künftiger Betreiber und Programmmacher.
Eine Institution auf dem Weg in die Zukunft
Programmlich und inhaltlich soll das Klanghaus auf drei verschiedenen Ebenen mit Leben beziehungsweise Klängen gefüllt werden. Einerseits gibt es ab Ende 2025 ein fortlaufendes kuratiertes Programm: Konzerte, Performances, Workshops, Symposien, Seminare oder Vorträge. Weiter sind Residencies geplant, die Künstler:innen aus dem In- und Ausland die Möglichkeit bieten, einige Zeit in der Region zu leben und zu arbeiten. Das dritte Standbein ist die klassische Vermietung der Räumlichkeiten an Musikschaffende, Private oder auch Firmen, die sich beispielsweise mit ihren Mitarbeitenden im Rahmen einer Retraite den Themen Klang und Musik nähern möchten. «Bei uns können sich alle verwirklichen, die einzige Bedingung: Es muss mit Musik und Klang zu tun haben», sagt Managerin Hadorn.
Symbolisch steht das Klanghaus aber vor allem für einen Neuanfang, eine Transformation in die Zukunft der Stiftung Klangwelt Toggenburg. Seit dem ersten Klangfestival «Naturstimmen 2004» hat sich die Welt weitergedreht, während viele Konzepte aus der damaligen Zeit unverändert geblieben sind. Beim Alten verhaftet bleiben möchte die relativ neu zusammengesetzte Crew nicht. Während Christian Zehnder seit Herbst 2018 an Bord ist, ist Mirjam Hadorn erst seit diesem Sommer CEO, und im November soll Edi Hartmann, bisher beim kantonalen Amt für Kultur, dazustossen. Im Dezember übernimmt ausserdem Kathrin Dörig die Projektleitung beim Klangweg.
Eine der Herausforderungen für das Klangwelt-Team ist es, die Wurzeln der seit mittlerweile zwei Jahrzehnten gepflegten Toggenburger Kultur und Tradition zu bewahren, gleichzeitig aber auch Innovation und Experimente zu ermöglichen. Der Brückenschlag zwischen der traditionellen Heimatkultur und neuen, experimentellen und urbanen Musikformen wird eine essenzielle und transformative Herausforderung der kommenden Monate.
Eine weitere Herausforderung ist die Überalterung des Publikums. «Anfangs war das Klangfestival ein Geheimtipp, aber im Laufe der Zeit verlor es an Schwung, da wir am gleichen Konzept festhielten und ein treues Stammpublikum hatten, das mit dem Festival gealtert ist», ist sich Zehnder bewusst. Während der Pandemie fand deshalb eine erste Kooperation mit dem Rathaus für Kultur und der Residenz DOGO in Lichtensteig statt, um ein neues und jüngeres Publikum anzusprechen, das auch an elektronischer Musik interessiert ist. Gerade jüngere Menschen seien experimentierfreudiger und würden nicht mehr starr in Genre-Grenzen denken, sagt Zehnder.
Klangkunst und Wahrnehmung: Ein Pfad zur Bewusstseinsarbeit
Die Klangwelt Toggenburg möchte in ihrer neuen Homebase ab 2025 neben traditionellen Konzerten auch internationale Klangkunst, Bewusstseinsarbeit und Bildung fördern. Ein erstes Projekt in diese Richtung startet bereits im Frühling 2024. Anstatt des bisher biennal stattfindenden Klangfestivals – seit Jahren ein kultureller Höhepunkt in der Ostschweiz – feiert die Klangwelt Toggenburg im kommenden Jahr ein Update und Re-Design des Klangwegs.
Der seit 20 Jahren beliebte Klangweg wird durch neue Installationen ergänzt, die das Erleben und Erfahren von Klang-, Klima- und Ökologiethemen als Schwerpunkt haben. Eröffnet wird der «Klangweg 2.0» an Pfingsten 2024 mit zwei Konzertabenden und einer Uraufführung des Musikers und Komponisten Paul Giger, einem weiteren Projekt mit bekannten Musiker:innen aus der Region sowie mit zwei Konzerten aus ferneren Kulturen.