, 26. November 2015
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«Die Immigranten sind das letzte Glied in der Kette»

Zur Verleihung des Paul-Grüninger-Preises 2015 an die Landarbeitergewerkschaft SOC: Ein Gespräch von Erich Hackl mit der andalusischen Tagelöhnerin und Gewerkschaftsaktivistin Maricarmen García.

Landarbeiter aus Marokko vor seiner Küche, die sich sechs Personen teilen, Campohermoso, 2007. (Bild: Christophe Chammartin)

Halb Europa ernährt sich im Winter mit Esswaren aus Andalusien. Die südlichste, wärmeverwöhnte Ecke des Kontinents ist ein gigantisches Treibhaus: Unter Gewächshäusern mit einer Fläche von 32’000 Hektaren (darin hätte zweimal das ganze Fürstentum Liechtenstein Platz) wachsen etwa 3 Millionen Tonnen Früchte und Gemüse pro Jahr. Ausgebeutet wird dadurch der Boden, ausgebeutet werden aber auch die Landarbeiter und Landarbeiterinnen. Jetzt zeichnet die St.Galler Paul Grüninger Stiftung die andalusische Landarbeitergewerkschaft (SOC) mit dem diesjährigen Hauptpreis aus: für ihre Verdienste im Kampf um die Rechte der Tagelöhner, insbesondere der illegalen Immigranten auf den Obst-und Gemüseplantagen der Provinz Almería.

An der Preisfeier am 27. November in St.Gallen nehmen zwei langjährige Aktivisten der SOC teil: Diego Cañamero und Maricarmen García. Beide stammen aus der Ortschaft El Coronil, rund 50 Kilometer südöstlich von Sevilla, haben schon als Kinder auf den Feldern der Grossgrundbesitzer gearbeitet und sind durch spektakuläre Aktionen wie Besetzungen brachliegender Ländereien, Erstürmungen von Supermärkten und Massendemonstrationen arbeitsloser Tagelöhnerinnen weit über ihre Herkunftsregion bekannt geworden. Maricarmen García ist seit März dieses Jahres überdies Abgeordnete von Podemos im andalusischen Autonomieparlament. Erich Hackl hat mit ihr in Sevilla gesprochen:

Maricarmen, Sie waren bei der Gründung der Landarbeitergewerkschaft 1976 erst 14 Jahre alt und trotzdem fast von Anfang an dabei. Woher kommt dieses frühe Engagement?

Daher, dass die Leute bei uns von klein auf auf den Feldern arbeiten mussten. Ich erinnere mich an viele Familien, die samt den Grosseltern und den Kindern zur Baumwollernte in ein anderes Dorf gefahren sind. Schon die Zehn, Zwölfjährigen haben mitgeholfen. Auch beim Auslichten der Sonnenblumen, das man früher gemacht hat, heute nicht mehr, weil sich die Anbaumethode geändert hat. Zur Erntezeit waren höchstens 40 Prozent der Kinder in der Schule, die anderen halfen auf den Feldern. Ich habe also früh zu arbeiten begonnen und entsprechend früh mich auch gewerkschaftlich engagiert. Allerdings haben meine Eltern das nicht gern gesehen. In ihnen steckte noch die Angst aus der Zeit der Franco-Diktatur, ausserdem war es weiterhin gefährlich, an Demonstrationen teilzunehmen. Deshalb mussten Mädchen wie ich einen doppelten Kampf führen, einmal um ihre sozialen Rechte, das zweite Mal bei sich zu Hause, um sich gegen den eigenen Vater durchzusetzen. Dabei war meiner immerhin in der Gewerkschaft.

In der SOC?

In der SOC! Aber er wollte nicht, dass sich auch seine Töchter gewerkschaftlich exponieren. Übrigens waren es vor allem junge Leute, die Ende der 70er-, Anfang der 80er-Jahre der SOC beigetreten sind. Die Älteren hatten Angst.

Wenn man sich das Programm der SOC ansieht, fällt auf, dass es über die Gewerkschaftsarbeit hinaus auf die Überwindung kapitalistischer Strukturen zielt. In einer Zeit gesellschaftlichen Rückschritts verzichten Sie offenbar nicht darauf, politische Utopien zu verfolgen.

Das stimmt. Schon vor den ersten demokratischen Wahlen 1977 haben wir die Notwendigkeit erkannt, ein Instrument zu schaffen, das es uns erlaubt, an den Wahlen teilzunehmen, damit sich in unseren Dörfern nicht nur die Arbeitsbedingungen der Tagelöhner und Tagelöhnerinnen verbessern. Es ging uns auch um das Recht auf menschenwürdiges Wohnen, auf ein öffentliches Schulwesen für alle Kinder, auf öffentliche Gesundheitsversorgung. Als Ergebnis dieser Überlegungen entstand eine Partei, die Einheitskandidatur der Arbeiter (CUT), die nur für die Leute auf dem Land gedacht war. Sie war sozusagen der politische Arm unserer Gewerkschaft.

Die Leitlinien der SOC haben ja nicht nur eine unmittelbar politische Dimension. Sie betrachtet Andalusien als eine eigene Nation innerhalb des spanischen Staates, unterhält enge Beziehungen zur baskischen Linken, tritt für eine nachhaltige Landwirtschaft ein und gehört, wie auch die Schweizer Uniterre, der Via Campesina an, einer internationalen Bewegung von Kleinbauern und Landarbeiterinnen.

In der Tat ist die Initiative zur Förderung einer ökologischen Bewirtschaftung in Andalusien von der SOC ausgegangen. Die Kooperative La Verde in Villamartín zum Beispiel wurde von Mitgliedern der SOC gegründet. Sie vertreibt ihre Produkte direkt an die Endverbraucher und hält sich an das Konzept der Ernährungssouveränität und das Recht auf gemeinsame Ressourcen, das in der SOC schon vor 30 Jahren diskutiert worden ist. In unseren Forderungen standen wir schon damals vielen Gewerkschaften in Lateinamerika näher als denen hierzulande. Das auch deshalb, weil die Strukturen in Andalusien an solche in der sogenannten Dritten Welt erinnern: Zwei Prozent der Eigentümer besitzen 50 Prozent des nutzbaren Bodens. Es gibt eine rasante Landflucht. Und in manchen Ortschaften beträgt die Arbeitslosigkeit 44 Prozent.

Sind die Interessen der Kooperativen – auch derer, die eine nachhaltige Landwirtschaft betreiben – mit den Forderungen der Landarbeiter vereinbar?

Nicht immer. Wir haben den Fall der COAG, der Koordinationsstelle andalusischer Landwirte und Viehzüchter, die auch Mitglied der Via Campesina ist. Ihr gehören ehemalige Aktivisten der SOC an, die nach der Aufteilung von Land Kleinbauern wurden und als solche, um wettbewerbsfähig zu bleiben, die Mechanisierung und intensive Bewirtschaftung des Bodens befürworteten. Dadurch aber hat sich die an sich schon prekäre Lage der Landarbeiter verschärft. Nehmen wir das Beispiel Lebrija, wo Baumwolle angebaut wird, die immer viel Handarbeit erfordert hat: Bei der Ernte konnten viele Familien zwei oder drei Monate lang Beschäftigung finden. Aber durch die Mechanisierung ist ihnen diese Möglichkeit genommen worden. Deshalb haben wir dagegen gekämpft, schon in den Jahren 1983 und 1984, denn Fortschritt allein macht nicht satt. Der Tagelöhner, die Tagelöhnerin ist das schwächste Glied in der Produktionskette, und deshalb verteidigen wir es, auch wenn es dadurch zu Konflikten mit Kooperativen oder grossen Agrarunternehmen kommt. In Almería und Huelva zum Beispiel, wo intensive Bodennutzung stattfindet, brauchen die Agroproduzenten Arbeitskräfte, die leicht auszubeuten sind, und da kommen ihnen schutzlose Immigranten und Immigrantinnen aus Afrika oder Osteuropa gerade recht. Wenn wir das aufzeigen und bekämpfen, begreifen nicht einmal die kleinen Landwirte, dass wir unter Ernährungssouveränität ein Modell verstehen, das mit dem in Almería praktizierten unvereinbar ist, weil dieses die Biodiversität zerstört und nicht umweltverträglich ist. Wir kämpfen also an zwei Fronten gleichzeitig, an der sozialen und an der ökologischen.

Am Beispiel der Obst- und Gemüseplantagen in Almería und Huelva zeigt sich, dass die SOC unterschiedslos die Interessen der ausländischen wie der heimischen Arbeiter vertritt. Führt das nicht zu Konflikten mit denjenigen, die der Meinung sind, dass Immigranten den Lohn drücken oder ihnen überhaupt Arbeitsplätze wegnehmen?

Natürlich kommt das vor. Viele Tagelöhner sehen in ihnen Konkurrenten, weil Immigranten für viel weniger Lohn arbeiten als wir. Aber das ist nicht das Problem. Das Problem ist, wie ich schon gesagt habe, dass man immer dem Schwächsten in der Kette, dem letzten Glied die Schuld an der eigenen Misere gibt. Aber es geht nicht an, dass man von den Schwächsten verlangt, sie sollen gefälligst um ihre Rechte kämpfen, wenn man selber nicht um die seinen kämpft. Deshalb geht es uns darum, die Rechte aller zu respektieren. Das bedeutet auch, gegen die Zeitarbeitsfirmen zu kämpfen, eine wahre Mafia, die die Massenarbeitslosigkeit und den Hunger der Leute benutzt, um die Löhne zu drücken. Denn während ich sonst für sechseinhalb Stunden Arbeit pro Tag 47 Euro verdiene, zwingen mich diese Firmen, dieselbe Arbeit für 25 Euro zu machen. «Wenn du das akzeptierst, ist es okay, und wenn nicht, da ist die Tür!»

Sind das private oder öffentliche Unternehmen?

Private. Aber indirekt nehmen sie auch öffentliche Gelder in Anspruch. Denn diese Zeitarbeitsfirmen besitzen selber keine Felder. Sie kaufen die Orangen oder Oliven schon vor der Ernte den Grundbesitzern ab, die ihrerseits zum Grossteil subventioniert werden. Weil die Tagelöhner aber nicht von ihnen, sondern von Zeitarbeitsfirmen angestellt werden, verstossen sie offiziell nicht gegen die gesetzlichen Lohnvereinbarungen. Deshalb fordern wir, dass die Agrarunternehmen, die Grossgrundbesitzer für das haften, was auf ihrem Boden passiert. Wird dabei geltendes Recht verletzt, sollen ihnen automatisch die Beihilfen der andalusischen Autonomieregierung entzogen werden. Dann wäre garantiert, dass die Unternehmer die Rechte aller Arbeiter und Arbeiterinnen respektieren.

Preisfeier: 27. November 19.30 Uhr, Hofkeller St.Gallen, mit einer Rede von Ruth Dreifuss.

Das Problem bei der Durchsetzung unserer Forderungen ist die verzweifelte Lage der Tagelöhner: Zum einen müssen sie mindestens 35 Tage arbeiten, um Anspruch auf das Arbeitslosengeld von 420 Euro monatlich zu haben, das ein halbes Jahr lang gewährt wird. Ausserdem kommen sie nur unter dieser Voraussetzung in den Genuss der Sozialversicherung. Sonst hätten sie im Krankheitsfall keine ärztliche Betreuung und würden auch keinen Anspruch auf eine Alterspension haben. Und weil die Zeitarbeitsfirmen wissen, dass die Arbeiter auf diese 35 Tage Erwerbstätigkeit angewiesen sind, zwingen sie ihnen den niedrigen Lohn auf. Und den Immigranten, die keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld haben, versprechen sie wiederum, dass sie ihnen reguläre Arbeitspapiere besorgen, oder sie nehmen gleich die ganze Familie unter Vertrag. Das bringt einer vierköpfigen Familie hundert Euro am Tag, womit der ärgste Hunger gestillt werden kann. Solche Sachen passieren eben, wenn es einen Überschuss an Arbeitskräften gibt und so viele Mafiosi zur Stelle sind, um auf Kosten der Ärmsten Geld zu verdienen. Deshalb sind wir in den Dörfern aktiv, halten Versammlungen ab, informieren die Leute, damit es nicht zu Rassismus und Fremdenhass kommt. Die Immigranten sind das letzte Glied in der Kette, noch hinter den einheimischen Tagelöhnern und Tagelöhnerinnen.

Es fällt auf, dass immer mehr Aktivisten der SOC selber Immigranten sind.

Ja, und es ist gut, dass die Leute sie auch als solche wahrnehmen, als Mitglieder und Vertreter unserer Gewerkschaft, die für die Rechte aller Arbeiter und Arbeiterinnen kämpfen.

Die SOC hat sich vor einiger Zeit den Namenszusatz Andalusische Arbeitergewerkschaft (SAT) gegeben. Heisst das, dass sie auch in den Städten an Einfluss gewonnen hat?

In einigen Städten wie Sevilla schon. Früher haben wir uns auf den prekärsten Sektor konzentriert, und das waren die Tagelöhner und die Dienstboten. Aber wenn du heute von Tagelöhnern sprichst, kannst du nicht nur die auf dem Land meinen. Es gibt mittlerweile Tagelohnarbeit an der Universität, in den Fabriken, im Dienstleistungsbereich, in der metallverarbeitenden Industrie. Hier in Sevilla sind wir an der Universität und im Gastgewerbe stark vertreten. Anderswo fällt es uns noch schwer, Fuss zu fassen. In Almería zum Beispiel identifizieren uns viele immer noch mit der Agitation auf dem Land, mit der Arbeit zum Schutz der Immigranten. Du darfst nicht vergessen, dass Andalusien in sich sehr unterschiedlich ist und jede Provinz ihr eigenes Gepräge hat. Was auf Sevilla zutrifft, muss nicht für Almería gelten.

Sie politisieren in der neuen Linkspartei Podemos. Dort gibt es wachsende Kritik am gemässigten Mehrheitskurs.

Zum jetzigen Zeitpunkt identifizieren sich die Leute, auf die es uns ankommt, viel stärker mit Podemos als mit jeder anderen politischen Organisation. Und obwohl wir in vielem nicht einverstanden sind, glauben wir, dass man darüber debattieren und versuchen muss, die Dinge zu ändern. Ich bin, was Andalusien betrifft, durchaus zuversichtlich.

 

Die Paul Grüninger Stiftung zeichnet seit 2001 periodisch Personen oder Organisationen «für besondere Menschlichkeit und besonderen Mut» im Sinne ihres Namensgebers aus. Der Preis wird zur Erinnerung an den St.Galler Polizeikommandanten Paul Grüninger (1891-1972) verliehen, der 1938/39 mehreren hundert Flüchtlingen trotz Grenzsperre den Übertritt in die Schweiz ermöglicht hat und deshalb 1939 vom Regierungsrat fristlos entlassen worden ist.

Der Paul Grüninger Preis wird ausgeschrieben, man kann sich mit einem Dossier oder Brief formlos bewerben oder jemanden vorschlagen. Die Stiftung recherchiert dann und prüft die Bewerbung. Sie ist andererseits auch frei, selber mögliche Preisträger zu nominieren. 2015 geht der Hauptpreis von 50’000 Franken an die andalusische Landarbeiter-Gewerkschaft SOC-SAT. Je einen Preis von 10’000 Franken erhalten das Refugee Protest Camp Wien und die Autonome Schule Zürich.

 

Erich Hackl, 1954, ist Schriftsteller in Wien und Madrid. Zuletzt erschienen von ihm bei Diogenes Dieses Buch gehört meiner Mutter und Drei tränenlose Geschichten. Hackl gehört dem Stiftungsrat der Paul Grüninger Stiftung an.

Dieser Text erscheint in der Dezember-Ausgabe von Saiten.

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