, 15. Januar 2020
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Die Lesben-Studie

«Rendez-vous mit Nagelclipper: Lesbische Tinderdates, eine nicht-repräsentative Studie» oder warum man Menschen nicht als Experimente behandeln soll. von Anna Rosenwasser

Immer mal wieder erzählen mir Lesben, dass sie genervt sind von Frauen auf Tinder, die einfach mal mit einer Frau experimentieren wollen. Lesben sind kein Experiment. Ein Experiment ist etwas, das man ausprobiert. Am Ende der Chemielektion räumt man sämtliche Zutaten zu einem Experiment wieder weg, damit die nächste Schulklasse reinkommen und spannende Sachen ausprobieren kann.

Das Thema über Frauen, die gern mal Dates mit Frauen ausprobieren möchten, macht mich etwas nervös. Denn es ist schwierig, festzulegen, auf wen man wütend werden sollte. Auf die experimentierfreudigen Frauen, finden viele – aber ich vermute, das ist Blödsinn.

Anna Rosenwasser, 1990 geboren und in Schaffhausen aufgewachsen, wohnt in Zürich. Sie arbeitet als Geschäftsführerin für die Lesbenorganisation Schweiz (LOS) und als freischaffende Journalistin. (Illustration: Lukas Schneeberger)

Und trotzdem: Lesben machen wirklich oft diese unangenehme Erfahrung. Dass sie auf der Suche sind nach einer Beziehung oder anderen Formen der Nähe, sie eine interessante Frau kennenlernen und dann rauskommt, dass diese Frau es einfach mal mit einer Frau ausprobieren will. Es kann sein, dass dieses Ausprobieren gut läuft. Aber experimentieren, das kann auch immer heissen: Vielleicht merkt sie dann nach einem Abend, einem Wochenende, einem Monat, dass das mit der Homosexualität doch nichts für sie ist.

Nicht gerade eine stabile Lage. Und potentiell degradierend für die Person, die sie datet: Es kam noch nie gut raus, wenn man Menschen als Experimente behandelt hat. Wenn jemand an dir was ausprobiert, in diesem Fall das eigene Gay-Sein, was ist dann das Ergebnis? Die Verifizierung einer These? «Rendez-vous mit Nagelclipper: Lesbische Tinderdates, eine nicht-repräsentative Studie.» (Falls du das mit dem Nagelclipper nicht verstehst: Frag deine Lieblingslesbe freundlich, ob sie dir das erklären kann.)

Aber dann denke ich an jene Frauen, die das Frauen-Daten ausprobieren wollen. Die meisten von ihnen haben nicht vor, ihre Dates abzuwerten oder respektlos zu behandeln. Ein Experiment, das heisst immer: Wir überschreiten eine Grenze, die wir vorher noch nicht überschreiten konnten. Oder durften.

Wir Frauen wachsen auf mit der Erwartung, dass unser Glück an der Seite eines Mannes endet. (Endet!) Diese Erwartung wird uns fest eingepflanzt, und es kann viele Jahre dauern, bis wir checken, dass diese Norm nur eine von vielen Möglichkeiten ist. Als Frau auf Frauen zu stehen, wird uns nicht verboten, aber doch als sehr, sehr abwegig dargestellt. Darum ist es für die meisten eine Grenzüberschreitung, doch mal eine Frau zum Rendez-vous zu treffen. Ein bewusster Schritt, der gegen alle Erwartungen geht.

Und genau das sind, etwas breiter gefasst, Experimente. Ich empfehle niemandem, dieses Wort für Menschen und sexuelle Interaktionen zu verwenden – aber genau genommen ist «Experiment» nicht der dümmste Ausdruck für eine ungewöhnliche Aktion. Ich meine, einige der besten Errungenschaften dieser Welt konnten deshalb passieren, weil man experimentierte. Ausprobiert hatte. Den Schritt über die Grenze wagte. Drum find ich: Ja zum Experimentieren. Und der Vorteil am Daten: Wir befinden uns nicht in einem sterilen Chemielabor.

Dieser Beitrag erschien im Januarheft von Saiten.

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