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Die Logik der Zahl
1:12 polarisiert – und mobilisiert. Im St.Galler Pfalzkeller debattierte eine prominente Runde.
Die 1:12-Initiative ist ein seltsames Zwischending, ein Wechselbalg und ein spannungsgeladener Sprengsatz. Das Kleinliche und Neidvolle klebt an ihr wie auch die Gymnasiasten-Illusion, dass doch in der Welt zuweilen alles ganz einfach und sauber geregelt werden könnte. Aber sie atmet auch den grossen Geist letzter und quasi göttlicher Gerechtigkeit, und sie ist durchdrungen von der marxistischen Einsicht, dass es in der Politik nie ums richtige Wesen, sondern immer ums richtige Verhältnis geht – bei den Geschlechtern, bei den Strafen und auch bei den Löhnen.
Die Wahl der Verhältniszahl 1:12 ist denn auch zugleich kleinlich und grosszügig, pervers und gerecht, obszön und natürlich und bei alledem hoch symbolisch, zyklisch, rund: Ein Monat und ein Jahr. Sie ist den einen zu viel und den anderen zu wenig. Doch diese wie jene vermögen nichts gegen die natürliche und doch zutiefst kritische Logik dieser Zahl: Denn sowohl das vermeintlich gerechtere 1:1 der radikaleren Linken, noch die vermeintlich liberale Ausflucht, dass jede bestimmte Zahl eine Anmassung sei, verweigert sich der Einsicht, dass eine demokratische Gesellschaft davon lebt, dass sie weder ihre Differenzen leugnet, noch sie unbearbeitet dem Schicksal überlässt, sondern die Verhältnisse, in denen man leben muss, selber definiert.
Eine vernünftige Sache
Die Juso hatte zum Podium geladen und die Gäste taten alles, unterstützt vom sachlichen Moderator David Schaffner, um sich in den Untiefen dieser Sache nicht zu verlieren. Und nimmt man sie als Repräsentanten einer möglichen Volksmeinung, so liegt man wohl nicht ganz falsch.
Karin Keller-Sutter: gewohnt überzeugend in den Voten, mit einem theoretisch reflektierten Liberalismus, der sich wehrt gegen staatliche Bevormundung, und einer authentischen Angst vor dem systemverändernden Potential der Initiative, die sich immer wieder in einem: „Das darf doch nicht sein, das erschüttert die Grundfesten unserer Ordnung“ Luft verschaffte. Sinnfälliger Ausdruck davon war der Vergleich, dass man bei einem Chefgehalt von 12 Millionen ja den Angestellten auch eine Million geben müsse und da sähe ja jeder, wie absurd das sei.
Philipp Müller: die Personifikation des gesunden Menschenverstands oder des Realitätsprinzips und zugleich auch der Beweis, dass solches immer die Schlagseite nach der Macht hat. Sowohl empört über diejenigen, die sich ungerechtfertigt bereichern, als auch über diejenigen, die behaupten, dass es abgesehen von der persönlichen Moral noch andere Steuerungsinstrumente gibt.
Barbara Gysi: die sachliche, unideologische Sozialdemokratin, die ihr spontanes Gerechtigkeitsgefühl, dass mit den ganz hohen Löhnen etwas nicht stimmt, nicht mit den Mühen der Theorie geeicht hat, mit der Folge, dass man zu diffus ist, um angesichts der Macht des Faktischen wirklich an die eigenen Forderungen zu glauben und diese daher nur symbolisch versteht. 1:12 als Metapher, mit der man Ungerechtigkeiten zwar thematisieren aber nicht aus dem Weg schaffen kann, und der man im stillen Kämmerlein zustimmt oder auch nicht. Gysi schaffte es daher nicht, die Lüge vom grossen Steuerausfall zu kontern mit dem Verweis auf grössere Kaufkraft zum einen und Investitionen zum anderen.
Und schliesslich Cédric Wermuth: dessen naiver Grundimpuls, dass man jederzeit die Dinge ändern könne, ihn nicht dazu drängt, das Utopische für realistisch zu halten, sondern umgekehrt das Realistische für utopisch. Dass 1:12 ein ganz und gar realistisches Szenario ist, eine vernünftige Sache, um die Unvernunft der aktuellen Dynamik zu stoppen, eine Notbremse und kein Putsch, das ist die Botschaft, die Wermuth zu vertreten hatte. Und dass darüber hinaus darin auch noch der utopische Keim eines empfindlichen Schlags gegen den Kapitalismus enthalten sein könnte, konnte man, wenn man wollte, bei Wermuth an der Energie ablesen, mit der er die Sache vertrat.
Das Finanzkrisen-Märchen
Und so war es auch Wermuth, der nach einer Viertelstunde der von Müller und Keller-Sutter vorgetragenen Finanzkrisentheorie endlich Einhalt gebot. Die 1:12-Initiative, so Müller und Keller-Sutter, sei eine Reaktion auf die Finanzkrise, diese aber sei durch die Gier der armen Leute verursacht worden, die sich Häuser gekauft hätten, die sie sich nicht leisten konnten. Wermuth stellte richtig, dass es das enorme Kapital gewesen sei, dass durch exorbitante Boni, Lohndumping und Wucherzinse angewachsen, unbedingt neue Anlagemöglichkeiten suchte und sie in den riskanten, dafür horrend verzinsten Hypotheken fand, die man den armen Leuten aufschwatzte, die sich durch Prekarisierung und Reallohnverluste plötzlich nicht mehr in der Lage fanden, ohne Schulden zu machen ihren Lebensstandard aufrecht zu erhalten.
Damit sich ein solches nicht wiederhole, dazu sei die 1:12 Initiative ein wirksamer Schutz. Müller hielt dagegen, dass das Erfolgsmodell Schweiz gerade darin bestünde, dass die Lohnunterschiede abgesehen von ein paar schwarzen Schafen im Lot seien und man also den Status Quo erhalten sollte.
Falls der ehrlich Gewerbetreibende Herr Müller das selber glaubte, so wäre zu hoffen, dass irgend jemand ihm nach dem Gespräch noch dies zugeflüstert hat: Der Kapitalismus ist manchmal zum Glück, aber heute auch oft leider die immer alles auflösende und verwertende Dynamik – und für den Status Quo, den er sich wünscht, ist vielmehr die Politik, manchmal auch die Revolution in Gestalt der Notbremse und einem Ja zu 1:12 am 24. November zuständig.
PS: Dass der Saal schön hälftig ins Ja- und Nein-Lager geteilt war, ist das eine. Dass aber die Gesinnung den Jungen in Haltung und Kleidung viel stärker ins Gesicht geschrieben stand als den älteren Besuchern, war ein merkwürdiges Detail an diesem Abend.
Ein sehr guter Text, der den zentralen Aspekt dieser Initiative definiert. Meiner Meinung nach ist 1:12 keine Wirtschaftsinitiative, denn nur vordergründig wird die Wirtschaftsfreiheit eingeschränkt. Im Hintergrund wird aber die Bedeutung von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Prinzipien neu verhandelt. Bei einem positiven Wahlausgangs macht die Wählerschaft deutlich, dass nicht alles in der Gesellschaft der wirtschaftlichen Logik gehorchen muss. Es gibt nämlich Dinge, die über der Wirtschaftsordnung stehen sollen. Und selbst in der wirtschaftlichen Logik, für alle, die bis aufs Mark vom Kosten-Nutzen-Denken durchdrungen sind:
Ziel einer Regierung = Maximierung des Volkwohls (Wohl jedes einzelnen), 1:12 Initiative = Investition (die Höhe der Investition ist sehr umstritten) in eine gerechtere und dadurch auch glücklichere Gesellschaft. Darum am 24. November: Ja! So oder so.
Obwohl ich gegen diese Initiative bin, war ich von diesem Artikel beeindruckt. Es kommt selten vor, dass ich einen deutschen Text wegen komplizierter Schreibweise nicht (vollständig) verstehe. Ich kenne die Vorzüge eines fortgeschrittenen Textes, er fasst sich kurz und ist dennoch detailreich. Trotzdem empfand ich diesen Artikel fast schon als unzugänglich, was ich bei politischen Themen immer für ein wichtiges Textmerkmal halte.