, 20. Dezember 2020
keine Kommentare

Die Rohen und die Gekochten

Immunium® Akut #20: Patrick Zilteners Exkurs zu den Mandschu-Eroberern Chinas, deren Feldzug fast an einer Kinderkrankheit gescheitert wäre. Oder warum Immunität eine mächtige Waffe sein kann.

Dass Krankheitserreger wie das Pocken-Virus schreckliche Waffen sein können, wissen wir vor allem aus der Geschichte der Eroberungen Australiens und Amerikas, wo diese auf nicht-immune Bevölkerungen trafen und – beabsichtigt und unbeabsichtigt – verheerende Wirkungen entfalteten.

Weniger bekannt ist die Tatsache, dass Immunität eine mächtige Waffe gegen Eroberer sein kann – wie der Fall der Chinesen gegen die Mandschu im Zeitraum von 1600 bis ca. 1800 zeigt.

Unter der Ming-Dynastie (1368–1644 westlicher Zeit) hatten die Chinesen bereits eine Immunität gegen die Pocken entwickelt – sie wurden eine Kinderkrankheit, die alle einmal durchmachten und danach immun waren.

Die halbnomadischen ethnischen Gruppen nördlich der Grossen Mauer hingegen, die zusammen als Mongolen bezeichnet werden, hatten diesen Prozess nicht durchgemacht. Aufgrund der Kontakte kam es immer wieder zu Ansteckungen, die unter den erwachsenen Mongolen zahlreiche Todesopfer forderten und entsprechend stigmatisiert wurden.

Illustration: Joël Roth und Zéa Schaad

Als sich die unter den Mandschu vereinigten Gruppen anschickten, ganz China zu erobern, stellte die Ansteckungsgefahr eine gewaltige Herausforderung dar. Nicht mit Pocken angesteckt zu werden, hatte eine ebenso grosse Bedeutung wie eine gute Ernte oder ein militärischer Sieg und wurde entsprechend zeremoniell verdankt.

Bereits 1622 wurde eine administrative Untersuchungseinheit gebildet, um Massnahmen zur Minimierung der Ansteckungsgefahr zu ergreifen. Diese Einheit wurde später in den chinesischen Staatsapparat integriert und blieb schliesslich über 200 Jahre lang tätig.

Aber wie gelang den Nicht-Immunen die Eroberung der Immunen? Die Mongolen hatten schon die Praxis von geschützten Quarantänestationen, den Bidousuo, entwickelt. Aber nicht die Kranken, sondern die Gesunden, die Ansteckung befürchteten, zogen sich in diese zurück, sobald es zu einem Ausbruch kam.

Das liess sich nicht aufrechterhalten auf Eroberungszügen. Mitglieder der Herrscherfamilien wollten nicht teilnehmen, wenn sie noch keine Pocken gehabt hatten, und auch viele einfache Soldaten verweigerten sich aus Angst vor einer Ansteckung in China, und es kam zu Desertionen.

Saiten hat sich zum Jahresschluss ein Heft zur Immunstärkung vorgenommen. Wir wollten Anregungen und Überlegungen aller Art zur politischen, gesellschaftlichen und individuellen Kräftigung des Immunsystems sammeln.

Zusammengekommen sind 24 Beiträge aus allen möglichen Richtungen, ein Adventskalender der resistenten Art: Kurzgeschichten, Selbsterfahrungen, Appelle, Wutausbrüche, Tiefgang und Smalltalk, Rezepte und Rezeptverweigerungen. 24 Stimmen, 24 Seiten, eine geballte Dosis Immunium® Akut, garantiert mit Risiken und Nebenwirkungen.

Angesteckte wurden ausgeschlossen und oft vertrieben. Die Genesenen wurden als shoushen, gekochte Körper, diejenigen, die die Krankheit noch nicht durchgemacht hatten, wurden als shengshen, rohe Körper, bezeichnet. Entsprechend wurden auch militärische Einheiten aufgeteilt in Gekochte und Rohe – erstere hatten die besonders exponierten Aufgaben zu übernehmen.

Dennoch kam es zu zahlreichen Ansteckungen während der Eroberung, und der erste Mandschu-Kaiser Shunzhi (1644–1661 westlicher Zeit) starb mit 23 Jahren an den Pocken, trotz seiner (mindestens) zwei luxuriösen Bidousuo in Beijing mit Wassergräben.

Auch seine Nachfolger verwendeten ausgeklügelte Herrschaftstechniken darauf, eine Ansteckung zu vermeiden, was die Segregation zwischen Mongolen und Chinesen beträchtlich verstärkte, Hofzeremonien massiv verkomplizierte und diplomatische Kontakte behinderte.

Die Nichteinhaltung von offiziellen Regeln und Schutzmassnahmen wurde unter den Mandschu ein beliebter Vorwand, um Konkurrenten um Ämter und Thron aus dem Weg zu räumen. Es dauert lange, bis die Pocken auch für Mongolen zu einer Kinderkrankheit wurden.

Patrick Ziltener, 1967, ist Soziologe, Asienkenner und sitzt für die Grünen im Unirat der HSG.

 

Impressum

Herausgeber:

 

Verein Saiten
Gutenbergstrasse 2
Postfach 2246
9001 St. Gallen

 

Telefon: +41 71 222 30 66

 

Hindernisfreier Zugang via St.Leonhardstrasse 40

 

Der Verein Saiten ist Mitglied des Verbands Medien mit Zukunft.

Redaktion

Corinne Riedener, David Gadze, Roman Hertler

redaktion@saiten.ch

 

Verlag/Anzeigen

Marc Jenny, Philip Stuber

verlag@saiten.ch

 

Anzeigentarife

siehe Mediadaten

 

Sekretariat

Isabella Zotti

sekretariat@saiten.ch

 

Kalender

Michael Felix Grieder

kalender@saiten.ch

 

Gestaltung

Data-Orbit (Nayla Baumgartner, Fabio Menet, Louis Vaucher),
Michel Egger
grafik@saiten.ch

 

Saiten unterstützen

 

Saiten steht seit über 25 Jahren für kritischen und unabhängigen Journalismus – unterstütze uns dabei.

 

Spenden auf das Postkonto IBAN:

CH87 0900 0000 9016 8856 1

 

Herzlichen Dank!