, 17. Juli 2020
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Die Schwerelosigkeit des Reisens

Schon abgereist? Oder noch da? Oder dieses Jahr gar nicht in Ferienlaune? Für alle Fälle passt das Buch «Touristen sind die anderen» der Fotografen Hanspeter Schiess und Roberto Casavecchia. Es hält dem Reisen einen liebevoll-kritischen Spiegel vor.

Sie sitzen, sie warten, sie bummeln, sie beobachten, sie essen oder trinken – und sie fotografieren. Viele der Touristen, welche die beiden Fotografen in über hundert Bildern festgehalten haben, sind ihrerseits mit gezückter Kamera oder schussbereitem Handy unterwegs. Das Vorwort zählt kurz zusammen: 36 Personen auf den Bildern sind am Fotografieren, 14 davon machen Selfies. Fotografierende, fotografiert – ein doppelter Spiegel.

Wie sich die touristische Bilderjagd verändert hat unter digitalen Vorzeichen, reflektiert ein Textbeitrag von Andreas Stock im Buch. Früher, bei der Analog-Fotografie war das Bild erst Tage später zu sehen, mit entsprechender Spannung: «Freude (über gelungene Aufnahmen), Enttäuschung (unscharf, über- oder unterbelichtet) und Überraschung (ein Sujet, das man sich nicht erinnern konnte, fotografiert zu haben) blitzten auf, während man durch die Abzüge blätterte.»

Im digitalen Zeitalter sind Bilder nicht nur massenhaft herzustellen, sofort zu bearbeiten oder wieder zu löschen, sondern sie können auch sofort geteilt werden. Und jeder Laie bildet sich ein, ein gewiefter Fotograf zu sein.

Die Bilder im Buch zeigen dagegen, was herauskommt, wenn Profis ihr Handwerk betreiben: Mit sicherem Blick treffen sie den überraschenden oder auch den typischen Moment, zeigen, ohne zu entlarven, deuten Geschichten an, die man sich als Betrachter selber weitererzählt.

Schiess und Casavecchia fotografieren am Strand und im Museum, in Strassencafés und in Parks, in Städten und (seltener) in der Natur. Von welchem der beiden seit Studienzeiten befreundeten Fotografen welches Bild stammt, bleibt offen, ebenso die jeweiligen Orte.

Italien, Touristendestination par excellence, ist der häufigste Schauplatz, aber auch nach Frankreich, in asiatische Städte oder dazwischen an einen Innerrhoder Alpaufzug entführen einen die Fotografien mit neugierigem, unvoreingenommenem Blick.

Erschienen ist das Buch im Eigenverlag als Kollaboration ehemaliger «Tagblatt»-Mitarbeiter. Dazu gehören neben Fotograf Schiess die Textbeiträge von Andreas Stock, Beda Hanimann und Ursula Bardutt, die das Vorwort geschrieben hat.

Stock denkt über das Medium und die Techniken der Fotografie nach, Hanimann reflektiert die Kunst des Reisens, spürbar aus eigenem Erleben genährt und aus der Erfahrung seiner jahrelangen Kolumne «Nahverkehr» im «Tagblatt».

Warum reisen wir? So unterschiedlich die Motive – Tapetenwechsel, Luftveränderung, Abtauchen, Ausbrechen, Auszeit: Am Ende gehe es stets um «das wunderbare Gefühl der Befreiung, welches vom Wissen rührt, alles Gewohnte hinter sich gelassen zu haben, wenigstens auf Zeit», schreibt Beda Hanimann in einem seiner kurzen Essays über die verschiedenen Etappen des Reisens.

Hanspeter Schiess, Roberto Casavecchia: Touristen sind die anderen, Eigenverlag, Fr. 38.-

Bezug: mail@hanspeterschiess.com

In inspirierten Bildern schildert er erstmal die Planung, das allmähliche Entstehen einer Reise-Idee, den «Sirenengesang» eines Namens – Sevilla… Lofoten… Es folgt das Packen, die Reise, dieses «flirrende Zwischenstadium», dann «Ankunft und Landnahme», das Aushändigen des Hotelschlüssels als «Kürzest-Zeremonie von Einbürgerung», das erste entspannte Auskundschaften. Reisen lebe von der «Schwerelosigkeit des Zweckfreien», vom Sich-Treiben-Lassen, mit der Zeit aber auch von neugewonnenen Ritualen und Bekanntschaften, schliesslich dann von der Rückkehr voller Erinnerungen.

Kritik am zum Teil – etwa in spanischen Städten oder in Venedig – kaum noch erträglichen Massentourismus, wie er vor Corona heftig diskutiert worden ist, tönt in den Fotos und Texten nur ganz leise an. Im Vordergrund steht das Lob des Reisens als Chance, andere Welten und sich selber neu zu entdecken.

Der innerste Beweggrund aber ist für Hanimann: «Was uns treibt, ist die unbewusste Suche nach dem magischen Moment.» Der müsse nicht spektakulär sein, und er sei schon gar nicht planbar. «Er ergibt sich.» In den Fotos des Buchs sind solche magischen Momente ebenso erahnbar wie die Situationen banalen, erschöpften oder erfüllten Wartens.

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