, 17. März 2014
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«Die Stimme zu erheben…»

Die Buchmesse Leipzig ist vorbei, mit Rekord-Besucherzahl. Die Schweiz war Gastland – beim Ex-St.Galler Autor Andreas Niedermann kam deren Auftritt nicht gut an.

Hat sich das desolate Bild der Schweiz nach dem 9. Februar jetzt verbessert – jetzt, nach Leipzig, wo die Schweiz Gastland der Buchmesse war? Sicher scheint beim Blick in die Berichte aus Leipzig zumindest dies: Es gab viel Resonanz und Interesse. Allerdings auch ironische: Die FAZ etwa mokierte sich über den halbherzigen Versuch von Bundesrat Alain Berset, die internationale Verwirrung über das Schweizer Ja vom 9. Februar zu zerstreuen. Und das Deutschlandradio amüsierte sich über die NZZ-Berichterstattung: «Die Neue Zürcher Zeitung ist hellauf zufrieden. Nachdem die Schweizer klargestellt hatten, dass sie kein Gastland, sondern Bestandteil der deutschsprachigen Literatur seien, sei es ein Heimspiel gewesen.»

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Melinda Nadj Abonji

Nach-lesenswert sind auf jeden Fall die Statements, die zahlreiche Schweizer Autorinnen und Autoren im Hinblick auf Leipzig und im Rückblick auf die Abstimmung abgegeben haben. Die Initiative dazu kam von Buchpreisträgerin Melinda Nadj Abonji – sie selber setzt sich in ihrem Beitrag mit der Krise der Demokratie auseinander. Hier ein Auszug:

Im August 1914 brachte der achtundzwanzigjährige Max Daetwyler auf dem Kasernenplatz von Frauenfeld die versammelten Offiziere und Feldprediger in unvorhergesehene Turbulenzen: Daetwylers Vorgesetzter hatte bereits Achtung steht! gerufen, der zuständige Offizier wollte schon zur Verkündigung der Eidesformel ansetzen, da übergab Daetwyler seinem Nebenmann das Gewehr, ging im Laufschritt zur Tribüne, hin zur stramm stehenden militärischen Obrigkeit, und rief laut und deutlich: Ich bin gegen den Krieg, ich schwöre nicht!! Es könne doch nicht sein, dass diese Welt, die durch fabelhafte Entwicklung miteinander verbunden war, sich bekriegt – so formulierte es Daetwyler 1968 im Rückblick auf die damaligen Ereignisse; jeder Soldat müsse sich doch weigern, an diesem organisierten Menschenmord teilzunehmen, keine Soldaten, kein Krieg, das sei ihm plötzlich klar geworden – Daetwyler, der bereits sieben Wiederholungskurse im Militär absolviert hatte, bei seinen Vorgesetzten als tadellos, dienstfreudig und zuverlässig gegolten hatte. Nach seinem «Auftritt» wurde er sofort verhaftet und in die Irrenanstalt Münsterlingen gebracht, Diagnose: Schizophrenie, unzurechnungsfähiger Psychopath. Daetwyler ging als erster schweizerischer Dienstverweigerer des Ersten Weltkriegs in die Geschichte ein.

Hat Daetwyler nicht als logisch denkender und fühlender Mensch gehandelt, durch und durch demokratisch, indem er sich einer ganz grundsätzlichen Ethik verpflichtet fühlte? Sind wir denn wirklich so demokratisch, wenn wir (in der Schweiz) unzählige Stimmzettel ausfüllen, über deren Inhalt wir in den wenigsten Fällen genau Bescheid wissen? Oder anders gefragt: Lässt das ständig sich drehende Abstimmungs-Karussell nicht die ungesunde Annahme und eine überhebliche Mentalität entstehen, dass wir uns zu allem äussern können, dass wir so wichtig sind? Und wo bitte schön hat sich die demokratische Instanz auf Bundesebene versteckt, die sich zu solch suggestiven Begriffen wie Masseneinwanderungsinitiative äussert?

Ja, wir sind wichtig, wenn wir uns endlich eingestehen, dass wir auch in der Urdemokratie manipuliert werden – so müssen wir über Initiativen abstimmen, die Scheinprobleme behandeln (wie die Minarett- Initiative; drei Minarette gibt es in der Schweiz – wer hat sie je gesehen?), Scheinprobleme, die aber den Ernst der Sache maskieren: dass wir nämlich durch die Annahme der Initiative die Religionsfreiheit nicht mehr respektieren. Ja, wir sind wichtig, wenn wir fähig sind, aus eigener Überzeugung heraus die Stimme zu erheben, in unserem alltäglichen Leben, wie es Max Daetwyler getan hat, dessen Geschichte mir als eindringlicher, mahnender Ruf aus der Vergangenheit erscheint. Ja, das letzte Abstimmungsergebnis bedeutet eine demokratische Katastrophe.

Soweit Melinda Nadj Abonji – ihr Text und diejenigen aller anderen Autorinnen und Autoren hier.

Euphorisch fällt die Leipzig-Bilanz der Veranstalter aus – Dani Landolf, Geschäftsführer des Buchhändler- und Verlegerverbands SBVV, wertet den Auftritt als Grosserfolg: Die «unglaubliche Aufmerksamkeit» für die Schweiz habe alle Erwartungen übertroffen. Was offensichtlich eine Frage des Standpunkts ist – die «Welt» jedenfalls schreibt: «Prominentestes Messethema aber war, zumindest in den Branchenkreisen, Amazon…»

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«Die Schweiz hatte ihre Künstler schon immer gerne im Ausland» (Daniel Spörri)

Unwirsch reagierte hingegen der in Wien lebende St.Galler Autor Andreas Niedermann auf den Versuch der Schweizer Autorinnen und Autoren, sich vom 9. Februar zu distanzieren. In seinem Blog schimpft Niedermann über das Ansinnen, mit roten Bänken und Ansteckknöpfen das Bild einer «hässlichen Schweiz» zu korrigieren: «Verniedlichung, heisst die Devise, eine Art umgekehrtes Mimikry, keine aggressiven Weltkonzerne wie Nestlé, keine Milliarden-Pharmariesen, keine Globalplayerbanken, nein, nur süsse kleine ackermannfreie Bänklein, auf denen sich das düpierte Ausland ausruhen darf und – nachdenken. Köppelfrei. Z.B. über die originellen Buttons an den Revers der Schweizer Schreibenden: «Ich bin 49,7 prozentig». Grundgütiger!»

Niedermann hätte es lieber vehement gehabt: «Tun sie sich jetzt fremdschämen? Wie ich mich fremdschäme für die Verniedlicher und Antichambrierer-Kollegen. Warum können die Schweizer Schreibenden ihr Land nicht einfach hassen, wie jeder anständige Wiener auch?» Der vollständige Blogtext hier. Samt abschliessender Leseempfehlung Niedermanns: Lisez Paul Nizon!

1 Kommentar zu «Die Stimme zu erheben…»

  • Andreas Niedermann sagt:

    Rezeption von Kathrin Passig, deutsche Autorin:

    „Ich erzähle am Kneipentisch die Website des Auftritt Schweiz nach: Sie war bestimmt wahnsinnig teuer! Millionen Schweizer Franken!, sage ich. Und es steht nur das allereinfallsloseste Zeug drin, in vier Sprachen! Es ist überhaupt kein Grund erkennbar, warum ein normaler Mensch jemals diese Website aufsuchen wollen könnte: Landkarten mit den Wohnorten von Schweizer Autoren! Wichtiges über den Brückenbau! Aber wer weiß, sage ich, wahrscheinlich werden ja diese ganzen totgeborenen Websites eben von Schweizer Autoren und Künstlern in ihren Brotberufen gebaut, getextet, illustriert und übersetzt, und so ist es am Ende doch für irgendwas gut.“

    http://blogs.deutschlandradiokultur.de/buchmesselbm14/2014/03/13/mutmassungen-ueber-die-schweiz/

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