, 2. Mai 2016
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Die Theater-Infektion

Die Untoten erobern die Stadt – zumindest vorübergehend am Blumenmarkt. Dort inszeniert der künftige St.Galler Schauspieldirektor Jonas Knecht mit seinem Theater Konstellationen «Nekropolis».

Endzeit im Kühlraum: Anja Tobler und Aaron Hitz. (Bild: Ralph Ribi)

Mit Untoten zu verkehren, ist ein exklusives Privileg. Gerade einmal zwei Dutzend Personen haben pro Vorstellung Platz auf den eng gestellten Stühlen, die vier St.Galler Aufführungen waren entsprechend begehrt. An der Kasse Personal im Schutzanzug, der Weg in den Theaterraum führt durch einen winkligen Gang und mit einem in die Jahre gekommenen Lift hoch in den ersten Stock.

Gekachelte Wände, alte Elektrikmonturen, Kühlräume mit schweren Türen, alles von vorgestern, lange verlassen, kahl mit Ausnahme eines ausrangierten Kühlmöbels und Stapeln von Büchsenbohnen. Sie sind das einzige, was an Essbarem übriggeblieben ist nach der Apokalypse.

Der Raum passt perfekt zum Endzeitthema des Stücks – hier wurden einst Brötchen gebacken, es ist die ehemalige Schwyter’sche Backstube , aber jetzt lauern draussen Tod und Verderben beziehungsweise das verdammte ewige Leben oder gemäss Stückbeschrieb «Millionen hungriger Untoter». Und drinnen herrscht Trostlosigkeit; Nekropolis spielt kurz (oder lang?) nach einer nicht näher erklärten Katastrophe.

Die Zombie-Show

Drei Personen haben sich an den Unort gerettet, zwei Männer und eine Frau. Der eine, ältere (Hans-Jürg Müller) ist offensichtlich eingesperrt in die hinterste Ecke des Raums, man hört ihn bis fast am Ende nur als Stimme, sie kommentiert zynisch die Lage. Der jüngere (Aaron Hitz) ist infiziert, «Inkubationsphase 8, kurz vor der Auferstehung», ein Klischeezombie aus dem Walking Dead-Fundus: wälzt sich, schäumt und zuckt, beisst und kratzt und wird von der Frau dressiert – mal zum Tisch, mal zum Hund, mal zum Zombie-Showmaster.

Sie (Anja Tobler) scheint die einzig menschlich Überlebende der Katastrophe zu sein. Sie macht das Beste draus, liest alte Illustrierte, spielt Zombieshow für sich und das Publikum, das irritierend real vor ihr sitzt, hält den unsichtbaren Alten bei Laune, versucht der vertrockneten Topfpflanze mit Speuz Leben einzuhauchen und erzählt beklemmend von ihrem dementen Vater, dem wahren Untoten. Am Ende wird auch sie zombifiziert.

Vorbote des neuen Theaters

Und wir? Spüren wir‘s schon? Juckreiz? Hitzewallungen? Muskelzuckungen (unkontrolliert)? Speichelfluss? Hilflose Versuche, sich verbal zu artikulieren? Das Theater warnt vorsorglich vor solchen Symptomen.

Bevor es soweit ist, muss noch rasch dreierlei gesagt sein.

Zum einen: Nekropolis ist brillant gespielt. Tobler und Hitz werfen sich hart am Publikum mit vollem, manchmal riskantem Körpereinsatz in die scharfen Dialoge der Autorin Anita Augustin. Ein schönes Versprechen, denn Anja Tobler und Hans-Jürg Müller gehören ab Sommer neu zum St.Galler Schauspielensemble des neuen Direktors Jonas Knecht. Dieser führt klug Regie im beengten Raum.

Zum zweiten: Nekropolis malt schwarz, so schwarz wie das Blut, das am Ende aus dem Mund der drei Schauspieler tropft. Dahinter steckt ungefähr die Botschaft:  Die Untoten seien lebendiger als wir, die wir uns zu Tode oder zumindest ins Burnout krampfen, mit Botox vollpumpen, mit künstlichen Hüftgelenken oder transplantierten Nieren prothesenhaft am Leben halten. «Schluss mit Sterben, her mit dem Untod».

Kommt hinzu: Zombies seien die wahren Demokraten, alle gleich, alle vom selben Virus befallen, alle frei von Sterbensängsten. Das klingt gesellschaftskritisch – aber am Ende triumphiert die schiere Lust am Zombie-Spielen über solche Behauptungen, die eher nach Transsilvanien als in die Realschweiz zielen.

Zum dritten: Die wahre Infektion des Stücks ist eine theaterpolitische. Nach dem jetzigen Nekropolis-Auftakt ob dem Blumenmarkt übernimmt Jonas Knecht das Motiv im Winter in sein Schauspielprogramm am Theater St.Gallen (morgen informiert das Theater detailliert über den Spielplan 2016/17). Und zugleich soll sich Nekropolis, ursprünglich als «Live-Hörspiel» gedacht, virusartig verbreiten über andere, koproduzierende Bühnen. Die Theater Konstanz und Aachen sind genannt, weitere sollen folgen. «Je mehr Theater sich anstecken lassen», schreibt das Theater Konstellationen, «desto grösser die Chance, dass wir es zu einer veritablen Pandemie bringen.» Parallel zum realen Raum soll auch der virtuelle zombifiziert werden, mittels Nekropolis-Website.

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Schwyter macht es vor

«Die Stadt gehört uns», behaupten die Untoten. Noch ist es nicht so weit. Im Gegenteil, und ins Lebendige gewendet: Schön, dass ein gestandener St.Galler Gewerbebetrieb, die Bäckerei Schwyter, Räume (gratis) für das freie Theater öffnet. Wenn das Beispiel Schule macht, können künftig nicht die Untoten, aber ein paar Kulturschaffende mehr sagen: Die Stadt gehört uns.

Weitere Vorstellungen: Dienstag, 3. Mai (ausverkauft), Mittwoch, 4. Mai, 20 Uhr.

theater-konstellationen.net

 

 

 

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