, 6. November 2019
keine Kommentare

Down with Platon, down with love!

Warum die Verschmelzungstheorie die Menschen seit Urzeiten ins Beziehungselend stürzt. Und was man – allein! – dagegen tun kann.

Keine erstrebendswerte Existenz: Kugelmenschen.

In der Philosophie gibt es verschiedene Liebestheorien. Eine davon ist die Verschmelzungs- oder Vereinigungstheorie. Einer ihrer berühmtesten Vertreter ist ein alter Hase der Philosophie: Platon. In seiner Metapher des Kugelmenschen wird das grundlegende Motiv seiner Theorie ganz bildhaft beschrieben: In frühesten Zeiten hatten die Menschen eine andere Form inne. Sie waren rund, hatten zwei Gesichter, vier Hände, vier Füsse und waren von gewaltiger Stärke und Intelligenz.

Aufgrund dessen wurden sie übermütig und wagten sich an die Götter heran; sie wollten sich Zugang zum Olymp verschaffen. Diese waren darüber so erzürnt, dass sie beschlossen, die Menschen zu teilen, um sie zu schwächen. Zeus schlug also jeden Kugelmenschen in der Mitte entzwei und heilte die verwundeten Stellen. Somit erhielten die Menschen ihre heutige Form und sind seither auf der Suche nach der passenden Hälfte. Findet man sie, spürt man es sofort – es fühlt sich vom ersten Moment perfekt an. Aus einem singulären «Ich» und «Du» wird also ein «Wir»! Die Zeit der Einsamkeit ist vorüber.

Der Mythos von der perfekten anderen Hälfte

Obacht! It’s a Trap! Diese Metapher prägt das Liebesdenken seit Jahrhunderten und findet sich auch heute noch, was sich beispielsweise im alltäglichen Sprachgebrauch zeigt. Man sucht den Einen oder die Eine, man findet ihn schon noch: den Richtigen, die Liebe des Lebens, die dann im Laufe einer Partnerschaft zur «besseren Hälfte» mutiert. Nachzulesen in allen Kitschromanen am Bahnhofskiosk, zu sehen in allen Hollywoodproduktionen, die irgendwas mit Liebe am Hut haben oder auch in sämtlichen Werbespots mit Love-Faktor – die Propaganda für die Verschmelzungstheorie läuft seit je auf Hochtouren.

Warum aber bedarf es einer solchen Werbung? Ganz einfach: weil die Theorie vollkommener Bullshit ist. Sie beinhaltet nämlich den Ansatz, dass es nur EINEN EINZIGEN Menschen auf dieser Erde gibt, der die perfekte Hälfte verkörpert. Den gilt es zu finden. Und wenn man das nicht schafft, was bei knapp acht Milliarden Erdenbürgerinnen und -bürgern ja ein Klacks ist, tja, dann hat man halt keine perfekte Kugelliebe – Pech gehabt!

Aus der Panik, die daraus entsteht, resultiert wiederum eine Sprunghaftigkeit und Unsicherheit in Beziehungen, die zu steigenden Trennungszahlen und zu grossem Leid bei den Betroffenen führen. Bei aufkommenden Beziehungsproblemen wird die Flirt-App am Handy wieder aktiviert oder in die Kneipe ums Eck geschaut, ob nicht doch vielleicht noch was Besseres auf dem Weltenball herumläuft – die aktuelle Beziehung wars ja offensichtlich nicht. Eine klare Konsumhaltung überträgt sich in Liebesbeziehungen: Einen kaputten Toaster repariert man ja auch nicht, sondern holt sich einen neuen – das geht schneller, ist günstiger und man kann sich auch gleich noch ein schickeres Modell besorgen.

Abgesehen von den daraus resultierenden inflationären Trennungen führt das Verschmelzungsmodell auch zu einer Anspruchshaltung innerhalb bestehender Beziehungen, die eher bedenklich erscheint. Aus «Ich» und «Du» wird «Wir» – auch wenn im Folgenden das eine oder andere Klischee bemüht werden muss, kennt man sie doch, die Paare, die sich nach «Schema-F» verhalten und beispielsweise Sätze sagen, wie: «Wir sind heute müde und bleiben lieber zuhause», «Wir mögen die italienische Küche sehr» oder – mein Favorit – : «Wir sind schwanger!»

Das «Wir» wird Ersatz für die beiden Individuen, alles geht nur noch gemeinsam. Freizeitgestaltung, Nahrungsaufnahme, Freundeskreise, Urlaube und Familienbesuche werden zusammengelegt und nur noch im Duo erledigt. Darüber hinaus verbringt man das halbe Leben Seite an Seite: im gemeinsamen Bett.

Es scheint ein Automatismus zu sein, dass Paare nach einiger Zeit zusammenziehen. Und ein weiterer Automatismus ist dann das gemeinsame Schlafzimmer, wo man Nacht für Nacht ein «Wir» bildet. Dabei ist es erforscht, dass Alleineschlafen viel erholsamer und gesünder ist. Egal: Wer ein Paar ist, muss ins Ehebett, und schleicht sich mal einer daraus hinaus, wird es gleich zum Problem: Auf dem Sofa schlafen ist ein Indikator für Beziehungsprobleme – siehe wieder die Kitschromane am Bahnhofskiosk und die Hollywoodfilme.

Damit der Partnerschaftsmarkt floriert

Einzelaktivitäten werden allgemein als Warnzeichen wahrgenommen. Wenn das «Du» auf einmal wieder allein ins Kino geht oder gar in einen Singleurlaub fährt (von Masturbation mal ganz zu schweigen), ist sofort ein Panikmoment im «Ich»: Warum jetzt dieser Abstand? Warum darf ich nicht mit? Was habe ich nur falsch gemacht? Gibt es vielleicht sogar jemand anderen? Diese Fragen sind tief in uns verankert und ploppen unweigerlich auf. Es benötigt jahrelanges Kommunikationstraining und ein urtiefes Vertrauen, damit diese Verhaltensmuster verändert oder abgestellt werden.

Begibt oder befindet man sich also in einer Liebesbeziehung, so ist man im Normalfall nicht mehr alleine. Was zunächst wie eine Erfüllung klingt, kann mit der Zeit zur Bedrohung werden. Wenn das «Wir» übergross wird und alles vom «Ich» und «Du» auslöscht, wirds gefährlich. Spätestens wenn die Beziehung endet (was ja unausweichlich ist, siehe oben), steht man vor dem Nichts. Einer ausgelöschten Existenz. Keine eigenen Freunde mehr, keine Hobbys, keine Interessen, keine Orte, an denen man nicht Gefahr läuft, den oder die Ex zu treffen… Spätestens dann merkt man, dass diese Verschmelzungssache scheisse ist.

Schön und gut, mag man nun sagen, vielleicht ist die Verschmelzungstheorie aber auch deshalb so populär, weil sie ein Grundbedürfnis im Menschen anspricht, eine ganz tiefe Sehnsucht anrührt. Nach Geborgenheit, nach Ganzheit, nach Nähe, nach Gesehenwerden. Dem ist auch nichts entgegenzustellen, und doch muss kritisch weitergefragt werden: Warum bedient sich dann zum Beispiel Hollywood und die Werbeindustrie so gerne bei diesem Liebesmotiv? Nun, weil es auch den Kapitalismus am Leben erhält und somit in unserem aktuellen System bestens funktioniert.

Was würden all die Fitness- und Nagelstudios machen, wenn es keinen Partnerschaftsmarkt mehr gäbe? Wenn sich niemand mehr mit perfekter Maniküre und Sixpack-Muckis für die andere Hälfte pimpen müsste, damit man auch ja als perfekt angesehen und erkannt wird – die Beautybranche würde zusammenbrechen, aber auch andere Bereiche wären betroffen. Durch die Isolation der Einzelpaare braucht schliesslich auch jeder Zwei-Personen-Haushalt eine komplette Inneneinrichtung inklusive Waschmaschine, Staubsauger, Kaffeekocher und bestenfalls noch einem Auto.

Die Romantik wird also schamlos ausgenutzt und als kapitalistisches Werkzeug missbraucht. Wer vertiefend dazu ein absolut erhellendes Buch lesen möchte, dem sei Der Konsum der Romantik von Eva Illouz ans Herz gelegt.

Probiers mal mit Aristoteles

Nun aber zur Kernkritik an Platon: Wenn man die Verschmelzungstheorie weiterspinnt, ergibt sich daraus zwangsläufig, dass die Liebe aus einem Mangel heraus entsteht und der oder die Einzelne allein nicht genug ist. Die Liebe – bei Platon «eros» – ist also ein Sog zum anderen hin, ein unkontrollierbares Ziehen zur Perfektion, zur Ganzheit. In Zeiten der heutigen Achtsamkeit und Selbstliebe, der Emanzipation und Eigenständigkeit ist das nicht mehr tragbar. Zugutehalten muss man dem alten Platon aber noch, dass seine Geschichte ein uraltes Sinnbild für die Homosexualität ist: Es war ihm nämlich egal, welches Geschlecht die beiden Halbkugelmenschen hatten – in der Zusammensetzung zur Kugel galt ein lässiges «anything goes»!

Heisst aber nicht, dass die ganzen alten Griechen nicht mehr aktuell und lesenswert wären. Wenn man sich einen antiken Philosophen zu Gemüte führen möchte, der anders denkt, so kann man sich getrost mit Aristoteles beschäftigen. Er vertritt die These, dass eine gesunde Liebesbeziehung bzw. Freundschaft (er verwendet den Begriff «philia» – der sowohl als Freundschaftsliebe als auch als Liebesfreundschaft übersetzt werden kann, die Grenzen sind nicht klar definiert) darauf basiert, dass man sich in erster Linie selbst liebt. Dann klappts auch mit den Nachbarn!

Um der elendigen Verschmelzungstheorie zu entgehen, gibt es nun eine Gebrauchsanweisung. Vollkommen egal, ob du Single bist oder in einer Partnerschaft – sei allein und sei es gerne:

– Geh alleine ins Kino und danach noch auf einen Absacker in eine Bar. Denke über den Film nach.

– Mach einen langen Spaziergang. Ohne Hund. Ohne Handy. Ohne Hast und Eile.

– Sag deinen nächsten Termin beim Frisör, im Nagelstudio oder im Fitnessclub ab. Ersatzlos. You don’t need it!

– Geh in ein Café und lies eine Zeitung. Oder ein Buch. Zum Beispiel: Virginia Woolf – Ein Zimmer für sich allein. Sprich mit niemandem.

– Schlafe eine Nacht auf dem Sofa. Auf irgendeinem. Hauptsache alleine.

– Richte dir ein eigenes Zimmer ein. Egal wo. Sei es im Wandschrank.

– Besuche einen Menschen, den du seit Jahren nicht gesehen hast. Den ersten, der dir einfällt.

– Vergiss deine Angehörigen. Für mindestens eine Stunde. Gerne länger.

– Kauf dir Schnittblumen. Oder Champagner. Oder einen Diamantring. Nur für dich.

– Überleg dir, wie du ein erstes Date gestalten würdest. Mach das dann allein.

– Nimm dir einen Tag frei und verbringe ihn ohne Internet, Zeitungen und Bücher. Langweile dich.

– Mach eine Liste mit Dingen, die du noch nicht gemacht hast, weil dir ein vermeintlicher Partner fehlt oder weil deine Partnerin nicht mitmacht. Mach das dann, richtig: allein!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Impressum

Herausgeber:

 

Verein Saiten
Gutenbergstrasse 2
Postfach 2246
9001 St. Gallen

 

Telefon: +41 71 222 30 66

 

Hindernisfreier Zugang via St.Leonhardstrasse 40

 

Der Verein Saiten ist Mitglied des Verbands Medien mit Zukunft.

Redaktion

Corinne Riedener, David Gadze, Roman Hertler

redaktion@saiten.ch

 

Verlag/Anzeigen

Marc Jenny, Philip Stuber

verlag@saiten.ch

 

Anzeigentarife

siehe Mediadaten

 

Sekretariat

Isabella Zotti

sekretariat@saiten.ch

 

Kalender

Michael Felix Grieder

kalender@saiten.ch

 

Gestaltung

Data-Orbit (Nayla Baumgartner, Fabio Menet, Louis Vaucher),
Michel Egger
grafik@saiten.ch

 

Saiten unterstützen

 

Saiten steht seit über 25 Jahren für kritischen und unabhängigen Journalismus – unterstütze uns dabei.

 

Spenden auf das Postkonto IBAN:

CH87 0900 0000 9016 8856 1

 

Herzlichen Dank!