, 1. November 2021
3 Kommentare

«Drive fast, drink fast»

Michael Schläpfer verlässt nach 20 Jahren den St.Galler Velokurier und zieht nach Bern, um dort zu Kurieren. Im Interview erklärt er, was sein Job mit Goldfischen und Fussball zu tun hat.

Michael Schläpfer, 1978, ist in St.Gallen aufgewachsen. Nach 20 Jahren beim St.Galler Velo­kurier «Die Fliege» wechselt er auf Januar 2022 zum Berner Velokurier. (Bilder: Jurek Edel)

Saiten: Den ganzen Tag auf dem Velo – Traumjob oder doch eher Sommerjob?

Michael Schläpfer: Auf jeden Fall Traumjob. Der Herbst ist eine der schönsten Jahreszeiten. Und auch der Winter hat seinen Reiz. Die Landschaft ist anders und durch die Kälte wird man schneller wach morgens. Man gewöhnt sich an alles. Mühsam ist eher die Übergangszeit, weil man sich ständig an- und abziehen muss. Schwitzen ist gefährlich, Frieren ebenso. Die grosse Frage ist aber eigentlich immer: Regnet es oder nicht. Für den Wetterbericht muss man darum nur die Kuriere fragen.

Was gefällt dir so am Kurieren?

Das Freiheitsgefühl. Man fährt den ganzen Tag herum, hat seine Ohrwürmer im Kopf. Und die Challenge, möglichst schnell zu sein. Das alles führt zu einer erhöhten Endorphinausschüttung – es muss dich einfach glücklich machen.

Stimmt also das Klischee, dass alle Velokurier:innen Rampensauen sind?

Die Szene ist ja international ziemlich gut vernetzt. Und sie besteht schon aus, sagen wir, recht speziellen Leuten. Party machen können viele jedenfalls recht gut. «Drive fast, drink fast» ist das Motto. Auch das Klischee, dass wir ein relativ entspanntes Verhältnis zu den Verkehrsregeln haben, stimmt in vielen Fällen. Aber: Auch wenn man sich an die Regeln hält, passieren Unfälle. Viele Autofahrerinnen und Fussgänger sind heute extrem abgelenkt. Oft folgen sie blind ihrem Navi oder glotzen ins Handy. Früher hiess es «Hans guck in die Luft», heute ist es «Kevin guckt TikTok». Das wichtigste für uns ist, dass wir sicher durch den Verkehr kommen. Darum haben wir immer alle Augen und Ohren offen.

Gehören die anderen Verkehrsteilnehmer:innen zu den mühsamen Seiten des Jobs?

Ja, manchmal herrscht schon Wild-West-Atmosphäre. Eine Sekunde nicht aufpassen und schon ist etwas passiert. Ich habe einige Situationen erlebt, die richtig übel ausgegangen wären, hätte ich nicht aufgepasst. Crashs gibt es natürlich hin und wieder, aber da reden wir von Schürfwunden oder ein paar blauen Flecken. Seit ich beim Velokurier bin, hat es im Betrieb keine ernsthaften Verletzungen gegeben.

Was nervt dich sonst noch im Alltag?

Wenn Firmen Greenwashing betreiben. Ich finde es zwar cool, dass wir all diese Aufträge haben, aber wenn ich merke, dass jemand nur sein Image aufpolieren will und darum den Kurier bestellt, regt mich das auf.

Du arbeitest seit 20 Jahren als Velokurier. Wie hat sich die Branche in dieser Zeit verändert?

Die Digitalisierung hat einiges über den Haufen geworfen. Früher war die Datenübermittlung noch sehr langsam. Wenn zum Beispiel eine Grafikerin jemandem schnell einen Entwurf schicken musste, hat sie eine CD gebrannt und wir haben sie beim Kunden abge-liefert. Dann wurden die Computer schneller und uns fielen viele dieser Aufträge weg. Auf der anderen Seite hat die Digitalisierung auch vieles erleichtert. Heute bekommen wir unsere Aufträge direkt aufs Handy, die ganze Dispositionsplanung ist viel ein-facher, so können wir auch mehr abfertigen. Für uns als Betrieb ist die Technik darum Fluch und Segen zugleich.

Wie sieht die Zukunft der Branche aus?

Sendungen werden in Zukunft noch genauer getrackt werden – wie es heute bei der Post oder bei DPD-Lieferungen der Fall ist. Kunden können ihr Paket jederzeit verfolgen. Das wird auch bei uns kommen. Zudem wächst die Konkurrenz ständig. Die billigen Food-Kurier-Unternehmen haben in Deutschland ein Riesen-Desaster angerichtet. Die Schweizer Branche hat sich zum Glück dagegen gewappnet und einen Gesamtarbeitsvertrag mit Mindestlöhnen unterzeichnet. Darüber bin ich froh, obwohl die hiesigen Food-kuriere auch nicht die gleichen Sozialleistungen haben wie wir. Auch darum muss man diese Entwicklungen weiter im Auge behalten und die internationale Vernetzung und Community pflegen.

Vor 20 Jahren, als du bei der «Fliege» angefangen hast, hattest du nicht einmal einen Arbeitsvertrag. Wie bist du zu diesem Job gekommen?

Ich wurde quasi vom Gassenköter zur streunenden Katze. Damals war ich arbeitslos, obdachlos und pennte bei einem alten Kumpel. Er fand, dass Kurieren genau das Richtige sei für mich, also habe ich mich beworben. Im Januar 2002 konnte ich meine erste Probeschicht machen. In Jeans und Kapuzenpulli. Ich habe es trotzdem geliebt, seither bin ich Velomensch.

Jetzt hast du gekündigt und gehst nach Bern als Kurier. Warum?

Das Gute ist ja: Der Job ist überall gleich, man muss einfach velofahren. Ich wollte schon immer mal eine andere Stadt kennenlernen und auf dem Velo geht das am besten. Das letzte Jahr war etwas schwierig für mich, es war Zeit für einen Tapetenwechsel. Nicht reden, sondern machen. Und Bern gefällt mir von allen Städten am besten. Zudem ist der Kurier dort als Genossenschaft organisiert, das passt mir.

Zum Abschied: Was war deine schrägste Fracht ever?

Ein Sack mit lebendigen Goldfischen – die ich sogar eigenhändig aus dem Aquarium gefischt habe. Der Kunde wollte ein Männchen und ein Weibchen, aber der Typ in der Zoohandlung konnte die Tiere gar nicht voneinander unterscheiden, also habe ich einfach zwei mitgenommen. Im Medizinbereich gibt es auch immer schräge Sachen, aber das lassen wir lieber. Meine liebste Frachtgeschichte hat mit Fussball zu tun: Vor vielen Jahren spielte der FC St.Gallen an einem Samstag gegen Luzern. Die Luzerner hatten aber ihre Spielerpässe zuhause vergessen, also wurden sie per Zug nach St.Gallen geschickt. Ich sollte sie abholen und ins Espenmoos bringen. Denn ohne Spielerpässe hätten die St.Galler das Spiel forfait gewonnen. Ich musste mich wirklich zwingen, die Pässe nicht einfach in die Sitter zu schmeissen. Mein Stolz als Kurier war letztlich doch grösser als die Freude über einen geschenkten Sieg.

Der St.Galler Velokurier «Die Fliege» feiert 2021 seinen 30. Geburtstag – im kleinen Kreis. Heute werden etwa 14 Schichten mit 30 Leuten pro Tag gefahren, bei der Gründung waren es drei Schichten. Zu den Stammkund:innen gehören diverse Labors, Justiz­behörden, Grafik- und Architekturbüros und Bibliotheken im Kanton St.Gallen und den beiden Appenzell, aber auch Gemüse, Reisegepäck oder andere Privatsendungen werden transportiert.

velokurier.sg

3 Kommentare zu «Drive fast, drink fast»

  • Peter Honegger sagt:

    Das tolle für mich als „Rollstuhlmensch“ am St.Galler Velokurier «Die Fliege». Die Menschen, welche zu mir kommen, in die Wohnung, die mir immer helfen die Ware aus Transportbehältern zu befreien in dieselben dann, leer, auch wieder mitnehmen.
    Wie gesagt, Velokurier für mich die besten und auch noch bei JEDEM WETTER.
    DANKE Michael – stellvertretend für alle Velokuriere.

  • wj sagt:

    Viel Glück, du Stadtoriginal!

  • Don trailo sagt:

    Geschätzer schläpf
    Erinnere mich noch gut
    An deine Anfänge
    Für mich bist du der velokurier
    Die fliege schlechthin
    Du lebst mit Haut und Haar diese Kultur
    Mit Grüssen und Respekt Xxx

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