, 5. Oktober 2018
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Dumm gelaufen

Gesundheit ist etwas, das man viel zu wenig schätzt. Bis man plötzlich aus dem Tritt geworfen wird. Ein Beitrag aus unserem Oktoberheft.

Röntgenbild: Kantonsspital St.Gallen, 14. August 2018

Das erste Mal, als ich den Rollstuhl vor dem WC parkierte und versuchte, auf die Schüssel rüber zu kraxeln, habe ich vergessen, die Bremse anzuziehen. Fast wäre er weggerollt und ich auf dem feuchten Spital-Toilettenboden gelandet. Zum Glück habe ich einige Tage später meine zwei neuen besten Freunde bekommen: Harry und Kane, zwei silberblaue Krücken, die mir den aufrechten Gang und somit ein Stück Autonomie zurückgaben. Wobei ich die beiden genau genommen als Familienmitglieder bezeichnen muss, denn Freunde kann man sich für gewöhnlich aussuchen.

In diese Misere gekommen bin ich durch einen unsäglich dummen Fehltritt. Buchstäblich. Beim Treppenlaufen abgerutscht und mit dem linken Knie voll auf die Kante geknallt. Diagnose: mehrfragmentäre antero-mediale Tibiaplateufraktur samt ossärer Ansatzvulsion LCL. Oder auf Deutsch: mehrfach gebrochener Schienbeinkopf mit Bänderanriss auf der Aussenseite. «Damit ist nicht zu spassen, Frau Riedener», erklärte der behandelnde Arzt in der Notaufnahme. «Sie müssen sich darauf einstellen, die nächsten zwei bis drei Monate an Stöcken zu gehen.»

Zum Spassen aufgelegt war ich in diesem Moment ohnehin nicht. Die Röntgen- und MRI-Untersuchungen zuvor hatten das Schmerzlevel noch zusätzlich in die Höhe getrieben (acht von zehn auf der Skala), und als ich später auf der Krankenstation erfuhr, dass ich sicher nochmal drei Tage auf die Operation warten muss, verlor ich auch das letzte Bisschen Zuversicht. Draussen rumpelte ein Presslufthammer. Die Bauarbeiten rund um das Kantonsspital seien erst 2020 abgeschlossen, bemerkte eine Krankenschwester. Mein Knie wird hoffentlich nicht so lange brauchen, dachte ich.

Gesunde haben keine Ahnung

Da liege ich also, mit einer riesigen roten Klettschiene ums Bein, starre an die Decke und versuche mich auf die kommenden Wochen und Monate einzustellen. Wobei das eigentlich gelogen ist: Die ersten paar Tage verbringe ich vor allem damit, mir selber leidzutun und im Stundentakt loszuheulen. Ständig denke ich an all die Dinge, die nun ins Wasser fallen würden: das Festival in Biel, für das wir bereits im Januar die Karten gekauft hatten, die Ferien in Bratislava und Ljubljana, auf die wir uns schon seit Monaten gefreut hatten, und natürlich all die st.gallischen Events und Stelldicheins, die ich nun verpassen würde. Dazu kommen ein paar tendenziell irrationale Gedanken. Ich frage mich zum Beispiel, ob das nun Strafe war für die eine oder andere schlechte Tat in der Vergangenheit. Ob ich es hätte verhindern können. Und ob ich gut genug versichert bin, was natürlich völlig hanebüchen ist angesichts des schweizerischen Gesundheitssystems.

Mit der Zeit komme ich zu der Erkenntnis, dass Krankenschwestern (nebst meiner Mutter) mit zu den besten Menschen auf der Welt gehören müssen. Ohne sie – ihre Witze, ihre aufbauenden Worte, ihre Fürsorglichkeit – wäre ich wohl in diesem mentalen Loch versauert.

Als dann endlich der Tag der Operation kommt, bin ich fast schon sowas wie zuversichtlich. Aber nur, bis ich aus der Narkose erwache, mit einer Metallpatte und sieben Schrauben im zugetackerten Bein. Die Schmerzen sind definitiv nicht von dieser Welt, trotz ordentlich Morphium, dessen Flash ich übrigens nicht so erquicklich finde, wie manche Leute sagen. Mein Favorit ist Tramal. Selbständig auf die Toilette kann ich an diesem Abend noch nicht. Die Schwester hievt mich auf einen Nachttopf, mit der Drohung, dass ich einen Katheter bekomme, wenn es so nicht klappt. Das wirkt.

Am zweiten Tag nach der OP geht es dann endlich bergauf. Die Schmerzen werden langsam erträglich und dank Harry und Kane kann ich endlich auch wieder selbständig auf die Toilette und sogar ab und zu ins Raucher-Ghetto vor dem Haus 3. Ich habe zweimal Besuch von einer Physiotherapeutin, die mir das Treppensteigen mit Krücken beibringt, und einige Tage später erhalte ich eine bewegliche, auf mein Bein angepasste Schiene, die mir endgültig den Glauben zurückgibt, irgendwann wieder normal gehen zu können.

Als gesunder Mensch ist man ja wahnsinnig undankbar. Ich zumindest. Habe ich meinem Bewegungsapparat jemals dafür gedankt, dass er stets so zuverlässig und einwandfrei funktioniert (hat)? Leider nicht. Das war selbstverständlich. Habe ich mich jemals wirklich ernsthaft gefragt, was es bedeutet, handicapiert oder gebrechlich zu sein, nicht laufen zu können, keine Arme zu haben oder gelähmt zu sein? Ich fürchte nicht… Ich war zwar immer der Meinung, mich in eine betroffene Person hineinversetzen zu können, sie einigermassen zu verstehen, aber das war wohl eine Lüge, wenn auch eine gut gemeinte.

Ich habe keine Ahnung, wie das Leben im Rollstuhl ist. Wie es ist, auf andere angewiesen zu sein, alles planen zu müssen, auf gewisse Aktivitäten verzichten zu müssen. Ich habe auch jetzt keinen Schimmer davon, nur weil ich selber für eine Weile herumgerollt und jetzt bis auf weiteres an Krücken bin. Immerhin habe ich nun etwas Zeit, um Demut zu lernen.

Die Kunst des Busfahrens

Am achten Tag nach dem Eintritt werde ich aus dem Spital entlassen. Da unsere Wohnung in St.Gallen von Treppen umgeben und im obersten Stock ist, entscheide ich mich, für einige Wochen zu meiner Mutter nach Untereggen zu ziehen, arbeiten darf ich ja ohnehin nicht. Endlich aus dem Krankenhaus zu kommen ist grandios. Ich freue mich wie ein kleines Kind – bis ich in Untereggen ankomme. Mamman ist am Arbeiten und ich sitze auf dem Sofa und bin schon mit den alltäglichsten Dingen völlig überfordert. Wie soll ich in die Badewanne kommen? Wie den Kaffee transportieren? Wie meine Socken an- und ausziehen?

Keine Ahnung, ob es so etwas wie «Solidarität unter Handicapierten» gibt. In den nächsten Wochen erlebe ich zweierlei. Mir begegnen viele Leute auf Krücken, die mich aufmunternd anlachen oder mir spontan zuzwinkern. Überhaupt fallen mir ständig Leute mit Stöcken oder Geh-Problemen auf, überall, auch in Filmen und Büchern. Andererseits gibt es andere Gehbehinderte, die mir alles andere als freundlich gesinnt sind. Der ältere Herr mit Stock am Rorschacher Hafen zum Beispiel, der mich kurz mal über die Gleise bugsieren will, weil ich ihm angeblich zu langsam bin. Oder die alte Dame mit dem «Rollator 3000» im Postauto, die mich mit den Worten «gang wäg, do hock ich» vom Behinderten-Sitzplatz vertreibt, obwohl es neben mir noch einen freien Sitz gäbe.

Überhaupt, öV… Ich fahre ja nicht Auto, bin also seit jeher mit Bus und Bahn unterwegs. Gross Gedanken darüber habe ich mir nie gemacht – bis ich das erste Mal auf Krücken in die Physiotherapie nach St.Gallen muss. Was habe ich Muffensausen! Zehn Minuten zu früh stehe ich an der Haltestelle, weil ich nicht weiss, wieviel Zeit ich von der Haustür dorthin brauche, extra weit vorne, damit der Chauffeur gleich sieht, dass ich Stöcke habe und einen Moment brauche, um einzusteigen und mich zu setzen.

Alles läuft gut. Beim ersten und zweiten Mal. Beim dritten Mal fährt der gelbe Bus frecherweise los, als ich noch mitten im Eingangsbereich stehe. Zwei Haltestellen später kann ich mich endlich auf einen Sitz retten. Dasselbe passiert mir auch in einem der rot-weissen Busse in der Hauptstadt. Zweimal.

Jeder weiss noch eine Kniegeschichte

Das Einkaufen mit Krücken kann auch ziemlich unterhaltsam sein. Kürzlich stehe ich in einem der orangen Grossverteiler in der Hafenstadt und brauche einige Kleinigkeiten. Ich humple also durch die Regale und stopfe das Zeugs munter in meinen Rucksack – bis ich von einem irritierten Angestellten gefragt werde, ob ich immer so auffällig klaue. Wir lachen herzlich, dann bringt er mir von der Gemüseabteilung einen Plastiksack, mit dem ich meine Besorgungen ohne weiteren Verdacht zur Kasse transportieren kann. Sein Angebot, mir die Sachen zu tragen, lehne ich dankend ab.

Es hat mich einiges an Überwindung gekostet, Hilfe von anderen anzunehmen. Das war ein Lernprozess. Den Kaffee transportiere ich mittlerweile in einem Configlas, die Socken kann ich wieder alleine anziehen, aber bei vielen anderen Dingen bin ich auf Familie, Freunde und manchmal auch auf wildfremde Leute angewiesen. Das ist ein Scheissgefühl, aber im Moment nunmal eine Tatsache, mit der ich umgehen muss.

Es gibt nur eine Sache, die mir noch unangenehmer ist: die ständige Erklärerei, was passiert ist, und die damit verbundenen (pseudo-)medizinischen Gespräche. Das Mitleid, die Hundeblicke. Leute, die ich noch nie in meinem Leben gesehen habe, erzählen mir im Bus ihre Kniegeschichten. Oder die Geschichte ihrer Mutter, ihres Bruders oder sonst einer mir fremden Person. Lieb gemeint, aber auf die Dauer wirds mühsam. Ich sitze ja ständig rum und denke an mein Knie. Mein Hirn hat es inzwischen als Grossbaustelle abgespeichert, ähnlich wie das Kantonsspital eine Grossbaustelle ist. Ich werde noch etliche Stunden in der Physiotherapie verbringen, das Knie strecken und beugen, die Muskeln wieder aufbauen, in meinen Körper hineinfühlen. Wenn ich dann wieder unter Leuten bin, will ich etwas von deren Leben erfahren und mich nicht schon wieder über irgendein verdammtes Knie unterhalten.

Dieser Beitrag erschien im Oktoberheft von Saiten.

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