, , 28. Oktober 2020
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«Ein bisschen Endzeitstimmung»

Der Bundesrat hat entschieden: Veranstaltungen sind nur noch bis 50 Personen erlaubt. Knickt das die Kultur? Saiten fragt und stellt fest: Für einmal sind die Kleinen im Vorteil. Aber auch das Theater St.Gallen spielt weiter. Und bei den Chören rumort es.

(Bild: igkultur.at)

50 Personen maximal sind noch erlaubt bei öffentlichen Anlässen. Laien-Chöre dürfen weder proben noch singen. Tanzen wird schweizweit verboten. Das sind drei der Massnahmen, die der Bundesrat am Mittwoch beschlossen hat, die das Kulturleben direkt betreffen.

Allen voran die 50-Personen-Regel. Sie ist zwar kein Veranstaltungsverbot, wie dies etwa in Deutschland diskutiert wird, aber sie verhindert de facto viele Angebote im Kultur- und Unterhaltungsbereich. Kleinere Anlässe bleiben zwar möglich, aber was noch niemand weiss, ist: Kommt das Publikum auch weiterhin? Abgesehen davon, dass ein so reduzierter Betrieb finanziell kaum noch tragbar ist?

Es ist die Crux, einmal mehr: Ist ein Konzert, eine Ausstellung, eine Lesung schlecht oder gut für die Gesundheit? Schlecht vielleicht aus virologischer Perspektive, aber gut fürs individuelle und kollektive Wohlbefinden? Was nützt dem Einzelnen und der Gesellschaft mehr: Isolation oder Inspiration?

Die Zeichen, die der Bundesrat am Mittwoch gesetzt hat, stehen eindeutig auf Rot. Auf Distanz. Auf Stopp.

Und wie reagiert die Ostschweizer Kultur darauf? Mehrheitlich: unverdrossen.

Das Theater hält die Fahne hoch

500 Plätze fasst das eben eröffnete Provisorium von Konzert und Theater St.Gallen. Mit der neuen Regel dürfte nur gerade jeder zehnte Sitz besetzt sein. Am Samstag wäre im UM!BAU Premiere für Black Rider – und die findet tatsächlich statt. Am Mittwoch um 19 Uhr kommt die Medienmitteilung: Theater und Sinfonieorchester spielen weiter.

Für ihn sei das eine «Herzensangelegenheit», sagt Direktor Werner Signer am Telefon. Man habe viel diskutiert, ob Kultur systemrelevant sei oder nicht. Für ihn und für sein Leitungsteam sei das keine Frage. Und das Theater als Arbeitgeber habe auch Verantwortung gegenüber dem künstlerischen und technischen Personal: «Es ist entscheidend, dass die künstlerische Weiterentwicklung nicht gestoppt wird.»

Also spiele man im Provisorium und in der Lokremise für jeweils 50 Besucherinnen und Besucher. Diese Woche sind das die beiden Eroica-Konzerte des Orchesters, die Black-Rider-Premiere, Giulio Cesare sowie das Tanzstück Zendijwa in der Lokremise. Alle bisherigen Buchungen müssten storniert werden, bei den Neu-Reservationen hätten Personen mit Abonnements Priorität. Zudem wird das Konzert vom Donnerstag per Livestream übertragen.

«Es ist eine wahnsinnig traurige Geschichte», sagt Signer. «Aber wir wollen die Fahne hochhalten.»

Bereits ihre Türen geschlossen haben dagegen Häuser wie das Kugl und die Tankstell in St.Gallen oder der Gare de Lion in Wil. Die Nachtkultur schläft coronabedingt ein und versucht sich im Fall des Kugl mit Crowdfunding zu retten. Die Esse Musicbar in Winterthur hingegen hat entschieden, «weiterhin bzw. zumindest bis auf Weiteres offen zu halten und die vereinbarten Konzerte wie geplant stattfinden zu lassen».

Die Kellerbühne spielt

Immerhin: Die neue 50-Personen-Regel lässt kleinere Veranstaltungen weiterhin zu – unter Beachtung der weiteren Schutzmassnahmen, Maskenpflicht, Abstände etc. Das gilt zum Beispiel für die Kellerbühne St.Gallen:

«Ja, sicher werden wir weiterspielen», lautet die klare Ansage des künstlerischen Leiters Matthias Peter. Mit 50 Leuten sei das möglich – aktuell vergibt das Theater maximal 68 Plätze. Die Premiere von Peters eigenem Stück über Mozarts Theaterdichter Emanuel Schikaneder heute abend findet statt. Und die Vorpremieren des neuen Duos Riklin & Schaub vom 4. bis 7. November blieben auch im Programm wie geplant. «Sie spielen auf jeden Fall. Es ist nicht mehr lukrativ, aber sie wollen ihr neues Programm mit Publikum ausprobieren», sagt Matthias Peter.

Und er bekräftigt: «Die Kellerbühne gibt, solange es behördlich erlaubt ist, Künstlerinnen und Künstlern eine Bühne und damit auch einen – wenn auch nur kleinen – Verdienst.»

Kinok spielt Schachbrett

Sandra Meier vom Kinok St.Gallen ist froh, dass das Programmkino in der Lokremise weiterhin offen bleiben kann, trotz der verschärften Massnahmen. Ab Donnerstag gilt wieder die Schachbrettformation wie schon im Frühling: Nur jeder zweite Sitz ist besetzt, das Reservationssystem wird gerade wieder dahingehend angepasst.

«Für den Moment sind wir mit einem blauen Auge davongekommen», sagt sie. «Bis jetzt wurden noch keine Filmstarts verschoben und das Novemberprogramm geht morgen in Druck.» Ob das so bleibt, ist allerdings nicht sicher, denn die Kantone können die neuen Massnahmen jederzeit verschärfen, so auch St.Gallen. Am Freitag findet die nächste Medienkonferenz statt.

50 Leute – Das Glück der Kleinen? «So gesehen mag das zutreffen», sagt Meier, dennoch stuft sie die Situation für die Schweizer Kinos als bedenklich ein. Ebenso der Branchenverband Pro Cinema: Schon im Vorfeld, am 23. Oktober hatte er gewarnt, ein ausgedehnter Lockdown hätte «verheerende Folgen» für die Kinobetreiber. Ansteckungen seien bisher in den Kinos nicht passiert, in fünf Monaten sei kein einziger Fall dokumentiert. Die Schutzkonzepte funktionierten, und zudem sässen in den Kinos die Menschen hintereinander und führten «keine langen Diskussionen».

Palace wartet ab

Ob das St.Galler Palace weitermacht oder nicht, wird in den kommenden Tagen entschieden. Theoretisch könnte es, denn es ist programmatisch sehr breit aufgestellt, macht neben Konzerten auch Podiumsdiskussionen, Lesungen, Anlässe im kleinen Rahmen. «Wir verstehen uns nicht als klassischer Club», sagt der Co-Programmverantwortliche Fabian Mösch am Telefon. «Trotzdem kann ich zu diesem Zeitpunkt nicht sagen, wie und ob wir weitermachen. Den Kopf in den Sand stecken wollen wir (noch) nicht, wir warten ab, was die St.Galler Regierung am Freitag noch verkündet.»

Durchhalteparolen scheinen Mösch nach der heutigen Pressekonferenz des Bundesrats fehl am Platz, anders als nach dem von Regierungsrat und Gesundheitsdirektor Bruno Damann verhängten Tanzverbot vor zwei Wochen. Jetzt gerade herrscht im Palace «schon ein bisschen Endzeitstimmung.» Was auch mit der fehlenden Planungssicherheit zu tun hat, denn die neuen Massnahmen gelten auf unbestimmte Dauer: «Das tut weh, wir hängen total in der Luft», erklärt er. «Es ist absolut müssig, in so einer Situation die neue Saison zu planen.»

Die IG Kultur Ost führt am Donnerstag 29. Oktober um 13 Uhr ein Zoom-Forum zu den neuen Massnahmen durch. Dabei gehe es nicht um Beratung, vielmehr darum zu erkennen, wo es Klärungsbedarf gibt, und zu erfahren, wie Kulturinstitutionen und Betroffene mit den Regelungen umgehen, schreibt die IG Kultur Ost.

Der Link zum Forum hier.

Immerhin bleibt noch der Anlass heute: Manuel Stahlberger und Bit-Tuner taufen ihr erstes gemeinsames Album I däre Show. Normalerweise ein Erfolgsgarant mit sicher 300 Leuten. Mösch und das restliche Palace-Team haben den Abend vorausschauend schon Anfang Woche auf coronatauglich getrimmt: Stahlberger gibt zwei Vorstellungen, Doppelbelegung also, quasi wie in der Beiz, alle Gäste wurden vorab instruiert. Auch etliche Tische wurden rangeschafft, damit alle im Sitzen ihre Getränke konsumieren können. «Trotz allem», sagt Mösch, «fühlt es sich unheimlich komisch an.»

Grabenhalle macht sich Sorgen

Auch die Grabenhalle leidet unter der Planungsunsicherheit. «Dass die Massnahmen auf unbestimmte Zeit verschärft wurden, stellt uns vor grosse Herausforderungen für diese und auch die nächste Saison», sagt Bastian Lehner vom Grabenhalle-Kollektiv. «Wir können uns nur auf unsere eigene Einschätzung verlassen.» Wie auch beim Palace und anderen Kulturorten herrscht momentan Ratlosigkeit. Alle fragen sich: Was ist verantwortungsvoll, gesetzeskonform und auch finanziell tragbar?

Klarheit soll unter anderem die Pressekonferenz des Kantons am Freitag bringen. «Wir sind gespannt, was dann noch kommt», sagt auch Lehner. «Erst dann wissen wir, ob und wie es weitergeht in der Grabenhalle. Unter welchen Bedingungen wir unsere Inhalte weiter vermitteln können.» Unabhängig davon sei man aber seit Monaten sehr gefordert, und das in der ganzen Kulturbranche. «Viele wissen nicht, wie es weitergehen soll, und das macht uns Sorgen.»

Tanzplan hält durch

Der Tanzplan Ost ist vom 14. November bis 10. Dezember in acht Kantonen der Ostschweiz (AI, AR, GL, GR, SG, SH, TG, ZH) sowie im Fürstentum Liechtenstein unterwegs. Das alle zwei Jahre stattfindende Festival für zeitgenössischen Tanz bringt unter anderem Stücke des St.Galler Duos Juliette Uzor/Sebastian Ryser und der Thurgauer Künstlerin Micha Stuhlmann zur Aufführung. Und: Es soll trotz der 50-Personen-Regel stattfinden, sagt Projektleiterin Linda Zobrist.

Die kleineren Veranstaltungsorte seien dabei in einer besseren Lage – bei den grösseren Gastspielen in Zürich oder Winterthur sei das Festival auch von den jeweiligen Gastgeberhäusern abhängig. Der Auftakt in der St.Galler Lokremise soll trotz der Beschränkung der Publikumszahl ebenfalls stattfinden – das sei zwar schade, dass das Programm nicht mehr Personen gezeigt werden könne, aber andrerseits wichtig, trotzdem sichtbar zu sein.

Generell hofft Linda Zobrist, dass Kultur auch in kleinerem Ausmass trotz der Pandemie weiter stattfinden kann – wie und mit welchen auch finanziellen Auswirkungen für die Veranstaltenden und die Kunstschaffenden, diese Diskussion müsse jetzt stattfinden.

Aus mit Chorsingen

Und die Chöre? Der St.Galler Chorleiter und Kantonaldirigent Michael Schläpfer sagt auf Anfrage, man habe mit dem Verbot rechnen müssen. Die Aerosole seien als Problem bekannt – «das Singen ist mit Corona plötzlich zum gefährlichsten Hobby geworden». Doch hätten die Chöre und deren Dachverband, die Schweizer Chorvereinigung genaue Schutzkonzepte entwickelt, zum Teil mit Maske geprobt, und dabei auch gute Erfahrungen gemacht: Das Singen auf Distanz habe den Klang eindeutig verbessert, hat Schläpfer bei seinen Männer- und Frauenchören festgestellt.

Kommt hinzu, dass es in der Schweiz nur eine Handvoll Profichöre gebe – das Verbot betreffe also praktisch die ganze Chorszene.

Allerdings seien auch jüngere Chormitglieder verunsichert gewesen, ob Singen momentan noch sinnvoll sei. Diese Unsicherheit sei mit dem Bundesratsentscheid jetzt vom Tisch. Und Schläpfer, der sich als Historiker intensiv mit der Spanischen Grippe befasst hat, hätte sich auf der anderen Seite gewünscht, dass der Bundesrat weniger Rücksichten genommen und viel härter entschieden hätte. Jetzt treffe das Verbot Einzelne, insbesondere im Kultur- und Veranstaltungsbereich – die Geschichte zeige aber, dass nur radikale Massnahmen das Virus zum Stoppen bringen könnten.

Bei den Chören dürfte der Entscheid rumoren. «Das Unvorstellbare ist eingetroffen, die Schweizer Chorlandschaft erleidet ihren ganz eigenen Lockdown», schreibt der Verband Chorleitung Nordwestschweiz. Die Infektionsgefahr sei zwar nicht zu verharmlosen, doch habe es nur sehr wenige Ansteckungen gegeben. «Deshalb ist einer Stigmatisierung, die ein solches Chorverbot provoziert, entschieden entgegen zu treten. Die Verantwortlichen tun alles, um die Chorlandschaft betrieblich gleichermassen zu schützen wie die Gesundheit derzigtausenden Schweizer Chorbegeisterten. Zudem dürfen die positiven medizinischen Aspekte des Chorsingens – körperlich, mental und emotional – nicht ausgeblendet werden.»

Für die Chorleiterinnen und Chorleiter bedeute der Entscheid faktisch ein Berufsverbot – es gehe darum, diese Stellen zu sichern und Konkurse von Chören abzuwenden.

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