Ein Gedicht ist ein Gedicht, alles andere ist Wurst

Die Nummer 231 der Schweizer Literaturzeitschrift Orte widmet sich der Lyrik aus St.Gallen. Richard Butz entwirft mit grosser Geste einen Überblick von Notker Balbulus bis in die Jetztzeit und bringt einige schöne Erstveröffentlichungen.

Die Titelseite der neuen «Orte»-Ausgabe zur Lyrik aus St.Gallen. (Bild: pd) 

Das Är­ger­nis gleich vor­weg: Der Haupt­ti­tel Klos­ter-, Sti­cker-, Brat­wurst­stadt ruft al­le Kli­schees zu St.Gal­len auf, die man sich den­ken kann. So pla­ka­tiv wie ir­gend mög­lich. Na­tür­lich, er lehnt sich an Ni­klaus Mei­en­bergs Sua­da über sei­ne Hei­mat­stadt an, die im Heft auch ab­ge­druckt ist. Al­len an­de­ren St.Gal­ler Ly­ri­ker:in­nen sind die Würs­te Wurst, sie ha­ben Bes­se­res zu bie­ten – das be­legt die Aus­wahl im Heft. Auch die Sti­cke­rei taucht haupt­säch­lich in den Bü­cher­tipps von Al­bert Rutz auf, der sich in der Tex­til­bi­blio­thek um­ge­se­hen hat. Im­mer­hin setzt das Ti­tel­bild ei­nen Kon­tra­punkt mit ei­ner Nacht­auf­nah­me des Turms der Haupt­post. Rolf Zöl­lig hat fo­to­gra­fiert, sei­ne Schwarz-Weiss-Bil­der fol­gen ge­nau nicht den Kli­schees, son­dern fan­gen leicht zu Über­se­hen­des ein.

Vor­weg aber auch das Lob an die «Or­te»-Re­dak­ti­on. Die Zeit­schrift er­scheint fünf­mal jähr­lich und es gibt nur we­ni­ge Num­mern mit li­te­ra­ri­schen Städ­te­por­träts. Im letz­ten Jahr­zehnt wa­ren das ge­ra­de mal La-Chaux-de-Fonds und Ba­sel, jetzt al­so St.Gal­len. Ei­ge­ne Hef­te gab es be­reits zu Re­gi­na Ull­mann (2023), Fred Ku­rer (2022) und Hans Ru­dolf Hil­ty (2003). Ganz ge­ne­rell hat die Re­dak­ti­on, die tra­di­tio­nell schon im­mer in Zü­rich tagt, die Ost­schweiz auf ih­rer Li­te­ra­tur-Land­kar­te und the­ma­ti­sier­te auch schon Ap­pen­zel­ler Bei­zen oder den Bo­den­see. Das Er­be des Grün­ders Wer­ner Bucher scheint nach­zu­wir­ken.

Für das Heft Nr. 231 über St.Gal­ler Ly­rik hat «Or­te» mit Ri­chard Butz zu­sam­men­ge­ar­bei­tet. «Gast­mentor» nennt ihn die Re­dak­ti­ons­lei­te­rin An­ne­kat­rin Ranft-Reh­feldt im Edi­to­ri­al. Butz ist wohl wie kein an­de­rer zu die­sem The­ma be­ru­fen: Er war Mit­her­aus­ge­ber der Mo­ment­auf­nah­me Ly­rik in der Schreib­werk­Stadt St.Gal­len (1986), der No­is­ma-Hef­te mit den Mo­ment­auf­nah­men zur Ly­rik in der Ost­schweiz (1995 und 2004) so­wie der Ly­rik-An­tho­lo­gie Bäuch­lings auf Grün (2005), und er hat die neun Li­te­ra­tur­rund­gän­ge durch St.Gal­len er­ar­bei­tet, die 2021 un­ter dem Ti­tel Ich hät­te gros­se Lust auf ei­nen Spa­zier­gang ge­druckt er­schie­nen sind. Vom gros­sen Über­blick Butz’ zeu­gen nicht zu­letzt die kur­zen Bio­gra­fien der Au­torin­nen und Au­toren im An­hang des St.Gal­ler Schwer­punkts.

Streif­zug durch mehr als 1000 Jah­re

Ri­chard Butz hat sei­nen Über­blick zur Ly­rik aus St.Gal­len in zwei Tei­len auf vier plus zwei Sei­ten kom­pakt ge­hal­ten, um Platz frei­zu­spie­len für den Ab­druck von Ge­dich­ten. Im ers­ten Teil gibt er ei­nen Ab­riss über die Ge­schich­te von 930 bis heu­te, die beim Klos­ter und den schrei­ben­den Mön­chen be­ginnt und bis ins 20. Jahr­hun­dert führt. Er streift in al­ler Kür­ze ei­ni­ge Le­bens- und Werk­ge­schich­ten und wirft auch ei­nen Sei­ten­blick auf die Mund­art­ly­rik. Die Ge­dicht­aus­wahl legt dann ein be­son­de­res Au­gen­merk auf Au­torin­nen und Au­toren, die heu­te eher ver­ges­sen sind: Karl Schöl­ly, Ri­chard B. Mat­zig, Ju­lie Wei­den­mann und an­de­re. Ein Wer­muts­trop­fen ist, dass das En­gels­ge­bet von Not­ker Bal­bu­lus nur in ei­ner Über­tra­gung in heu­ti­ges Deutsch prä­sen­tiert wird, der es an ly­ri­scher Qua­li­tät, an Klang und Rhyth­mus man­gelt.

Der zwei­te Teil gilt dem li­te­ra­ri­schen Schaf­fen ab dem 20. Jahr­hun­dert, er streift zu­dem die einst viel­fäl­ti­ge ver­le­ge­ri­sche und pu­bli­zis­ti­sche Sze­ne in St.Gal­len und en­det beim ak­tu­el­len li­te­ra­ri­schen Le­ben mit Li­te­ra­tur­haus, Kan­tons­bi­blio­thek, Wort­laut etc. Im An­schluss sind hier ins­ge­samt 16 vor­wie­gend le­ben­de und eng mit St.Gal­len ver­bun­de­ne Ly­ri­ke­rin­nen und Ly­ri­ker zu le­sen, die je­weils auf min­des­tens ei­ner Sei­te mit meh­re­ren Ge­dich­ten ver­tre­ten sind. Die­se Aus­führ­lich­keit bei den Ori­gi­nal­tex­ten er­mög­licht ei­nen schö­nen Ein­blick. Die Aus­wahl reicht von Jo­seph Kopf bis Mo­ni­ka Schny­der, sie ist ins­ge­samt er­freu­lich weib­lich mit Stim­men wie Ur­su­la Rik­lin oder Clau­dia Vam­vas. Und sie weist mit Spa­ni­schem von Eri­ca En­ge­ler, Eng­li­schem von Jan Hel­ler Le­vi so­wie mit den welt­hal­ti­gen Tex­ten von Flo­ri­an Vetsch, Bri­git­te Schmid-Gug­ler oder Cle­mens Um­bricht weit über den ei­ge­nen Na­bel hin­aus.

Für die Rest­schweiz

Was Ri­chard Butz zu­sam­men­ge­stellt hat, ver­mit­telt ei­nen an­re­gen­den und le­sens­wer­ten Ein­druck des ly­ri­schen Schaf­fens in der Stadt St.Gal­len für die Rest­schweiz. Aus der St.Gal­ler In­nen­sicht gibt es na­tür­lich zu krit­teln: War­um kein Hin­weis auf Wer­ner Wun­der­lichs um­fas­sen­des, zwei­bän­di­ges Werk St.Gal­len. Ge­schich­te ei­ner li­te­ra­ri­schen Kul­tur (1999)? Wes­halb feh­len Chris­ti­an Mä­ger­le, Ger­trud Ma­cher, An­drea Graf, Ruth Erat …? Wie kann es sein, dass mit Kars­ten Red­mann der jüngs­te Ly­ri­ker Jahr­gang 1973 hat – schrei­ben U50 kei­ne Ge­dich­te? Trost­pflas­ter für die In­si­der: Auch die Alt­be­kann­ten ha­ben Neu­es zu bie­ten, vie­le der Tex­te sind Erst­ver­öf­fent­li­chun­gen und loh­nen die Lek­tü­re des Hefts. Ei­ne schö­ne Er­gän­zung sind so­dann die Er­in­ne­run­gen von Pe­ter K. Wehr­li an Io­nesco und des­sen Lie­be zu St.Gal­len. Den be­schau­li­chen Stadt­rund­gang auf­ge­mischt hät­te in­des ein Bei­trag aus der Spo­ken-Word-Sze­ne mit ein paar fet­ten Ly­rics – mei­net­we­gen als Ex­tra­wurst.


Klos­ter-, Sti­cker-, Brat­wurst­stadt: Ly­rik aus St.Gal­len. Or­te Ver­lag, Schwell­brunn 2025. 
Le­sung mit Ri­chard Butz (Mo­de­ra­ti­on), Na­tha­lie Hub­ler (Re­zi­ta­ti­on) und Char­lot­te We­ni­ger (Mu­sik): Frei­tag, 15. Au­gust, 18.30 Uhr,  im Kreuz­gang des Klos­ters St. Ka­tha­ri­nen, St.Gal­len.