Unscheinbar steht der Neubau am Waldrand. Doch auch der kurze Blick beim Vorbeifahren hinunter ins Sitterwerk lässt einen staunen. Ein Haus mit so vielen Fenstern! Und dieses gelbe Unterdach! Man überlegt: Was war da vorher? Die Antwort: Ein sehr ähnlich proportioniertes, einfaches Arbeiterhaus für die Beschäftigten in der damaligen Färberei.
Der Neubau steht auf städtischem Boden. Die Stiftung Hausen und Wohnen hatte den Vorgängerbau damals, 1992, zusammen mit dem Haus gegenüber, als erste Gebäude im Baurecht übernommen. Dies im Zusammenhang mit der Lancierung des 12-Millionen-Kredits der Stadt St.Gallen zur Erhaltung günstigen Wohnraums. Die Mieten für die Vierzimmerwohnungen mit Mini-Zimmerchen lagen bei ein paar hundert Franken. Schlecht isoliert und ohne Zentralheizung war hier wohnen zwar billig aber mit sehr wenig Komfort.
Diagonaldynamik
In den späten 2010er-Jahren diskutierte die Stiftung die Zukunft dieses Hauses. Weil der Vater des St.Galler Architekten Luca Romano einer der Stiftungsräte von Hausen und Wohnen ist, kam der Kontakt der Stiftung mit dem in Berlin studierenden Sohn Luca zustande. Die Stiftung fragte ihn, ob er prüfen könne, wie und ob da ein Ersatzneubau möglich wäre. «Das war eine kleine Studie, von einem Architekturauftrag war damals nicht die Rede», so der Architekt heute. Doch die Sache entwickelt sich. Hausen und Wohnen entschied, die Bewohner:innen mit in die Planung einzubeziehen. «Luca Romano und seine Partnerin Lisa Tiedje haben das hervorragend gemacht», erinnert sich Hugo Wehrli, der damalige Co-Geschäftsleiter von Hausen und Wohnen.
Das Haus früher... (Bild: pd/Studio Romano Tiedje)
... und heute.
Damit war die Vertrauensbasis gelegt und so wurde aus der Studie ein Architekturauftrag. «Heute hätten wir wohl die Renovation noch gründlicher geprüft, aber das Haus war in einem wirklich schlechten Zustand und teils schon nicht mehr bewohnbar», so Luca Romano zum Einwand, dass man mit Ersatzneubauten doch möglichst zurückhaltend sein sollte, denn jeder Abbruch vernichtet grossen Mengen an grauer Energie.
Der Neubau, 2024 fertiggestellt, gleicht dem Vorgänger, ist aber kein Klon. Zwar hat er so viele Fenster wie der Vorgänger und eben auch eine gelbe Dachuntersicht, ist aber klar als Neubau zu erkennen. Jetzt sind es nicht mehr drei, sondern vier Wohnungen mit schräg laufenden Wänden. Entstanden ist diese innere Diagonale aus Gründen der Erdbebensicherheit aber auch, weil so die Anforderungen an Menschen mit eingeschränkter Mobilität erfüllt werden können. «Und die Dynamik, die dadurch in den Räumen entsteht, hat uns einfach auch gefallen», so Luca Romano.
Nachhaltige Freude
Dank möglichst einfacher Konstruktion mit unverputzten Wänden und betonrohen Decken hat das Architekt:innen-Paar für nur 1,86 Mio. Franken einen Neubau mit vier Wohnungen erstellt. Das gelang auch, weil die beiden aus lauter Freude am Erstling sich noch etwas im «Studienmodus» fühlten und nicht all aufgewendeten Stunden verrechneten.
Innenansichten
Die Freude an der Sittertalstrasse ist nachhaltig. Nicht nur, weil zwei der schon im Altbau wohnenden Parteien jetzt im Neubau wohnen. Inzwischen hat das Architekt:innen-Paar Sack und Pack aus Berlin nach St. Gallen geholt, hierher, wo Luca Romano im Wolfgangquartier aufgewachsen ist. Die beiden wohnen und arbeiten jetzt nur ein paar Meter von ihrem Neubau entfernt, unten im Sittertal. Und sie arbeiten nicht nur an Architekturprojekten, sondern haben durch Lisa Tiedjes frühere Mitarbeit im Studio des Künstlers Olafur Eliasson Kontakte in die Kunstwelt – und damit in die Kunstgiesserei. St.Gallen ist für die beiden offensichtlich ein gutes Kulturpflaster: Wenn dann der Pool, der Raum für Kultur, für die kulturelle Zwischennutzung in St.Fiden grünes Licht bekommt, werden die beiden dort wieder als Planende anzutreffen sein.
Nochmals zurück zum Neubau an der Sittertalstrasse: Für die Jury des Nachwuchspreises – gestiftet von der St.Galler Immobilienentwicklerin Senn – hat das Haus eine «ausserordentliche Poesie». «Effizient organisiert, solide konstruiert und langfristig nutzbar», setze es die «eigenartige Schönheit des industrielandschaftlichen Kontextes präzis in Szene». Gelobt wird ein «Erstlingswerk von bemerkenswerter Reife und gestalterischer Souveränität.»