Beinahe täglich wird über das pelzige Raubtier, das sich einst durch Grimms Märchen frass und nun auch in der Ostschweiz für Furore sorgt, berichtet. Der Wolf polarisiert: in jeder Beiz, auf jedem Bauernhof, in vielen Wohnzimmern Schweizer Städte. Ihm wird die Schuld gegeben an den Einbussen der Bauernfamilien und steigendem (bürokratischem) Mehraufwand.
Was aber würde der Wolf sagen, könnte man ihn befragen? Könnte man ihn in einem fairen Prozess schuldig sprechen? Und: Wenn er nicht schuldig wäre, wie könnte man die Debatte beenden und ein Urteil fällen?
In einem fiktiven Gerichtssaal würde der Wolf vermutlich traurig auf seinem Stuhl sitzen und sich mit der Hinterpfote am linken Ohr kratzen. Eine Richterin würde verlesen, was ihm vorgeworfen wird (Mord in mehreren Fällen, Besitzes-störung und Hausfriedensbruch), während der Gerichtssaal vor lauter Zuschauenden aus allen Nähten platzen würde. Vermutlich würde das Gericht zu Beginn wissen wollen, weshalb der Wolf überhaupt in die Schweiz zurückgekehrt sei, obwohl ihm die Schweizer Bürger:innen in der ersten Hälfte des Jahrhunderts verdeutlicht hatten, sich fernzuhalten. Und vielleicht würde dann der Wolf in etwa so antworten: «Ich wandere von einem Gebiet ins nächste, euer Konzept mit den Landesgrenzen leuchtet mir nicht ein. Und um Landkarten mit mir herumzutragen, fehlt mir schlicht der Platz.»
Dann müsste ihn die Richterin fragen, ob er zu den Vorwürfen Stellung nehmen wolle – auch wenn er sich damit selbst belasten könnte. Worauf der Wolf, froh, endlich mal die Chance zu bekommen, antworten würde: «Natürlich, ich habe die Tiere gerissen. Weshalb? Ich hatte Hunger. Wie viele es waren? Ich habe nicht gezählt. Aber ich habe mich bloss den ausgelieferten Tieren angenommen – meine Taten sind daher eher jene eines Erziehers, eines Samariters, wenn Sie so wollen. Wenn Tiere ungeschützt rumstehen, nutze ich die Gelegenheit. Dann sind sie auch leichter zu fassen als die Rehe im Wald – wo ich natürlich das All-you-can-eat-Angebot sehr zu schätzen weiss. Nur Rehe zu futtern, ist zudem sehr einseitig, was die Nährstoffe angeht – gerade so kurz vor dem Winter. Im Zeitalter von Protein-Pulvern und Buddha-Bowls werden Sie das sicher alle verstehen.»
Die Richterin würde nachhaken: «Sie gestehen also?» «Ja, nein», würde der Wolf antworten: «Ich bin ein Raubtier und tue das, was ein Raubtier tut! Mich dessen anzuklagen ist gleichzusetzen mit der Ablehnung meiner Existenz – und für meinen Teil bin ich damit zufrieden und fühle mich deswegen nicht schuldig.» Ein berechtigter Einwand des Tiers. Doch für einen fairen Prozess würde die Richterin erst die Beweise sichten und Zeug:innen zu Wort kommen lassen.
Ein potenziell gefährdetes Tier auf der Abschussliste
In der Schweiz leben rund 320 Wölfe in etwa 26 Rudeln. Weitere 13 Rudel halten sich in den Grenzregionen auf, werden aber zum Schweizer Bestand gezählt. Etwa drei Rudel leben im Kanton St.Gallen: das Gamserrugg-, das Calanda 2- und das Schilt-Rudel. Ausserdem wurde kürzlich die Existenz eines Wolfspaars im Alpsteingebiet bestätigt und ein weiteres wurde im März im Gebiet Schaies in Appenzell vermutet. Zur selben Zeit beobachtete eine Familie in Nesslau drei Wölfe. Die besorgte Bäuerin und Mutter aus Nesslau schrieb daraufhin in der «Bauernzeitung» mit vielen Ausrufezeichen darüber, wie die Wölfe einfach so gemütlich mitten durch das Wohngebiet spaziert seien. Und fragte: «Was muss denn noch alles passieren?»

Die nachfolgenden Bilder hat Daria Frick im Spätsommer auf einer Alp in St.Gallen fotografiert.
Für Menschen bestehe kein Grund zur Sorge, sagt Simon Meier, Abteilungsleiter Jagd im Amt für Natur, Jagd und Fischerei des Kantons St.Gallen (ANJF). «Seit der Rückkehr der Wölfe gab es in der Schweiz keine Angriffe auf Menschen, auch weltweit sind solche Fälle selten.» Das kantonale Wolfsmanagement basiert derweil auf drei Säulen: Information, Herdenschutz und Regulation. Damit könnten viele Risse verhindert werden, sagt Meier. Zudem sei der Wolf auch für das Ökosystem wichtig. «Er hilft die Wildhuftiere zu regulieren, so gibt es weniger Verbiss an Jungbäumen und das hilft wiederum dem Wald.»
Beim WWF zeigt man sich erfreut über die Rückkehr der Raubtiere: «Durch die Jagd auf Beutetiere trägt der Wolf zur Gesundheit derer Bestände bei», erläutert Gabor von Bethlenfalvy. Er beschäftigt sich beim WWF Schweiz mit dem Zusammenleben von Menschen und Wölfen. Noch gilt hierzulande der Wolf als potenziell gefährdet. Gemäss WWF steigt der Bestand zwar, aber um diesen nachhaltig zu sichern, müssten in der Schweiz 40 Wolfsrudel leben. Bestand und Schutz des Raubtiers sind in der sogenannten Berner Konvention geregelt. Der völkerrechtliche Vertrag von 1979 soll die Erhaltung der wilden Tier- und Pflanzenarten sowie ihrer Lebensräume in Europa und einigen angrenzenden Staaten sicherstellen.
Allerdings wurde kürzlich die Verordnung zum Schweizer Jagdgesetz, das sich nach der Berner Konvention richtet, revidiert. Seit 1. Februar 2025 ist die neue Verordnung in Kraft: Neu ist demnach in der Schweiz ein Mindestbestand von zwölf Rudeln festgelegt. Ausserdem sind die Kriterien für die Abschüsse von Wölfen gelockert und die Kantone stärker in die Verantwortung genommen worden. Heisst: Der Kanton kann reaktiv regulieren, also einzeln lebende Wölfe nach einem unerwünschten Verhalten oder bei der Gefährdung von Menschen in Eigenregie zum Abschuss freigeben. Damit sind auch präventive Abschüsse einzelner Tiere möglich. Wenn allerdings ganze Rudel erlegt werden sollen – reaktiv oder präventiv – sei nach wie vor die Einwilligung des Bundes nötig, erläutert Simon Meier. Ausserdem müssen für die Subventionen im Herdenschutz sowie für die Entschädigungen bei Nutztierrissen neu vermehrt die Kantone aufkommen, die Gelder vom Bund wurden zurückgeschraubt, von 80 auf 50 Prozent der Kosten.
Die Revision wurde von Tierschutzvereinen und dem WWF stark kritisiert, der Mindestbestand sei willkürlich festgelegt und viel zu tief. Und: «Die neue Verordnung macht uns Sorgen, tendenziell kommt es zu mehr Abschüssen», sagt Gabor von Bethlenfalvy. Zumal die Effektivität der Abschüsse nicht nachgewiesen sei: «Es ist ein Trugschluss, dass mehr Abschüsse zu weniger Nutztierrissen führen.»
Drei Tiere im Jahr pro Wolfsmagen
Übers gesamte Jahr fallen in der Schweiz etwa 1000 Nutztiere dem Wolf zum Opfer. So die Zahlen von KORA, einer von den Kantonen getragenen Schweizer Stiftung, die im Auftrag von Bund und Kantonen Wildtiere wie den Wolf erforscht und überwacht. Das entspricht etwa drei Schafen oder Ziegen pro Wolf und Jahr. Im Kanton St.Gallen kam es in diesem Jahr bis Redaktionsschluss dieser Ausgabe zu 24 gemeldeten und vergüteten Nutztierrissen und 17 erfassten Wildtierrissen. Auch in den beiden Appenzell ist das Tier präsent, in Ausserrhoden kam es 2024 zu mehreren Rissen.


Der Schaden, der durch die Risse entsteht, ist schwer zu beziffern. Viele Bauernfamilien «empfinden ein Gefühl der Ohnmacht», schreibt der St.Galler Bauernverband auf Anfrage. «Zunehmende Sichtungen und Risse von Nutztieren sorgen für Verunsicherung und beschäftigen die Landwirtschaft sowohl emotional als auch betrieblich.»
Konsequenter Herdenschutz führt laut einer Studie der Hochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittelwissenschaften (HAFL) aus dem Jahr 2018 zu einem Mehraufwand von rund 9000 Franken jährlich pro Alp – ohne den Mehraufwand, der durch Bund und Kantone entschädigt wird (weitere 9000 Franken). Gabor von Bethlenfalvy vom WWF kann angesichts dieser Zahlen die Unzufriedenheit der Bauern verstehen, doch im Kontext seien die Entwicklungen positiv zu deuten: «Der Bestand der Schafe und Ziegen ist seit Jahren stabil, der Herdenschutz wird verbessert und die Nutztierrisse nehmen kontinuierlich ab. Dieser Trend hat bereits vor den präventiven Abschüssen eingesetzt.» Das bestätigen sowohl Daten der Stiftung KORA als auch jene der Gruppe Wolf Schweiz, die sich für das Zusammenleben mit einheimischen Raubtieren einsetzt: Dort spricht man von einer Zunahme der Anzahl Wölfe und einem Rückgang der Risse – deren Anzahl sank zwischen 2022 und 2023 um rund 25 Prozent. Gemäss einem im Juni veröffentlichten Bericht von KORA habe sich der Rückgang 2024 bestätigt und dürfte «gemäss den bisherigen Daten auch 2025 anhalten».
Folglich zentral, um Risse zu verhindern – und da sind sich Tierschutz- und Umweltschutz-Organisationen sowie das ANJF einig –, ist der Herdenschutz. Gegenteilige Behauptungen von Landwirt:innen seien oft auf marode oder falsch aufgestellte Zäune zurückzuführen sowie auf das (noch) fehlende Umdenken, das die Rückkehr der Wölfe erfordere, sagt Christina Steiner, Präsidentin von CHWOLF, einem Verein, der sich für den Schutz des Raubtiers einsetzt. «Während über 100 Jahren mussten sich die Landwirt:innen nicht um Zäune kümmern. Das ist jetzt natürlich ein Aufwand, sie müssen ihre Gewohnheiten ändern und Geld investieren.» Ein Blick auf die Zahlen in Appenzell Ausserrhoden zeigt, dass Herdenschutz tatsächlich einen Unterschied macht: So waren 2024 nur drei der gemeldeten 16 gerissenen Nutztiere durch Herdenschutzmassnahmen geschützt. Allerdings erweist sich der Herdenschutz mit Zäunen im Alpenraum aufgrund der Topografie oft als aufwändig.
«Im Herbst erklären sie uns, was wir falsch gemacht haben»
Mathias Rüesch ist Schafzüchter aus St.Margrethen. Seine rund 100 Schafe sömmern seit Jahren zusammen mit etwa 400 Artgenossen auf derselben Alp im Engadin, von Juni bis September. Im Kanton Graubünden gibt es nachweislich mehr Wölfe und auch mehr Risse als im Kanton St.Gallen oder den beiden Appenzell. Diesen Sommer hat Rüesch mehrere Tiere an einen Wolf verloren (und an einen Bären). «Wenn ich meine Tiere brutal zugerichtet zwischen den Felsen finde – falls ich sie überhaupt noch finde –, dann ist das nicht nur ein finanzieller Verlust, sondern auch ein enorm emotionaler.» Rüesch hat wenig Verständnis für die Natur- und Tierschutzvereine, die «Schreibtischtäter», die den Wolf verharmlosen und sich «ohne zu reflektieren» über seine Ausbreitung freuen. «Während des Sommers hört man nichts von den Vertreter:innen dieser Organisationen – und im Herbst, wenn die Alpen leer sind, kommen sie und erklären uns, was wir alles falsch gemacht haben, ohne sich ein Bild vor Ort gemacht zu haben.» Und das Bild kann grausam sein, werden die Tiere doch nicht selten zu Tode gehetzt oder sterben qualvoll an Verletzungen – für Rüesch unerträgliche Situationen.

Landwirt:innen werden für gerissene Tiere nur dann entschädigt, wenn sie für ausreichend Herdenschutz gesorgt haben. Und auch dieser wird nur vom Kanton gefördert, wenn im Vorfeld ein auf die Alp zugeschnittenes Herdenschutzkonzept eingereicht wurde. Bei Rissen wird der Schaden vom Wildhüter und der Fachstelle für Herdenschutz begutachtet und geprüft, ob das eingereichte Herdenschutzkonzept belegbar umgesetzt worden ist. Der Bund kompensiert dann die gerissenen Tiere zu 80 Prozent, für den Rest kommen die Kantone auf. Für Tiere, die vom Wolf gerissen wurden, aber nicht mehr auffindbar sind, bekommen die Landwirt:innen derweil keine Entschädigung. Das kommt laut Rüesch häufig vor.
Mit der neuen Verordnung werden sowohl die Herdenschutzkonzepte und deren Kontrollen als auch die Entschädigungen der Landwirt:innen bei einem Verlust sowie präventive Abschüsse vom Kanton selbst verantwortet. Christina Steiner sieht die Tatsache, dass diese Aufgaben nun unter demselben Dach erledigt werden, skeptisch: «Damit fehlt eine neutrale Instanz.»
Wettrüsten mit dem Wolf
Herdenschutz kann heissen: Hunde, Zäune, Bemannung. Auf der Alp, auf der Mathias Rüesch seine Tiere hielt – inzwischen sind sie zurück im Tal –, hatte der Alpmeister für alle drei Stufen gesorgt. Seine Mühen waren dennoch vergeblich. Der Wolf habe gelernt, sagt Rüesch. Nach wenigen Wochen, in denen er die Herde beobachtet hatte, habe es der Wolf geschafft, an den Hunden, dem Hirten und dem Zaun vorbeizuschleichen und seine Beute zu reissen. «Herdenschutz ist immer ein Wettrüsten mit dem Wolf.»
Dass der Wolf lernt, streiten weder der WWF noch CHWOLF ab. Abschüsse seien jedoch ungeeignet, um andere Wölfe abzuschrecken und von bestimmten Gebieten fernzuhalten, sagt Christina Steiner. Trotzdem wurden Anfang September zwei Jungwölfe, also zwei Drittel des St.Galler Schilt-Rudels, zum Abschuss freigegeben – auch damit «die verbleibenden Wölfe lernen, dass der Mensch eine Gefahr für sie bedeutet», heisst es in einer Medienmitteilung des Kantons.
In St.Gallen hat es diesen Sommer weniger Risse gegeben als im Vorjahr. Damals waren es laut Kanton rund 100, allerdings wurden sämtliche gemeldeten Nutztiere entschädigt und es wurde viel weniger Herdenschutz betrieben. Das bestätigt der St.Galler Herdenschutzbeauftragte Sven Baumgartner. Er ist zur Stelle, wenn ein Tier gerissen wird, unterstützt die Landwirt:innen aber auch beim Erstellen der Unterlagen, Planen der Massnahmen und bei der «Beschaffung der Finanzbeiträge» (heisst es auf der Website des Kantons). «Aber wenn der Wolf kommt und über den Zaun springt, dann nützt alles nichts. Das ist zermürbend.» Baumgartner, auch Präsident des St.Galler Vereins Ziegenfreunde, kann den Unmut der Landwirt:innen verstehen, denn der Aufwand für den Herdenschutz sei gross und die Kulanz bei Rissen niedrig. «Das Einschlagen der Zäune, das Betreuen der Hunde und das konstante Bewachen der Herde sind ein enormer Mehraufwand, dafür fehlt das Personal. Vor dem Auftauchen des Wolfs reichte eine Person aus, heute braucht es sicher zwei, dafür sind weder die Alpen noch die Betriebe ausgerüstet.»


Auch Landwirt und Schafzüchter Bruno Zähner, dessen 1200 Schafe und 150 Ziegen verteilt auf drei Herden auf einer St.Galler Alp sömmern, beschäftigt mittlerweile mehrere Hirten und kämpft so mit der fehlenden Infrastruktur auf der Alp. Denn die Behausungen sind meist auf lediglich eine oder zwei Personen ausgerichtet. Daneben schützt er seine Tiere mit elektrischen Zäunen und insgesamt neun Hunden. Er ist überzeugt, dass Herdenschutz zwar immens aufwändig sei, aber funktioniere. Zähner hat es sich zum Ziel gesetzt, den Wolf zu verstehen, zu lernen, wie dieser funktioniert. Damit kann er laufend seine Herdenschutzmassnahmen anpassen: «Es ist wie im Militär: Man muss seinen Feind kennen. Mit meinem Team versuche ich, dem Wolf immer einen Schritt voraus zu sein.» Zähner hat ein eigenes Kamerasystem aufgestellt, weiss, dass er und seine Truppe sich die Alp mit mindestens einem Wolf teilen. Doch seine Strategie scheint aufzugehen, in 13 Jahren kam es bloss zu zwei Rissen. «Natürlich könnte ich dem Wolf die Schuld dafür geben, letztendlich habe ich aber bei beiden Rissen Fehler gemacht.» Wenn der Wolf es schaffe, ein Tier zu reissen, dann weil die Herdenschutzmassnahmen ungenügend seien. «Klar, springt der Wolf gegen oder über einen Zaun, wenn dieser nicht geladen ist. Wenn er sich wehtut, lässt er es sein.»
Restriktives Wolfsmanagement
Wenn der Wolf ein Nutztier reisst, geht es gemäss den Bauernverbänden oft um finanzielle Verluste und damit um Existenzen. Zahlreiche Landwirt:innen, der St.Galler Bauernverband und einige (bürgerliche) Politiker:innen der Region fordern daher noch mehr «Regulation» im Wolfsmanagement und «restriktive Bedingungen».
Die Tiere, die Mathias Rüesch zuletzt an den Wolf verlor, waren wichtige Zuchttiere und damit Teil einer immer seltener werdenden, einheimischen Genetik, erklärt der Schafzüchter. Er plädiert für ein gezieltes Bestandsmanagement: «Bei anderen Wildtierarten wurde die Anzahl der Tiere auf den Lebensraum und die Gegebenheiten angepasst.» Das aktuelle Reglement bezüglich der Wölfe sei sehr anspruchsvoll in der Umsetzung: von der Beweispflicht im Herdenschutz bis zur Tatsache, dass die Wölfe oft bereits über alle Berge seien, bis deren DNS bestätigt sei, und man sie regulieren könnte, erklärt Rüesch. «Es geht mir nicht um Restriktionen, sondern um die Praxistauglichkeit im Vorgehen. Der Wolf muss wieder lernen, scheu zu bleiben und sich fernzuhalten von den Nutztieren und vom Menschen.»

Die Forderung nach einer Regulierung des Bestands hält der Landwirt und Schafzüchter Bruno Zähner für riskant: «Natürlich ist es wichtig, dass ein Wolf, der wiederholt Tiere reisst und alle Massnahmen umgeht, unbürokratisch erlegt werden kann. Aber es ist zentraler, dass die Landwirte beim Herdenschutz angemessen unterstützt werden – lieber 500 Wölfe, vor denen wir uns mit ausreichend Herdenschutz sichern können, als fünf, denen wir ausgeliefert sind.» Handlungsbedarf sieht Zähner vor allem auch in der Gesellschaft: «Herdenschutz beginnt zwischen den Ohren.» Denn im Winter leben die grossen und manchmal lauten Herdenschutzhunde unten im Tal und werden von den Nachbar:innen nicht akzeptiert, obschon es dieselben Personen sind, die sich für den Wolf einsetzen, erzählt Zähner. Auch der Herdenschutzbeauftragte Sven Baumgartner findet, dass im Tal dahingehend die Konsequenz oft fehlt: «Wer Ja zum Wolf sagt, muss auch Ja zum Herdenschutz sagen.» Heisst: Wer sich über den Wolf freut, muss sich auch mit bellenden Herdenschutzhunden – im Tal oder in Wandergebieten – abfinden.
Aber, Grossmutter, was hast du für ein entsetzlich grosses Maul!?
Auch Gabor von Bethlenfalvy vom WWF und Christina Steiner vom Verein CHWOLF sind überzeugt, es brauche ein Umdenken. Schon heute werde der Wolf positiver betrachtet als noch vor 100 Jahren, unter anderem auch weil sich die heutige Gesellschaft vermehrt mit ökologischen Fragen und Zusammenhängen auseinandersetze, so von Bethlenfalvy. Der ETH-Wissenschaftler und Wolf-Experte Nikolaus Heinzer hat in seiner Doktorarbeit die kulturwissenschaftliche Bedeutung des Raubtieres untersucht. Gemäss Heinzer steht der Wolf einerseits für menschliche Ängste und Abgründe und andererseits für dessen Sehnsüchte.
Dies lässt sich vielleicht mit einem Blick in die Märchen und Sagen erklären, in denen der Wolf immer wieder eine wichtige Rolle spielt. Man nehme Rotkäppchen oder Der Wolf und die sieben Geisslein. Hier verschafft sich ein als Mensch (oder als Geissleinmutter) verkleideter Wolf Zugang zu Häusern – Thema: Misstrauen, fremde Eindringlinge. Der Wolf verstellt sich, tut so, als wäre er ein Freund oder eine Bekannte, schleicht sich ein und verschlingt kleine, unschuldige (Tier-)Kinder. Er ist böse. Auch in der Welt der Fabeln und in griechischen Sagen fällt der Wolf auf: gefährlich und nimmersatt.
Heinzer zitiert in seiner Studie eine weitere Publizistin, Petra Ahne, die erklärt, dass die gesellschaftliche und kulturelle Deutung des Wolfes einst durch Kriege verstärkt worden sei. So machten sich während des Dreissigjährigen Krieges immer wieder Wölfe an den menschlichen Kadavern zu schaffen. Allerdings habe sich das Bild des Wolfes im Laufe der Zeit geändert, schreibt Heinzer. Heute stehe der Wolf auch für eine spirituelle Verbindung des Menschen zur Natur, für Wildnis und Sehnsucht. Man könnte sagen, er sei positiver konnotiert als früher. Ob sich das Bild vom Wolf in der Gesellschaft weiterhin positiv entwickelt oder ob der Geduldsfaden der Landwirt:innen nicht eher reisst, ist fraglich.
Der Wolf als Mittel zum Zweck – und Sündenbock
Offensichtlich ist die Emotionalität der Debatte. Eine Debatte, an der längst nicht mehr nur Landwirt:innen und Tierschutzvereine teilnehmen, sondern auch die Bevölkerung, Umweltschutzvereine, Jäger:innen, Förster:innen, Verbände, Ämter und Parteien. Es scheint, als würden entlang der Diskussion um das pelzige Raubtier ganz andere, ideologisch aufgeladene Themen seziert. Der Wolf ist Mittel zum Zweck. Nikolaus Heinzer stellt in seiner Arbeit fest: «Die hohe Emotionalität der Debatten lese ich als Hinweis darauf, dass im Rahmen der Auseinandersetzungen über Wölfe tieferliegende gesellschaftliche Konflikte verhandelt werden.»


Zwar wird in diversen Artikeln und Berichten der Wolf für alles Leid auf der Alp verantwortlich gemacht, inklusive Lungenentzündungen bei Schafen, doch geht es längst nicht mehr um das Tier. Heute steht die Wolfsdebatte vielmehr für den Zwist zwischen Stadt und Land, zwischen denen, die «anpacken», und den «Schreibtischtäter:innen». Es geht um Traditionen, Kulturgüter und Identität, besonders in der Ostschweiz, wo der Alpaufzug immaterielles Kulturerbe ist. Es geht um Natur, Nutzflächen und Wirtschaft. Und damit um Profit. Darum, wer landwirtschaftliche Flächen wie nutzen darf. So schreibt der Bauernverband des Kantons St.Gallen: «Der Schutz der Nutztiere und die Sicherung der traditionellen Alp- und Weidewirtschaft müssen im Zentrum stehen.» Die Aussage steht der Ideologie des Wolfschutzvereins CHWOLF diametral entgegen: «Wir sollten wieder lernen, den Wolf als Teil der natürlichen Umwelt zu akzeptieren, und ihm seinen ursprünglichen Lebensraum zugestehen.»
Was wäre, wenn man die Flächen aufteilen würde? Vielleicht könnten für die Nutztiere woanders ähnlich nährstoffreiche Wiesen geschaffen werden wie auf der Alp – damit man einzelne Gebiete den Wölfen überlassen könnte, natürlich reguliert. Schafzüchter Mathias Rüesch findet, das käme einer faktischen Enteignung gleich, und hält den Vorschlag für nicht zu Ende gedacht: Wölfe folgten ihrer Beute und ihren Instinkten, sie seien Opportunisten bei der Nahrungssuche.
Mit der neuen Verordnung geht man zwar auf die Rufe nach mehr Regulation ein, doch vielleicht müsste man anstelle der Jagdverordnung die Beiträge an die Landwirt:innen im Bereich Herdenschutz ausbauen. Während beispielsweise der Verein CHWOLF oder auch Landwirte wie Bruno Zähner solche Vorstösse begrüssen würden, hält dies der St.Galler Bauernverband nicht für zielführend. Der Herdenschutz bringe «Unruhe in den Alpenraum» und sei sehr zeitaufwändig – Zeit, für die auch das Personal fehle, besonders bei schlechtem Wetter. Längerfristig helfe nur die Regulation des Wolfsbestandes auf ein «erträgliches Mass».
Nicht minder düster sieht es für das Tier europaweit aus. Kaum regieren in Deutschland CDU und CSU wieder mit, steht im Koalitionsvertrag neben dem Auftrag, die Ost- und die Nordsee zur Schutzzone zu erklären, dass ebenso der Bayrische Alpenraum geschützt werden müsse. Dafür soll der Schutzstatus des Wolfes abgestuft und das Jagdgesetz gelockert werden. Ob der Bayrische Alpenraum per se genauso viel zur Biodiversität beiträgt und ebenso vom Klimawandel bedroht wird wie die Meere, darüber lässt sich vermutlich streiten, ansonsten haben die beiden wohl nicht viel gemein. Aber eben: Es geht um mehr.
(K)Ein Urteil im Sachverhalt Wolf
Damit wäre die Beweisaufnahme abgeschlossen. Der Angeklagte würde wohl eher müde auf seine von der Bank baumelnden Pfoten starren. Viele wütende und einige besorgte Gesichter würden in seine Richtung blicken. Er würde kein Schlusswort mehr jaulen mögen. Und doch, nach all den gehörten Zeug:innen und gesichteten Beweisen, bliebe der Richterin nur eine logische Möglichkeit zu urteilen: unschuldig. Denn als Raubtier hat der Wolf keine andere Wahl, als seinen akuten Bedürfnissen nachzugehen. Der Mensch hingegen hat eine. Er kann planen und sich schützen, organisieren und entscheiden. Er besitzt die Magie, mit Geld Dinge möglich zu machen. Er könnte über das Instrument Politik die Natur schützen und gleichzeitig die Agrarwirtschaft fördern. Doch das ist ein anderes Verfahren, das mit dem Raubtier nichts zu tun hat, und ein Urteil, das wohl weiterhin hängig ist.