, 3. Mai 2016
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Ein WEF für den Klang – und die Stille

So zufällig das Nein des St.Galler Kantonsrats zum Klanghaus im Toggenburg am 1. März zustande gekommen ist: Dahinter steckte auch Ungewissheit, was ein Klanghaus überhaupt ist. Musiker Peter Roth über seine Visionen.

Ein «da capo» für das Klanghaus (Bild: klangwelt.ch)

«Jodlerschuppen» oder «elitäre Kiste»? Werkstatt oder Konzertsaal? Für alle oder für ein paar Auserwählte? Das Klanghaus im Toggenburg ist auch nach rund 20-jähriger Planungsgeschichte noch immer für viele ein Ufo, das am Schwendisee ob Wildhaus dereinst landen soll. Viele Fragen bleiben offen; das hat sich nicht nur bei der Schlussabstimmung im Parlament gezeigt, bei der das qualifizierte Mehr knapp verpasst wurde, sondern auch an der Klanghaus-Debatte danach, Mitte März im St.Galler Palace.

Peter Roth, der Erfinder der Klanghaus-Idee, kennt die Einwände bestens, die finanziellen wie die inhaltlichen. Zu letzteren gehört die Ansicht, das Klanghaus sei ein rein volksmusikalisches Projekt. Ist es das?

«Einerseits: Ja. Das geplante Klanghaus bildet mit Klangwelt, Schellenschmiede und Naturstimmenfestival eine Einheit, gewachsen aus der naturtönigen musikalischen Tradition der Region rund um den Säntis. Das Klanghaus gehört deshalb hier und nirgendwo sonst hin.» Andrerseits sei Klang aber ein urmenschliches Thema, das alle Musik mit einbezieht, von Jodel bis Jimi Hendrix, vom Toggenburg bis Tibet. Und das auf vielen Ebenen anklingt; es ist Peter Roths Lebensthema, quer durch Musiktheorie und -geschichte, Physik, Kultur, Religion und Philosophie.

Obertöne: Physik mit Hühnerhaut

Klang? Das ist das, was über Melodie, Harmonien und Rhythmus hinaus in jeder Musik steckt – und gemeinhin einem Instrument oder der Stimme als «Klangfarbe» zugeordnet wird. Hinter dieser «Farbe» steckt kein Geheimnis, sondern Physik: die unterschiedliche Zusammensetzung einer Schwingung aus Oberund Untertönen.

Die Obertonreihe ist universell; eine Zäsur mit weitreichenden Folgen zumindest für die europäische Musikgeschichte war allerdings das Jahr 1708, in dem der deutsche Orgelbauer Andreas Werckmeister die temperierte Stimmung für Tasteninstrumente erfand. Seither existieren gleichsam zwei Musikwelten, die naturtönige und die temperierte. Mit Werckmeister wurden Kompositionen quer durch alle Harmonien möglich. Eine grandiose Entwicklung, sagt Peter Roth – wenn auch um den Preis der reinen Akkorde.

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Das Klanghaus in einer Visualisierung (Bild: klangwelt.ch)

Naturtöne «hört» man, auch wenn man nichts davon weiss: Beim Singen klingen sie mit, bei obertonreichen Instrumenten wie Schellen, Gongs, Didgeridoo, Naturhorn, Hackbrett und anderen Saiteninstrumenten, sie werden aber auch elektronisch produziert. Das «falsche» Alphorn-Fa, das «Zigeuner-Moll» oder die Blue Note des Jazz entstammen der Obertonreihe.

Kein Zufall also, dass es eine weltumspannende Klangsprache mit verwandten Eigenschaften gibt, sagt Peter Roth – kein Zufall daher, dass ein Zäuerli aus dem Alpstein oder ein Jodel aus dem Muotathal dem Gesang der Pygmäen aus Zentralafrika oder dem «Joik» aus Lappland näher sind als einem Kunst-Jodellied. Das Naturstimmen-Festival macht solche Bezüge Jahr für Jahr hörbar, dieses Jahr mit Stimmen aus Finnland, Ukraine, Mongolei, Kongo, Zimbabwe, Italien, Spanien, Rumänien, Guinea, Taiwan, Türkei, Tibet, Serbien, Schweden, Deutschland, der Schweiz – und dem Toggenburg und dem Appenzellerland.

Vielen Kulturen gemeinsam ist, dass solche Klänge in rituellen Zusammenhängen verwendet werden. Peter Roth spricht von den «rites de passage», den Feiern des Übergangs, von der Alpauffahrt bis zur «Wandlung» in der Messe oder anderen Initiationen, bei denen das Geschehen mit Naturton-Klang, mit Schellen, Gongs oder Trommeln begleitet und befördert wird. Von solchen spirituellen Trans-Porten ist es nicht mehr weit bis zur Trance und zur Transzendenz. Oder bescheidener gesagt: bis zu Hühnerhaut-Momenten.

Zusammenbringen statt trennen

Im grossen Thema des Klangs kommen für Peter Roth musikalische, völkerverbindend kulturelle, spirituelle, naturwissenschaftliche Erfahrungen zusammen. Darin stecke Zündstoff «in einer Zeit, die die Tendenz hat, die Dinge zu trennen». Und darin stecke die Hoffnung auf ein künftiges «Integralbewusstsein», wie er es mit einem Begriff des Philosophen Jean Gebser nennt. Kein Wunder, hat Gebser das Ohr als Organ hervorgehoben, das integrierend statt, wie das Auge, objektivierend funktioniere.

Also: Ohren auf! Das erhoffte Klanghaus am Schwendisee, gebaut als «begehbares Instrument», ist für Peter Roth ein Ort der offenen Ohren, aber auch der Stille – und der offenen Grenzen, zwischen Disziplinen und Kulturen.

Naturstimmen 2016:
 3. bis 16. Mai, Alt St.Johann
Infos: klangwelt.ch

Das im Mai stattfindende Naturstimmen-Festival ist gelebte Interkultur, nicht zufällig heisst sein Motto «Klang und Toleranz». Und dies im Toggenburg, das sonst gern SVP wählt; für Peter Roth ist das ein starkes Zeichen. «Wenn Davos sein WEF für die Wirtschaft hat, warum das Obertoggenburg nicht ein WEF für den Klang?» Es wäre ganzjährig, solidarisch, harmonisch – und bräuchte mit Sicherheit keinen Polizeischutz.

Dieser Beitrag erschien im Maiheft von Saiten.

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