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Eine Ära geht zu Ende – und doch nicht ganz
Der St.Galler Konzertveranstalter und Kulturvermittler Richard Butz hat seine Reihe «Kleinaberfein» eingestellt. Damit endet eine Ära. Doch ganz zurückziehen will er sich noch nicht.
Die St.Galler Jazzszene ist um eine Institution ärmer: «Kleinaberfein», die Reihe des St.Galler Konzertveranstalters und Kulturvermittlers Richard Butz, ist kürzlich zu Ende gegangen. Seit 2013 veranstaltete Butz in einem Raum der Diözesanen Kirchenmusikschule St.Gallen hauptsächlich Jazz- und World-Music-Konzerte, aber auch Appenzeller oder nordindische klassische Musik – in kleinem Rahmen, grösstenteils akustisch, immer die Musik und deren unmittelbares Erleben im Zentrum. «Ein Kontrapunkt zu den Mainstream-Veranstaltungen», wie er selbst sagt. Nach über zehn Jahren und rund 160 Konzerten an 124 Sonntagen ist nun aber Schluss.
Mit dem Ende von «Kleinaberfein» (angelehnt an den Buchtitel Small is beautiful des deutsch-britischen Ökonomen Ernst Friedrich Schumacher) endet gewissermassen eine Ära. Denn man könnte aber auch sagen: Butz, ein gelernter Buchhändler, hat weit über 500 Konzerte in St.Gallen organisiert – und fast sein ganzes Leben der Kultur gewidmet.
Die ganze Welt nach St.Gallen geholt
1960 hatte Butz, noch nicht einmal volljährig, den Jazzclub St.Gallen mitbegründet und brachte Musiker:innen wie Irène Schweizer, Pierre Favre, Abdullah Ibrahim oder Curtis Jones nach St.Gallen. Später war er Leiter der Rösslitor-Buchhandlung und schrieb als freischaffender Journalist über Musik – anfangs hauptsächlich für «Die Ostschweiz», später auch fürs «Tagblatt» und bis heute regelmässig für Saiten. Ausserdem war er Mitbegründer der Jazzschule St.Gallen und rief die Reihe «Kultur im Bahnhof» mit verschiedenen Anlässen im St.Galler Bahnhofgebäude ins Leben.
Jahrzehntelang organisierte Butz an all den verschiedenen Institutionen und anderen Orten Konzerte, aber auch Kunstaustellungen oder Lesungen. Er, dem es in St.Gallen schon früh zu eng wurde, der wegzog und dann doch zurückkehrte – und in der Folge die ganze Welt nach St.Gallen holte.
Doch jetzt, sagt Richard Butz, sei für ihn der Moment gekommen, etwas kürzer zu treten. In etwas mehr als einem Monat wird er 81 Jahre alt. «Ich habe von Anfang an gesagt, ich mache ‹Kleinaberfein› zehn Jahre lang, dann überdenke ich es.» Die Coronapandemie habe vieles schwieriger gemacht, sei es beim Buchen der Künstler:innen oder bei der Bereitschaft des Publikums, die Konzerte zu besuchen. «Ganz ein saurer Punkt diesbezüglich sind für mich die Musiker:innen aus der Region. Sie kommen mit wenigen Ausnahmen an keine Konzerte, ausser sie spielen selber.»
Jazz als Widerstandmusik
Zum Jazz kam Richard Butz während der Schulzeit an der «Flade». Er, der schon immer ein Unangepasster war, sei zu einer Zeit aufgewachsen, als es keine Jugendkultur gab, sondern nur den Turnverein oder die Blasmusik, erzählt er. «Mit 16 habe ich angefangen, Jazz zu hören, weil das damals als antibürgerlich galt.» Otmar Mäder, der spätere St.Galler Bischof (1976–1994), sei damals Vikar gewesen. «Er sagte, Jazz sei wahrscheinlich etwas gefährlich, er sei nicht gemeinschaftsfördernd. Von dem Moment an war das meine Musik – ich war schon ein bisschen rebellisch.»
Mit ein paar Freunden gründete Butz eine «Hörgruppe»: Sie kauften gemeinsam Platten und trafen sich dann in einer Garage zu Listening Sessions. «Jazz war für uns eine Widerstandsmusik. Man war suspekt in der Gesellschaft.»
Gegen die Eltern habe sich der Widerstand nicht gerichtet, betont Butz. «Ich hatte eine sehr glückliche Kindheit und Jugend und musste mich nicht gegen meine Eltern auflehnen.» Sein Vater, stellvertretender Kommandant der Kantonspolizei, habe ihm immer gesagt: «Du musst selber wissen, was du tust.» Auch seine Mutter sei sehr liberal gewesen. «Ich aber ich war sehr früh schon links. Ich habe schon mit 18, 19 als junger Buchhändler eine Veranstaltung zur Haltung der Schweiz während der Zeit des Nationalsozialismus organisiert. Ein ‹Veteran› verpasste mir dort eine Ohrfeige, ich junger Schnösel wisse ja gar nichts davon.»
Nächtliches Radiohören statt Kanti-Karriere
Auch zu Hause hörte der Teenager viel Jazz, mochte aber auch Rock-‘n’-Roll-Grössen wie Bill Haley und Elvis Presley. «Ich baute Spezialantennen für mein Radio, um Sender aus der ganzen Welt empfangen zu können.»
Besonders angetan hatten es ihm der amerikanische Soldatensender «American Forces Network», der unter anderem aus München sendete, und eine Jazzsendung mit Willis Conover auf «Voice of America», die täglich erst um 23 Uhr begann und bis etwa 1 Uhr morgens dauerte. «Ich habe sie regelmässig gehört, was unter anderem zur Folge hatte, dass meine Schulleistungen so schlecht wurden, dass ich nicht an die Kanti gehen konnte», erzählt er.
Während das Radio für den Teenager das Fenster zur Welt war, bekam er in St.Gallen die christlich-konservativen Kräfte zu spüren. «In der Flade wurden wir aufgeboten, um bei einem Konzert von Peter Kraus in St.Gallen zu demonstrieren. Wir mussten auch sogenannte Schundhefte einsammeln und gegen SJW-Hefte einzutauschen, etwa ‹Sie und Er› [heute «Schweizer Illustrierte», Anm: d. Red.], weil es darin Bilder von Frauen mit tiefen Dekolletees gab», erzählt Butz. Manche «sündige Zeitschrift» behielten die Schüler allerdings lieber selbst.
Raus aus der Kleingeistigkeit
Die Gallusstadt wurde dem weltoffenen Jugendlichen schon bald zu engstirnig, zu kleingeistig. Deshalb verliess er sie mit Anfang 20 ein erstes Mal in Richtung London. Zwar kehrte er kurze Zeit später wegen seiner Hochzeit nochmal zurück und arbeitete in der Fehr’schen Buchhandlung, doch als ihm dort eine «Lebensstelle» angeboten wurde, kündigte er und zog er mit seiner Frau erneut nach London. «Ich ging mit dem Ziel, zu emigrieren. Für immer.»
In der britischen Metropole saugte er den Jazz regelrecht auf, sah Miles Davis und Ornette Coleman. Aber auch in die Rockmusik tauchte er ein, besuchte Konzerte von Eric Clapton, The Who oder den legendären Auftritt von Bob Dylan am Isle of Wight Festival (1969). «Das hat mich geprägt», sagt er.
Diese Zeit schärfte auch sein Weltbild. In London verkehrte Butz, der sich selbst heute als «pazifistischer Anarchist» bezeichnet, in anarchistischen Gruppen und nahm an Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg – «ich lief drei Reihen hinter Rudi Dutschke auf die amerikanische Botschaft zu» – oder gegen die Apartheid teil. «Das war meine Welt.»
Eine Wunde, die nie ganz verheilt ist
1968 zog Richard Butz mit seiner Frau nach Sierra Leone, um in der Hauptstadt Freetown eine Universitätsbuchhandlung aufzubauen. Dort lernte er die afrikanische Musik und Weltmusik zu lieben. Er organisierte Konzerte, Kunstausstellungen, Lesungen etc. Doch nach fünf Jahren – und kurz nach der Geburt des ersten Kindes – wurde seine Frau schwer krank. So kehrte das Paar in die Schweiz zurück. «Sie war ein Jahr lang in Spitalpflege, während ich mich um unser zwei-dreijähriges Kind kümmerte und arbeitete.»
Die Träume von einem Leben in Afrika, dem Kontinent, für den er bis heute so viel Liebe empfindet – sie verflogen. Die Gesundheit seiner Frau liess es nicht zu, in ein tropisches Land zurückzukehren. «Also musste ich mich hier arrangieren», sagt Butz. «Ich ging zuerst fünf Jahre ins Exil nach Degersheim, ein Dorf, wo mich niemand kannte. Erst dann war ich wieder bereit, in St.Gallen auch kulturell etwas zu machen.» Doch die Wunde Afrika sei nie ganz verheilt.
Auch China oder Paris hätten ihn gereizt. Doch das Leben habe sich eben anders entwickelt, deshalb sei das auch später kein Thema mehr gewesen. Seine Ehe wurde geschieden, seit 40 Jahren ist er mit der Autorin Christine Fischer zusammen. «Und St.Gallen hat sich aufgehellt», sagt Butz. In den 80-ern entstanden das Autonome Jugendzentrum, die Grabenhalle und zunehmend auch ein Netzwerk, in dem er sich wohlfühlte. «Ein kleines alternatives Rhizom», wie er es nennt, «ein Paradigmenwechsel zu diesem Kinderfest- und Bratwurstsanktgallen.» Es war der Boden, auf dem er seine eigenen kulturellen Ideen säen konnte.
«Man muss lernen loszulassen»
In all den Jahren bereicherte Richard Butz die St.Galler Musiklandschaft so stet und unbeirrt wie nur wenige. Den Schlussstrich zieht er nun ohne Wehmut. «Man kann auch bis ans Lebensende Veranstaltungen organisieren und dann tot umfallen. Das muss nicht sein. Natürlich tut es ein bisschen weh, aber man muss lernen loszulassen, das weiss ich als Zen-Buddhist. Niemand ist unersetzlich.» Und immerhin bleiben ihm von jetzt an schlaflose Nächte aus Sorge – auch finanzieller Art – um seine «Babys» erspart.
Ganz zurückziehen wird sich Richard Butz nicht. Er möchte künftig noch zwei- bis dreimal im Jahr ein Konzert mit Musik aus Afrika auf die Beine stellen, nicht mehr in Eigenregie, sondern als helfende Hand für Gambrinus Jazz plus in St.Gallen und Rorschach oder Amboss & Steigbügel, die regelmässig im St.Galler Lokal Perronnord Konzerte veranstalten. Ausserdem ist er weiterhin journalistisch tätig (für das Schweizer Jazz- und Blues-Magazin «Jazz‘n’more» oder für Saiten) und nimmt 2025 seine Reihe «Listen» im Parterre 33 wieder auf. Dazu arbeitet er an einem Buch über den Tessiner Künstler und Psychologen Ernst Kempter. «Solange es oben» – Richard Butz tippt sich an die Schläfe – «noch funktioniert, arbeite ich.» Ohne Zeitdruck, ganz nach dem Lustprinzip.
Sehr schönes Porträt. Danke, Richard, für dein stets Wirken in St. Gallen (und anderswo)! Dank dir habe ich Abdullah Ibrahim kennen- und schätzen gelernt. Und im Kampf gegen den Waffenplatz Neuchlen-Anschwilen warst du uns ein wichtiger kultureller Partner.
Wie schön, dass ich dich mit diesem Porträt besser kennen lernen darf! Bei kulinarischem Beisammensein mit dir und Christine hast du deine vielfältigen Engagements nie in den Vordergrund gerückt. Wie schade, dass wir ‚zu spät‘ zurück nach St. Gallen kamen – und nicht so einfach den Draht zu deinen, sicher einmaligen Konzerten gefunden haben. Umso schöner, dass wir einander trotzdem ‚im Alter‘, aber jugendlich frisch begegnen dürfen, dann und wann!