, 1. Januar 2014
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Eine Stadt ist auch eine Firma

Winterthur verkauft sich seit dem Niedergang der Industrie in den 90er-Jahren als Kulturstadt. Doch nicht jede Kultur wird begrüsst, wogegen am 21. September 2013 tanzend demonstriert wurde. Ein Gespräch mit Aktivisten und Aktivistinnen von «StandortFUCKtor», die anonym bleiben wollen.

In Bern fanden Tanzdemonstrationen gegen Stadtaufwertung unter dem Motto «Tanz Dich frei» statt. Winterthur nannte den Anlass vom 21. September 2013 «Standortfucktor». Warum?

Es ist ein Wortspiel, das etwas ausdrückt, was wir kritisieren. Die sogenannten Standortfaktoren werden vom Stadtmarketing immer wieder aufgegriffen – auf einige dieser Faktoren nehmen wir Bezug. Uns ging es auch darum, unsere Kapitalismuskritik anhand gewisser Entwicklungen im öffentlichen Raum aufzuzeigen.

Anhand welcher Entwicklungen?

Heute funktioniert jede grössere Stadt wie eine Firma, die ins Wirtschaftssystem eingebunden ist. Es herrscht ein Konkurrenzkampf unter den Städten, in dessen Rahmen sich eine Stadt wie Winterthur auf dem Markt behaupten und Profit erwirtschaften muss. Die Aspekte Sicherheit und Ordnung, Wohnraum und Kultur werden unter anderem von der Stadt Winterthur als Standortfaktoren beworben. In diesen drei Bereichen manifestieren sich deutlich Entwicklungen, die wir ablehnen.

Wodurch zeichnen sich diese Entwicklungen aus? Jede Stadt möchte gut betuchte Steuerzahlende haben.

Der ehemalige Stadtpräsident Ernst Wohlwend (SP) hat die Stadtentwicklung und Standortförderung aufgegleist mit dem Ziel, die Industriebrachen wiederzubeleben und neues Geld in die Stadt zu bringen. Eine Konsequenz davon: Die dadurch angezogenen, guten Steuerzahlenden erwarten eine sichere, ruhige und saubere Stadt. Im öffentlichen Raum sind deutliche Veränderungen erkennbar: Reglementierungswut und Polizeikontrollen haben stark zugenommen, überall werden Kameras installiert. Wer das Postkartenidyll stört, hat im öffentlichen Raum nichts verloren: Dealer im Stadtpark, Asylbewerber am Bahnhof oder herumhängende Jugendliche. Neben dem zunehmenden Sicherheits- und Ordnungswahn zeigen sich die negativen Auswirkungen der Stadtentwicklung auch bei Restriktionen im Kulturbereich und der Verknappung des Wohnraums.

Hat diese Entwicklung konkreten Einfluss auf euren Alltag, euer Leben?

Ja, etwa beim Thema Wohnraum. Immer mehr Häuser werden saniert und teurer weitervermietet. Das umschreibt das, was man gemeinhin unter Gentrifizierung versteht. Viele Bekannte sind davon betroffen und mussten in den letzten Jahren aus ihren Altstadtwohnungen ausziehen. Es wird schwierig, überhaupt eine Wohnung zu finden. Das kommt nicht von ungefähr: Im Vergleich zu anderen Branchen ist der Immobilienmarkt momentan die verlässlichste Variante, um Kapital zu verwerten und das Vermögen zu sichern. Das führt zu einer Vertreibung von nicht zahlungskräftigen Menschen aus dem Stadtzentrum, speziell von Armen, Migranten, Arbeitslosen, etc. Die Aufwertung kommt also nur wenigen zugute. Die Stadtentwicklung orientiert sich am Profit für wenige anstelle der Bedürfnisse einer Mehrheit.

Die Stadt Winterthur wirbt unter anderem mit ihrem vielfältigen Kulturangebot, Ihr kritisiert den Standortfaktor Kultur. Woran stört Ihr Euch?

Die Archhöfe haben mit der Alternativkultur, die es gleich um die Ecke zu konsumieren gibt, geworben. Die alternativen Kulturbetriebe gelten als Gewinn für die Winterthurer Kultur. Was den Betrieben an Geld fehlt, wird häufig mit Kreativität wettgemacht, was zu einem spannenden und frischen Angebot führt. Seit einiger Zeit allerdings häufen sich Restriktionen im Kultur- und Gastrobereich: Polizeibesuche, absurde Regelungen und Auflagen. In der Altstadt etwa muss man seit letztem Sommer einen Mindestabstand von einigen Metern halten, wenn man vor dem Getränkeladen «Hako» in einer gemütlichen Runde ein Getränk konsumieren will. Nach Mitternacht dürfen in der ganzen Stadt in keinem Betrieb mehr Getränke draussen konsumiert werden. Das Kraftfeld, welches nach fünfzehn Jahren plötzlich keine Gartenbeiz nach Mitternacht betreiben darf, gehört ebenso zu dieser Aufzählung. Die Gesetze aus dem Gastrobereich, aufgrund derer die Behörden handeln, gab es schon früher, doch wurden sie nicht in dem Masse durchgesetzt. Es zeigt sich, dass die alternativen Kulturbetriebe als Werbung für das Standortmarketing gerne gesehen werden, allerdings nur solange sie dem beworbenen Idyll einer ruhigen, sicheren und sauberen Stadt entsprechen. Auch die Kultur unterliegt der kapitalistischen Verwertungslogik: Gefördert wird, was Profit abwirft.

Seht Ihr einen Zusammenhang zwischen der angesprochen Entwicklung und dem Wechsel des Stadtpräsidiums von Ernst Wohlwend (SP) zu Mike Künzle (CVP)?

Die Gesetze werden restriktiver durchgesetzt, seit der ehemalige Sicherheitsvorsteher Michael Künzle Stadtpräsident ist. Zeitlich sehen wir eine gewisse Übereinstimmung, wir denken aber nicht, dass sich die kritisierten Entwicklungen durch personelle Wechsel grossartig ändern würden. Auch eine eher linksorientierte Person der AL (Alternative Liste) müsste sich dem Zwang der Profitorientierung beugen, welche der weltweiten kapitalistischen Dynamik entspringt und eben nicht auf Einzelpersonen zurückzuführen ist. Für uns ist deshalb klar, dass wir für unsere Anliegen eine Form wählen, welche ausserhalb der Spielregeln von Marktlogik und Verwertung stattfindet und somit das System als Ganzes in Frage stellt. Für kurze Zeit sollte das vorgegebene Spielfeld selbstbestimmt verlassen werden.

«Das System als Ganzes» – Ihr bezieht Euch also nicht nur auf Winterthur?

Nein, diese Entwicklung ist in allen grösseren Städten der Welt in unterschiedlicher Ausprägung zu beobachten. Dadurch, dass die negativen Auswirkungen der kapitalistischen Krise für immer mehr Menschen erlebbar werden, wächst auch der Widerstand dagegen. Dieser flammt immer und überall wieder auf; in Italien, Spanien, Griechenland, um aktuelle Beispiele aus Europa zu nennen. Anhand konkreter Beispiele der Stadtentwicklung versuchten wir, die Auswirkungen des kapitalistischen Systems auf unseren Alltag hier in Winterthur aufzuzeigen. Wir wollten Zusammenhänge aufzeigen und erfahrbar machen. Es lag uns daran, uns in dem Raum auszudrücken, der im Zuge der Stadtaufwertung immer stärker kontrolliert wird. Mit der Tanzdemo wollten wir zeigen, dass kollektiver Widerstand möglich ist. Die Lethargie gegenüber den herrschenden Verhältnissen sollte durchbrochen werden. Die repressive Antwort auf unsere Tanzdemo hat gezeigt, dass wir einen wunden Punkt getroffen haben.

War Euer Vorgehen naiv?

Nein, unser Vorgehen war nicht naiv, eher konsequent. Wir kritisieren das herrschende System und seine Auswirkungen. Es wäre ein Hohn, die Strukturen, welche zur Aufrechterhaltung genau dieses Systems verantwortlich sind, um Erlaubnis zu fragen, ob wir wohl dagegen protestieren dürften. Genau deshalb haben wir keine Bewilligung eingeholt, was als politischer Ausdruck verstanden werden soll und nicht in erster Linie, um anonym zu bleiben. Im Nachhinein wurde von verschiedenen Seiten kritisiert, dass die Veranstaltung im Stadtzentrum hätte stattfinden sollen, was gleichzeitig die gewalttätige Auflösung durch die Polizei legitimieren sollte. Erlaubt ist, was nicht stört! Wir wollten wahrgenommen werden und nicht still und leise am Stadtrand ein bisschen Musik hören.

In vielen Medienberichten wurdet Ihr im Zusammenhang mit der Tanzdemonstration als «Jugendliche im Kampf um Freiräume» bezeichnet. Trifft das zu?

Nein. Wir sind keine Jugendlichen, die «nur» für mehr Freiräume kämpfen. Klar werden Jugendliche und ihre Rückzugsorte von der kritisierten Stadtentwicklung auch tangiert. Wir lassen unsere Inhalte jedoch nicht darauf reduzieren – auch im Wissen darum, dass damit versucht wird, unseren Protest harmlos erscheinen zu lassen. Wir sind viele, wir sind älter und wir sind Menschen mit völlig unterschiedlichem Hintergrund. Unser Anliegen ist ein anderes: Wir wollen in einer Stadt leben, die frei von Konsumzwang und Kommerz ist, wo es anstelle immer neuer Luxustempel bezahlbaren Wohnraum gibt, wo man sich selbstbestimmt und kollektiv ausdrücken kann und wo nach den Bedürfnissen der Menschen und nicht für den Profit einer Minderheit produziert wird.

 

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