, 17. Januar 2020
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Eine Stimme für die Stimmlosen

City Card und Rechte für alle, die da sind: Das ist mehr als ein frommer Wunsch, selbst in der Stadt St.Gallen. Diesen Eindruck hinterliess zumindest das Saiten-Podium am Mittwoch im Kulturkonsulat.

So könnte die City Card für St.Gallen aussehen. (Bild: Saitengrafik)

Soll die Stadt St.Gallen eine City-Card für alle, die hier sind, bekommen – für Sans-Papiers, Verbeiständete, Minderjährige und sonstwie rechtlose Personen, unabhängig von Herkunft und gesetzlichem Status? Wie steht es um jenes runde Viertel der Bevölkerung, das ohne Schweizer Pass von Stimm- und Wahlrecht ausgeschlossen ist? Und wie kann «Partizipation» besser als bisher gelebt werden – als Teilhabe für alle nämlich?

Solche Fragen stehen im Zentrum der Diskussionsrunde. Der Hintergrund: das Januarheft von Saiten mit dem Titel «Alle, die da sind» zu Themen rund um Urban Citizenship. Und die Antworten beim «Schalter»-Gespräch: vielfältig und ermutigend.

Ohne Papiere – ohne Zugang zum Nötigsten

Als Fachleute diskutieren Laura Cutolo und Matthias Rickli von der IG Sans-Papiers Ostschweiz, Stadträtin Sonja Lüthi, FH-Dozent Dani Fels sowie die Stadtparlamentarier Jenny Heeb (SP) und Christian Huber (Grüne), moderiert von Saiten-Redaktorin Corinne Riedener. Zahlreiche Anregungen steuert das Publikum bei.

Abwesend sind dagegen die Betroffenen selber. Warum, erklärt sich für Matthias Rickli leicht: Es sind Menschen im Schatten der Gesellschaft, die mit dem Risiko leben, als «illegal» aufgegriffen oder ausgeschafft zu werden. Entsprechend hoch sei die Schwelle, sich öffentlich zu äussern.

Und umso wichtiger wäre eine zumindest relative «Legalisierung», um Sans-Papiers insbesondere Zugang zu medizinischer Versorgung zu ermöglichen, aber auch um eine Wohnung zu mieten, einen Vertrag zu schliessen, ein Handyabo zu bestellen usw. Rund 800 Personen dürften in der Stadt St.Gallen als Sans-Papiers leben, rund 2000 in der Ostschweiz, schätzt Laura Cutolo von der IG; die Dunkelziffer sei naturgemäss hoch. Mit einem digitalen Tool, das die IG momentan entwickelt, hofft sie, Betroffene niederschwellig zu erreichen und beraten zu können.

Das Ziel heisst «Stadtbürgerschaft»

Mit einer City-Card wäre ein Schritt hin zur rechtlichen Besserstellung und gegen die Angst gemacht; ein Umdenken «von der Staatsbürgerschaft zur Stadtbürgerschaft», wie Dani Fels sagt. Städte wie New York, Barcelona oder Hamburg kennen und anerkennen einen solchen Identitätsausweis bereits, in Bern und Zürich sind Bestrebungen im Gang, ihn einzuführen.

Im Februar wird ein von Zürich initiiertes Gutachten erwartet, das die rechtlichen Voraussetzungen einer City-Card abklärt. Von diesem Gutachten und vom politischen Prozess in Zürich und Bern erhofft sich Sonja Lüthi, Vorsteherin der Direktion Soziales und Sicherheit, Aufschlüsse. Ein städtischer Identitätsausweis wäre aus ihrer Sicht grundsätzlich aus Menschenrechtsgründen wünschbar; er könnte für marginalisierte Gruppen und Menschen, die aus dem herrschenden System herausfielen, Verbesserungen schaffen.

Ein Besucher erinnert an die Nansen-Schutzpässe für staatenlose Flüchtlinge nach dem Ersten Weltkrieg. Auch die City-Card könnte eine Schutzfunktion haben, bei medizinischen Notfällen, aber auch für misshandelte Frauen. Wer keine Papiere habe, habe auch keine Chance, Anzeige zu erstatten, sagt Christian Huber.

Zusammen mit Jenny Heeb hat Huber im Stadtparlament einen Vorstoss eingereicht, der die Stadt auffordert, sich der Gruppe der Solidarity Cities anzuschliessen und sich damit «zu einer auf humanitären Grundsätzen beruhenden Flüchtlingspolitik zu bekennen». Auch wenn ein solcher Schritt eher symbolisch wäre, bekräftigt Jenny Heeb: «Die Städte müssen vorausgehen» – je mehr Städte sich organisierten, umso stärker werde der Druck auf den Kanton.

Für eine städtische Partizipationskultur

Bereits konkreter als die City Card oder die Positionierung der Stadt als Solidarity City ist das neue Partizipationskonzept der Stadt, mehr dazu hier. Es soll, wie Sonja Lüthi erläutert, die heute existierenden Instrumente, den «Migrationsvorstoss» und den «Jugendlichenvorstoss» ersetzen: Diese seien zu kompliziert und daher kaum benutzt worden.

Das neue Reglement soll, so Sonja Lüthi, nach dem Grundsatz angelegt sein: Wer da ist, soll auch mitreden können. Die Einwohnerschaft der Stadt sei diverser geworden, eine wachsende Zahl von Stadtbewohnerinnen und -bewohnern sei ohne Mitsprachemöglichkeit, jedes zweite Kind, das im Kantonsspital zur Welt komme, habe einen Migrationshintergrund.

Im April plant die Erfreuliche Universität im Palace eine Veranstaltungsreihe zu den Themen Urban Citizensphip und Partizipation.

palace.sg

In Sachen Partizipation passiert zwar schon heute vieles, sagt Lüthi; Projekte wie die «Zukunft Innenstadt», das Kulturkonzept oder eine neue Altersstrategie seien partizipativ aufgegleist worden. Partizipation sei ein Ausdruck des Zeitgeistes – und ein Erfolg: «Es gibt bessere Lösungen, wenn die Bevölkerung mit einbezogen ist.» Umgekehrt zeigte sich beim Vorstoss der Klimajugend letzten Herbst, der via die Bildungskommission ins Parlament gebracht werden musste, dass das herkömmliche Prozedere ein Anliegen verfälschen kann und zu umständlich ist. Bei diesem Verfahren sei die Gefahr, dass sich die Initianten am Ende nicht verstanden fühlten, kritisiert Jenny Heeb.

Die Stadt hat deshalb einen Grundlagenbericht erstellt – selbstredend in einem partizipativen Prozess, wie Dani Fels hervorhebt. Es zeigte sich unter anderem, dass neue Kommunikationsformen nötig sind, unter anderem mit Videos und in einfacher Sprache, um auch Personen zu erreichen, die bisher eher «unsichtbar» blieben. Dazu gehörte laut Fels etwa eine Gruppe von Menschen unter Beistandsschaft, die sich an einem der Hearings «selber ihre Stimme verschafft» habe.

Beispiele wie dieses zeigten auch, sagt Lüthi, dass es mit einem  Reglement allein nicht getan sei und auch nicht mit einer einzelnen für Partizipation zuständigen Stelle in der Verwaltung. Vielmehr brauche es eine umfassende «Partizipationskultur» mit dem Ziel, dass «Teilhabe für alle» in allen Amtsstellen und Gesellschaftsschichten zur Selbstverständlichkeit werden. Mit welchen Massnahmen, ist noch offen: Im Frühling berät das Stadtparlament das neue Partizipationskonzept.

Hilfreich könnte ein «Bürgerbüro» sein, schlägt jemand im Publikum vor: eine niederschwellige, nicht bloss elektronische, sondern physische Anlaufstelle für Anliegen aller Art. Ein anderer Teilnehmer wünscht sich statt einer Kultur des Misstrauens, wie sie etwa mit dem Einsatz von Sozialdetektiven zum Ausdruck komme, eine Kultur des gegenseitigen Sorgens und Teilnehmens: «Partizipationsdetektive» also. Das könnte auch dem Standortmarketing zugute kommen, meint ein Dritter – Werbung für «St.Gallen, die Stadt für alle».

Wie wärs mit einem Konsultativ-Stimmrecht?

Was trotz Reglement weiterhin fehlen wird, ist die politische Partizipation: das Stimm- und Wahlrecht für Ausländerinnen und Ausländer. Es ist in der Kantonsverfassung nicht vorgesehen, und eine auch nur freiwillige, kommunale Einführung wäre im konservativen Parlament zur Stunde chancenlos, sagt Sonja Lüthi. Allerdings: Im März sind Wahlen.

Einen experimentellen Ausweg skizziert Dani Fels: Die Stadt führt Konsultativabstimmungen für Nicht-Stimmberechtigte ein, sie verfügt dann über zwei möglicherweise widersprüchliche Resultate – und hat zumindest reichlich Diskussionsstoff zum Thema der politischen Mitbestimmung für alle und ihren möglichen Folgen.

1 Kommentar zu Eine Stimme für die Stimmlosen

  • Peter Honegger sagt:

    Es war ein guter Anlass, soviel kann ich sagen, denn ich war ja da.
    Dieser Ausdruck „Partizipation“ beinhaltet sehr, sehr vieles und viel vor allem gutes. Ein durchaus machbarer Schritt ist die
    CYTI CARD für die Stadt St.Gallen.
    Unbedingt dran bleiben.

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