, 28. Januar 2015
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«Eine ziemliche Gratwanderung»

Geht es nach Anita Blöchliger Moritzi, Kantilehrerin und SP-Kantonsrätin aus St.Gallen, müssten Kopftücher im Unterricht draussen bleiben – der Gleichheit zuliebe.

Saiten: In der November-Session haben Sie fast als einzige aus der SP-Fraktion für die von der jungen SVP initiierten Kleidervorschriften an Schulen gestimmt. Haben Sie überhaupt Schülerinnen mit Kopftuch?

Anita Blöchliger Moritzi: Derzeit nur wenige, maximal eine oder zwei. Den ersten und auch etwas schwierigen Fall hatten wir vor ein paar Jahren. Es gab damals jede Menge Ausnahmeregelungen für diese Schülerin, im Schwimm- oder Turnunterricht etwa. Als ich sie fragte, ob sie es nicht einmal ohne Kopftuch versuchen wolle, fasste sie den gutgemeinten Vorschlag als Beleidigung auf und beklagte sich bei der Schulleitung.

Was stört Sie daran, wenn eine Schülerin mit Kopftuch zum Unterricht kommt?

Ich empfinde es als Kommunikationsbarriere.

Obwohl das Gesicht frei ist?

Körpersprache beinhaltet mehr als nur die Mimik. Häufig ist auch der Rest des Körpers stark verhüllt, mit Umhängen, Tüchern oder bodenlangen Röcken. Ich empfinde das eher als Verkleidung und nicht als Bekleidung.

Andere Glaubenskulturen haben auch eigene Kleidungsstile.

Die theologische Diskussion ist für mich weniger ausschlaggebend als die persönlichen Einschränkungen, die ein Kopftuch mit sich bringt. Sich zu verhüllen ist eine Form von Selbstbeschränkung, die einen wichtigen Entwicklungsprozess verhindert: nämlich zu wissen, wie man auf andere wirkt, wie man ankommt. Gerade die Mädchen probieren sehr viel aus, spielen mit ihren Frisuren, Haarfarben, Kleidungsstilen. Das gehört einfach zum Jungsein und sollte allen möglich sein.

Eine Form der Unterdrückung also?

Sicher. Das Kopftuch ist ein Symbol für die Geschlechtsreife. Das ist es, was mich abstösst: dass man junge Frauen äusserlich markiert, um ihre Weiblichkeit vor der Aussenwelt zu «schützen».

Ist diese Kritik nicht heuchlerisch angesichts unserer eigenen Körperfixierung? Die Arbeit am Äusseren gilt in unserer Kultur als sinnstiftend und gehört mitunter zu den wichtigsten Lebensinhalten. So gesehen könnte ein Schleier auch befreiend sein.

Dieses Argument kann ich nachvollziehen, aber diese allseits und streng normierten Schönheitsdogmen sind meiner Meinung nach ein weiteres Problem – das wir in der Schule durchaus auch haben.

Wäre es nicht effektiver, wenn solche Fragen mit den Jugendlichen im Unterricht diskutiert würden, statt sich in politischen Stellvertreterdebatten zu verlieren?

Sicher, aber die Themen Schönheit und Körper sollten ohnehin als permanenter Subtext vorhanden sein und stets von neuem diskutiert werden. Eine Stellvertreterdiskussion ist die Kopftuch-Frage vor allem insofern, als sie von den fundamentalistischen Kreisen instrumentalisiert wird, um ihre reaktionäre Vorstellung des Islam politisch und juristisch durchzusetzen. Dieser Machtanspruch via Kleidervorschriften zielt sehr bewusst auf die Frauen und zeugt – wie in anderen Religionen – von einer zutiefst patriarchalen Haltung.

Zeugt es nicht von einem zweifelhaften Frauenbild, wenn die Musliminnen mit Kopftuch hierzulande kollektiv als Opfer deklariert werden?

Die Frage ist, ob wir sie wirklich so aburteilen.

Schon, wenn es zum Beispiel heisst: «Und Sie tragen das wirklich freiwillig?» Da schwingt doch stets der Generalverdacht mit, dass diese Musliminnen indoktriniert wurden und keinen freien Willen haben.

Für mich ist der Kontext entscheidend. Wenn mir eine erwachsene, kopftuchtragende Frau auf Augenhöhe begegnet, glaube ich ihr das selbstverständlich. Aber die Schule soll ein offener Raum sein, wo äusserliche Symbole und Zeichen möglichst dezent ausfallen, damit alle «so gleich wie möglich » sein können.

Muss es denn permanent so sein, oder können solche Räume nicht auch in bestimmten Fächern oder Tagen geschaffen werden?

Denkbar wärs. Es würde aber die Bereitschaft erfordern, das Kopftuch dann auch tatsächlich abzulegen.

Rechte Hetzkampagnen und die steten Forderungen nach Minarett-, Burka- oder Kopftuchverboten dürften dazu wohl kaum etwas beitragen…

Tatsächlich ist diese Diskussion beim derzeitigen Klima eine ziemliche Gratwanderung, besonders für die Linke. Das Schlimme ist, dass es in diesem Fall auf dem Rücken von Kindern und Jugendlichen ausgetragen wird, die zwischen Elternhaus und Schulbehörden stehen und sich diesem Dilemma nicht entziehen können. Wenn sich die Diskussion öffnen würde und beide Seiten bereit wären, auf die jeweiligen Argumente einzugehen, wäre sicher vieles möglich. Da das Kopftuch aber in der Regel religiös begründet wird, ist es leider so gut wie unverhandelbar und vermutlich nur über den gesetzlichen Weg zu regeln.

Im Grunde ist doch beides ein Machtanspruch, egal ob man jemandem ein Kleidungsstück verbietet oder aufzwingt.

Ein Kopftuchverbot ist eine Form der Machtausübung, klar, und die Schule beruft sich ja auch auf ein gemeinsames Regelwerk – nur hat das einen völlig anderen Hintergrund: Wir sind nicht das Elternhaus und erfüllen auch nicht dieselbe Funktion. Zudem ist der Kontext ein spezieller, da die Gruppendynamik im Klassenzimmer anders ist als im Privatleben. Ich will aber ganz klar festhalten: Es geht mir nur ums Klassenzimmer. Was abseits davon passiert, liegt nicht in meinem Ermessen.

Im Fall eines muslimischen Mädchens aus St.Margrethen hat das St.Galler Verwaltungsgericht Anfang November gegen die Schulbehörde entschieden und sich in seiner 26-seitigen Urteilsbegründung auf das Grundrecht der Religionsfreiheit berufen. Nun soll das Bundesgericht verbindliche Rechtsgrundlagen schaffen. Begrüssen Sie das?

Eine juristische Argumentation in dieser Frage ist nicht schulgerecht, glaube ich. Ich persönlich würde eine Lösung auf kommunaler Ebene bevorzugen. Zudem ist die Berufung auf die Religionsfreiheit nicht ganz unproblematisch, da mit diesem Argument theoretisch auch Falsches legitimiert werden kann. Zum Glück ist der Gleichstellungsartikel übergeordnet. Denn eine Religion, in der Männer und Frauen nicht ebenbürtig sind, kann ich nicht unterstützen – egal welche.

 

Anita Blöchliger Moritzi unterrichtet Deutsch, Pädagogik und Psychologie an der Kantonsschule St.Gallen. Sie lebt in Abtwil und sitzt seit 1992 (mit einem Unterbruch von 1997–2004) für die SP im St.Galler Kantonsrat.

Dieser Text erscheint in unserem Februar-Heft.

3 Kommentare zu «Eine ziemliche Gratwanderung»

  • araber sagt:

    Als Araber aus dem Kanton Appenzell Ausseroden, denke ich in die gleivhe Richtung. Es ist wirklich mühsam wie persönliche Einstellungen und Unterdrückungsmechanismen schon im Klassenzimmer funktionieren. Als Klassenkämpferin und Genossin kann Frau Blöchliger sehr gut vom schmalen Grat zwischen Bourgeoisie und Arbeitklasse.

  • Leon sagt:

    Eine weitere Nullrunde betreffend Regelung unseres Zusammenlebens. Freiheit scheint bei den einen zu totaler Verblendung zu führen. Die Freiheit der Kirchen zum Beispiel ist eine ganz grobe Einschränkung meiner Freiheit. Der stundenlange Lärm der Kirchenglocken nervt ganz einfach. Also wo machen wir die Grenzen fest??? Kopftuch ok? Burka auch ok? Totschlagen von ‚Ungläubigen‘ auch ok? Mit dem überstrapazierten Wort ‚Toleranz‘ werden wir kein Problem lösen. Frau Blöchliger hat das eingesehen, der Interviewer wartet wahrscheinlich auf weitere Auswüchse von Religionen…

  • Cornelia Hohengasser, Felsenstr.77, 9000 St.Gallen sagt:

    Diese Stellungnahme der Lehrerin tönt für mich nachvollziehbar, korrekt und mutig. In keiner Weise lese ich darin Unterdrückung seitens der Schule. Im Gegenteil, den Fokus auf die Entwicklung und Integration junger Menschen zu legen, wirkt auf mich sehr menschlich. Gratuliere zur geraden Haltung und dem mutigen Einstehen dafür!

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