, 3. September 2018
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Erbstreit – Wenn Familien alte Rechnungen begleichen

Wo geerbt wird, wird häufig gestritten. Der St.Galler Jurist Thomas Geiser über ein heikles Thema, das jede Familie betreffen kann. Und das mit der Revision des Erbrechts gerade wieder oben auf der politischen Agenda steht. von Julia Kohli

Zeichnung: Beni Bischof

Julia Kohli: Ist es beschämend, einen Erbstreit vor Gericht zu bringen?

Thomas Geiser: Ja. Die Schwelle, bis es wirklich zu einem juristischen Schritt kommt, liegt hoch. Für eine Familie ist das immer sehr unangenehm.

Kommt es vor Gericht auch zu Versöhnungen?

In der Regel nicht. Wenn familienrechtliche Dinge einmal vor Gericht landen, sind die Chancen auf einen Ausgleich sehr gering. Da gibt es meist kein Zurück mehr. Darum sind die Hemmungen davor auch sehr gross.

Haben Sie selbst schon viele Erbstreitigkeiten miterlebt?

Ja. Ich war nebenamtlich Richter am Bundesgericht, da gibt es einige Erbstreite. Ich musste nach dem Examen auch ein Praktikum auf dem Erbschaftsamt und auf dem Notariat absolvieren. Das war sehr spannend, denn dort finden die Erbverhandlungen statt. Ich konnte beobachten, wie die Leute miteinander umgehen und welche Geschichten sie haben.

Viele behaupten, dass beim Erben der wahre Charakter eines Menschen an die Oberfläche kommt. Stimmt das?

Ja, das stimmt. Meist haben die Auseinandersetzungen gar nichts damit zu tun, wie viel vorhanden ist. Da kann es um ganz unbedeutende Dinge oder aber um Millionen gehen. Bei sehr vielen Erbstreiten geht es auch nicht ums Erben selbst, vielmehr ist es die letzte Möglichkeit, in der Familie Rechnungen zu begleichen.

Sind gewisse Menschen prädestinierter, einen Erbstreit zu beginnen?

Nein, das glaube ich nicht. Es ist nicht immer vorauszusehen, wer das tut.

Thomas Geiser, *1952, ist Rechtswissenschaftler, Bundesrichter, Kunstsammler, Filmförderer, Militärdienstverweigerer, Sozialdemokrat und Pendler zwischen seinen Wohnorten in St.Gallen, Bern und am Lago Maggiore. Der emeritierte HSG-Professor für Privat- und Handelsrecht war zudem Mitinitiant der Initiative «Raus aus der Sackgasse» (Rasa).

Gab es auch schon Erbstreitigkeiten, die Sie absurd fanden?

Nein. Die Emotionen bei einem Erbstreit sind ja real, das ist nicht absurd. Es ist wichtig zu schauen, welche Beweggründe hinter einem Streit stecken.

Welche Beweggründe sind das?

Meistens sind das Wunden, die in der Familie irgendwann einmal jemanden beigefügt wurden und die dann beim Erben plötzlich wieder aufreissen. Das können ganz kleine Details sein. Der Erbstreit wird so zur einzigen Möglichkeit, Bilanz zu ziehen. In den meisten Fällen gibt es aber ausserjuristische Methoden, um solche Streitigkeiten zu lösen.

Wer schlichtet solche Streitigkeiten ausserhalb des Gerichts am besten?

Ein geschickter Willensvollstrecker kann einem potentiellen Erbstreit unter Umständen gut vorbeugen. Es muss ihm dabei vor allem gelingen, die emotionalen von den rechtlichen Fragen zu trennen. Wenn diese zwei Ebenen gesondert behandelt werden, sind meistens auch die Probleme gelöst.

Also muss ein Willensvollstrecker gleichzeitig juristische und psychologische Kenntnisse haben?

Ja. Und manchmal wird der Willensvollstrecker sogar zum Feind der Streitparteien. Erstaunlicherweise kommt es dann oft zu guten Lösungen.

Wie das?

Die Verfeindeten ziehen wieder an einem Strang und haben einen gemeinsamen Gegner.

Geht bei so vielen Streitigkeiten nicht die eigentliche Sache verloren, die Trauer um die verstorbene Person? Und kann der Erbstreit unter Umständen auch ein Ersatz für Trauer sein?

Ja, der Erbstreit kann zu einer Ersatzbeschäftigung werden. Nur – das darf man nicht vergessen – beginnt der Erbstreit meistens etwa ein Jahr nach dem Tod des Erblassers. Die unmittelbare Trauer ist dann meistens vorbei. Aber die Streitigkeiten an sich können auch viel früher beginnen. Manchmal streiten sich Verwandte schon bei der Beerdigung oder beim Aufsetzen der Todesanzeige. Wenn Sie zwei verschiedene Todesanzeigen in der Zeitung sehen, weist das bereits auf einen Konflikt hin. Und der Streit beginnt oft auch damit, wie jemand begraben werden soll – ob man kremiert oder nicht. Solche Uneinigkeiten können sich später in einem Erbstreit manifestieren.

Kommt es vor, dass in solche Konflikte auch Erbschleicher – also Personen, die nicht der biologischen Familie angehören – involviert sind? Was sind das für Menschen?

Ja, das kommt immer wieder vor. Ich behaupte, dass es drei Berufskategorien gibt, in welchen man überproportional vielen Erbschleicher begegnet: Juristen – also Anwälte oder Notare – sowie Pfarrer und Ärzte.

Das erstaunt mich jetzt!

Mein Befund hat seine Gründe: Das sind alles Menschen, die eine Person auf ihrem letzten Lebensabschnitt begleiten. Diese Leute verfügen über das nötige Wissen und haben Macht.

Kommt es auch vor, dass Erblasserinnen ihren Hinterbliebenen absichtlich einen Streit aufbürden und sich dann sozusagen im Grab ins Fäustchen lachen?

Das gibt es relativ selten, aber es kommt vor. Man kann seine Erben sehr gut ärgern. Zum Beispiel, wenn jemand will, dass etwas nicht verkauft wird und möglichst lange in der Familie erhalten bleibt.

Haben Sie ein Beispiel?

Es gab einen Erblasser, der eine sehr schöne Liegenschaft am See hatte und nicht wollte, dass diese verkauft wird. Er hat das Haus absichtlich zwei völlig verfeindeten Cousins vererbt. Dem einen hat er es zugesprochen und dem anderen hat er ein limitiertes Vorkaufsrecht eingeräumt. Der Zweite hätte das Haus also für einen tiefen Preis kaufen können, hätte der Erste verkauft. Aber weil sie ja verfeindet waren, geschah dies nicht. So blieb das Haus in den Händen der Familie.

Das hört man oft, dass sich Erbstreitigkeiten um den letzten Wohnsitz der Verstorbenen drehen. Gehören Liegenschaften zu den Erbstreitklassikern?

Ja. Erstens, weil eine Immobilie meistens ein wesentlicher Teil des Nachlasses ist, und zweitens, weil es sehr häufig das Haus gewesen ist, wo die Erben aufgewachsen sind. Das ist natürlich emotional aufgeladen. Sofort stellt sich die Frage: Spekulation oder nicht? Will es jemand übernehmen? Interessengegensätze sind hier oft vorprogrammiert. Es kommt dann darauf an, welche Diskussionskultur die Familie hat und ob sie fähig ist, Lösungen zu entwickeln.

Worum wird sonst noch häufig gestritten?

Familienbetriebe sind oft ein ganz grosses Problem. Bei einer Unternehmensbewertung bekommen Sie von überall andere Zahlen. Die Unterschiede dabei sind erheblich. Hinzu kommt, dass die einen Erben einen Wissensvorsprung gegenüber den anderen haben. Meistens ist ja jemand von den Nachkommen im Geschäft tätig und die anderen nicht.

Wie steht es mit dem Vermögen? Wird in der Schweiz mehr um Sachwerte oder um Geld gestritten?

Ich habe da keine Statistik, aber meistens werden bei Sachwerten einfach die Gerichtskosten proportional zu hoch, als dass es sich lohnen würde. Der Wert von Mobiliar zum Beispiel ist extrem gesunken. Die Preise sind im Keller. In den 60ern kosteten beispielsweise Möbel aus dem 18. Jahrhundert noch Tausende von Franken, jetzt sind es nur noch wenige Hundert.

Dann gab es früher also mehr Streit um eine Kommode, weil die alten Möbel mehr wert waren?

Ja. Und dann gibt es auch noch Streitigkeiten um bereits entsorgte Gegenstände. Das geht dann etwa so: «Wieso hat sie das entsorgt, ohne mich zu fragen? Wenn sie mich gefragt hätte, dann hätte ich es gar nicht gewollt.» Solche Aussagen sind häufiger, als man denkt.

Trotzdem wird ja nie der ganze Besitz den Nachkommen vererbt. Das Gesetz in der Schweiz sieht vor, dass über die Verteilung des Pflichtteils (in der Regel 5/8 des Erbes) nicht entschieden werden darf. Jetzt steht das Gesetz zur Revision. Wie stehen Sie dazu? Begrüssen Sie die geplante Senkung des Pflichtteils?

Über die Grösse des Pflichtteils kann man sich streiten. Es gibt Kulturen, die so etwas nicht kennen. Ich kenne nur jene mit. Die Pflichtteilskultur hat einen ganz grossen Vorteil: Es gibt einen Teil des Erbes, der verfangen ist. Der andere jedoch ist wirklich frei. Niemand stellt bei diesem freien Anteil moralische Fragen. In anderen Rechtsordnungen, die keine Pflichtteile haben, wird beim Testament gefragt, ob das moralisch ist. Das ist zum Beispiel im angelsächsischen Recht so. Über die Moral entscheidet dann die Richterin oder der Richter. Das ist nicht mehr Freiheit, sondern weniger.

Revision des Erbrechts
Der Bundesrat arbeitet an einer Revision des Erbrechts von 1907, diese wird voraussichtlich 2019 verabschiedet. Eine wesentliche Änderung darin ist die Erhöhung der frei verfügbaren Quote. Dies soll Menschen in sogenannten Patchwork-Familien zugutekommen, da so der Lebenspartner oder Stiefkinder stärker begünstigt werden könnten. Neu wäre auch, dass der Pflichtteil für die Eltern gestrichen würde (wenn nur die Eltern als Nachkommen bleiben). Damit will der Bundesrat «auf gesellschaftliche Realitäten reagieren».

Sie stehen der Revision also kritisch gegenüber?

Ja. Ich halte das Argument mit der Patchwork-Familie für einen Irrtum. Das kann man nicht so verkaufen. Die Pflichtteilsregelung, so wie sie heute existiert, ist für unsere Tradition sinnvoll. Je höher die frei verfügbare Quote ist, desto mehr Probleme werden auf uns zukommen.

Können Sie das an einem Beispiel erläutern?

Bei Unternehmen kann es kritisch werden, wenn der Pflichtteil sinkt. Stellen Sie sich einen «Kronprinzen » in einem Unternehmen vor. Was muss dieser machen? Damit er mehr vom Erbe bekommt, muss er nach der Geige des inzwischen 90-jährigen Patrons tanzen und darf auf keinen Fall Neuerungen einführen, die nicht in dessen Sinne wären.

Da werden also Abhängigkeiten geschaffen, wenn der Pflichtteil sinkt?

Ja. Und Innovation wird verhindert. Das ist ökonomisch nicht sehr sinnvoll.

Also sind wir in der Schweiz trotz relativ hohem Pflichtteil beim Erben freier?

Das ist so. Wenn man die Rechtsgeschichte der Schweiz anschaut, hat es im 19. Jahrhundert schon das sogenannte Geliebtentestament gegeben. Für die Konkubine. Das war damals völlig akzeptiert – im Rahmen der freien Quote. Möglich war dies nur, weil es einen Pflichtteil gegeben hat. Darum wurde die Entscheidung, was man mit der freien Quote macht, unantastbar.

Wir sind beim Thema Testament angelangt. Worauf sollte man achten, wenn man aufs Notariat geht, um ein Testament aufzusetzen?

Ich habe beobachtet, dass junge Notare in den Erbregelungen oft nicht sehr weitsichtig sind. Ältere Notare haben aufgrund ihrer Berufserfahrung mehr Kenntnisse und können bessere Beratungen anbieten.

Ein deutscher Notar sagte in einem Interview, dass nur ein Viertel der Bevölkerung (in Deutschland) ein Testament hinterlasse und dies eine Katastrophe sei für die Anwältinnen. Sehen Sie das auch so?

Das ist meiner Meinung nach die klassische Ansicht eines Anwalts, der in der Beratung tätig ist und damit sein Geld verdient. Ich bin ganz und gar nicht dieser Meinung. Ich glaube, dass unser Erbrecht absolut vernünftige Regeln hat. Und in sehr vielen Situationen bringt ein Testament eigentlich nicht sehr viel. In 80 bis 90 Prozent der Fälle ist unser Erbrecht absolut ausreichend. Wenn zum Beispiel jemand Single ist, keine Kinder hat und eine relativ entfernte Verwandtschaft, mit welcher er oder sie nicht unbedingt in Kontakt steht, kann ein Testament natürlich sinnvoll sein.

Wie sieht es mit dem Recht aus, wenn es um die Weitergabe von digitalen Daten geht? Gibt es da auch schon Streitigkeiten?

Ja, die gibt es. Das alles ist schlicht und einfach noch nicht geklärt. Es ist zwar kein rechtsfreier Raum, aber es stellt sich die Frage, was das für Rechte sind. Auch um die ganzen Persönlichkeitsrechte, also das Recht an immateriellen Gütern, gibt es immer wieder böse Streitigkeiten.

Zum Schluss noch eine heikle Frage: Finden Sie es überhaupt gerecht, dass man erben darf?

Im Prinzip ist gegen das Erben nichts einzuwenden. Irgendwie muss das Vermögen ja weitergegeben werden. Viele vergessen dabei, dass es das nicht immer gegeben hat. Im Mittelalter fiel das Erbe beispielsweise an die Lehnsherrn zurück. Und bei den unteren Schichten hat es eigentlich gar kein Erbe gegeben. 1907, als das Zivilgesetzbuch ZGB erlassen worden ist, fand die grosse Diskussion statt, ob der Staat ein angemessenes Erbrecht erhalten sollte. Falsch finde ich aber, dass es keine Erbschaftssteuer gibt. Wir haben ein völlig absurdes Steuersystem. Alles, was man sich im Schweisse seines Angesichts erarbeitet, wird hoch versteuert, und das, was einem wie Manna in den Schoss fällt, ist steuerfrei.

Dieser Text ist in der Septemberausgabe von Saiten erschienen.
Julia Kohli ist Illustratorin, Online-Produzentin und Studentin der Kulturpublizistik an der ZHdK.

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