, 29. November 2018
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«Es braucht den Druck von unten»

Gülsen Celikkol über die Situation der Kurden in der Türkei, ihre Politisierung im Gefängnis und Akademiker, die zu Bauern werden.

Gülsen Celikkol, fotografiert von Andri Bösch.

Saiten: Du warst im Oktober mit einer Delegation in Istanbul, Diyarbakır und Mardin. Ihr habt Prozesse beobachtet und mit Menschenrechtlerinnen, Akademikern, Politikerinnen und Medienleuten gesprochen. Was war deine Rolle?

Gülsen Celikkol: Ich habe die Delegation unserer Solidaritätsgruppe Syrien/Kurdistan mit auf die Beine gestellt. Zusammen mit dem Journalisten Aydin Bolkan habe ich die Reise organisiert, das Programm erstellt und die Kontakte vor Ort geknüpft. Offiziell war ich als Dolmetscherin unterwegs.

Wie hast du diese fünf Tage erlebt?

Intensiv. Vieles machte mich traurig, aber ich habe auch immer wieder festgestellt, dass die Leute trotz all der Gewalt und Repression weiterkämpfen – wir haben wirklich ein paar sehr mutige Menschen getroffen. Man hat sich über jede noch so kleine Unterstützung gefreut, über jeden Besuch, besonders die Angehörigen von kurdischen Politikern, die im Gefängnis sind. Die Situation für die Kurdinnen und Kurden in der Türkei ist wirklich schlimm. Die türkische Regierung versucht mit allen Mitteln, Angst zu schüren und sie ihrer Existenz zu berauben. Meine grösste Angst ist, dass die kurdischen Politiker in den Gefängnissen vergessen werden – darum braucht es unsere Solidarität.

Du warst während deines Wirtschaftsstudiums in der Türkei selber zweieinhalb Jahre im Gefängnis.

Ja, einmal 1984 und ein zweites Mal 1989. Ich bin in einer politisch sehr aktiven Familie aufgewachsen. Während meiner Kindheit in Kurdistan kam ich immer wieder in Kontakt mit den Ideen der linken Guerillas, ihr Kampf und ihr Mut faszinierten mich. Zudem gab es immer wieder militärische Operationen in unserer Region. Meine Eltern und Grosseltern haben das Massaker von Dersim 1938 miterlebt. Das alles hat mich stark politisch geprägt.

Der Soziologe Ueli Mäder berichtet über die Delegationsreise vom Oktober 2018 in den kurdischen Teil der Türkei: 2. Dezember, 11 Uhr, Palace St.Gallen

Was wurde dir vorgeworfen?

Ich war in einer marxistischen, türkischen Organisation aktiv. Nach dem Militärputsch 1980, ich war damals noch im Gymnasium, wurden viele Leute festgenommen und die politische Arbeit wurde zunehmend schwieriger. Einige unserer Mitstreiter wurden festgenommen und unter Druck gesetzt, so dass sie schliesslich gezwungen waren, uns zu verraten. Die Vorwürfe waren Landesverrat und Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation. Zwei Jahre war ich im Gefängnis. Bei der 1.Mai-Demonstration 1989 wurde ich ein zweites Mal festgenommen und musste nochmals für sechs Monate in Haft. Als ich wieder freikam, war klar: Ich musste raus aus der Türkei. So bin ich in die Schweiz gekommen.

Wie muss man sich den türkischen Knastalltag vorstellen?

Es gibt Unterschiede zwischen den Gefängnissen in den grossen Städten und jenen in den kurdischen Gebieten. Ich war in einem grossen Gefängnis, wo alle Frauen zusammen in einem Raum lebten. Trotz der Gewalt muss ich sagen: Für uns war das wie eine politische Lernakademie. Ich habe in meinem Leben nie so viel gelesen und diskutiert wie im Gefängnis. Und ich habe Leute – Politikerinnen, Aktivistinnen, Akademikerinnen – kennengelernt, die ich sonst nie kennengelernt hätte. Ich bin sozusagen radikaler rausgekommen als ich reingegangen bin.

Soliessen und Film «Syrien – Rojava stellt Frauen gleich»: 30 Dezember, 19 Uhr, Cabi Antirassismus-Treff

Seit dem Putsch im Juli 2016 wurden unzählige Lehrer, Wissenschaftlerinnen und Journalisten entlassen, durch staatstreue türkische Personen ersetzt und, wenn nicht eingesperrt, mit einem Berufsverbot belegt. Was machen die Leute nun den ganzen Tag?

In Amed (kurdisch für Diyarbakır, Anm. d. Red.) haben wir einen Biologieprofessor getroffen. Mit einem Lachen hat er mir erzählt, dass er nun Gemüse auf dem Land seiner Schwiegereltern anbaue und es auf dem Basar verkaufe. Seine ehemaligen Studenten seien jeweils ganz erstaunt, dass er nun Bauer ist. Damit können aber nicht alle so locker umgehen, denn vielen Akademikerinnen und Akademikern wurde wirklich der Boden unter den Füssen weggerissen, die finanzielle Existenz wurde ihnen geraubt. Viele haben dann untereinander Kontakt aufgenommen und engagieren sich mittlerweile in der Nachbarschaft oder noch stärker für die Politik. Es herrscht eine grosse Solidarität. Ich weiss von Gegenden, wo alle ihr Geld in eine Kasse geben, damit es unter allen gerecht verteilt werden kann.

Ihr wart unter anderem am Prozess von Sebnem Korur Fincanci, einer Ärztin, die in Cizre gegen Bomben auf zivile Einrichtungen protestierte und im Juni 2016 verhaftet wurde. Wie ist die Verhandlung gelaufen?

Leider konnten wir nicht bis zum Ende bleiben. Ich war beeindruckt von der Stärke und dem Mut dieser Frau. Während ihrer Aussage hat sie Bilder von der Zerstörung in Cizre gezeigt, obwohl ihr das die Staatsanwaltschaft verboten hatte. Am Schluss wurde das gegen sie verwendet. Wir wollten nach dem Prozess mit ihr sprechen, aber es hat nicht geklappt. Mittlerweile weiss ich, dass ihr Prozess auf Januar 2019 vertagt wurde. Sie wurde ja aufgrund von internationalem Druck nach einem Monat aus der Untersuchungshaft entlassen, ist also auf freiem Fuss momentan, hat allerdings ebenfalls Arbeitsverbot.

Küche für alle und Gespräch mit Reto Rufer, dem Nahostverantwortlichen 
bei Amnesty Schweiz, über die Menschenrechtslage in der Türkei: 7. Dezember, 19 Uhr, Cabi Antirassismus-Treff

Die Schweiz erwägt ein Handelsabkommen mit der Türkei. Was würdest du dir von der Schweizer Politik wünschen?

Wenn man es aus einer moralischen, menschenrechtlichen Perspektive anschaut, darf die Schweiz nicht mit diesem Land zusammenarbeiten, das Oppositionelle ins Gefängnis steckt oder ihnen jegliche Existenz raubt. In der Türkei ist derzeit ein Massaker gegen die kurdische Bevölkerung, die Opposition und Andersdenkende im Gang. Wenn die Schweiz mit der Türkei ein Abkommen schliesst, macht sie sich mitschuldig daran.

Was können wir von hier aus tun, um die Opposition zu unterstützen?

Humanitäre Hilfe ist wichtig und wertvoll, aber es braucht vor allem den politischen Druck von unten: Nur wenn die Schweizer Zivilgesellschaft die Politik in die Verantwortung nimmt, wird sich vielleicht auf internationaler Ebene etwas ändern.

Deine Prognose: Wie geht es weiter in der Türkei?

Schwer zu sagen, aber ich bin optimistisch. Von heute auf morgen wird sich wohl nichts ändern, aber lange wird es so nicht mehr weitergehen. Der Türkei geht es wirtschaftlich sehr, sehr schlecht und die Menschen sind unzufrieden. Die Regierung wird früher oder später die Macht verlieren. Hoffe ich. Aber erst wenn die Kurdenfrage gelöst ist, wird auch die Türkei Ruhe finden.

Gülsen Celikkol, 1965, ist im Bergdorf Dersim aufgewachsen, hat in Istanbul Wirtschaft studiert und ist 1991 in die Schweiz gekommen. Sie arbeitet als Fachfrau Gesundheit, lebt in Bazenheid und hat einen Sohn.

Dieser Beitrag erscheint im Dezemberheft von Saiten.

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