Europa in Trogen
Es verbleiben noch 52 Minuten bis zur Livesendung. Die Zeit ist knapp und es herrscht ein wildes Durcheinander am langen Redaktionstisch. Englisch, Türkisch, Lettisch und Deutsch ist zu hören. Die einen haben Probleme mit dem Export der Dateien aus dem Audioprogramm, andere brauchen noch einen letzten O-Ton.
Die Teilnehmenden des diesjährigen European Youth Forum Trogen arbeiten an ihren Beiträgen für die Radiosendung um 16 Uhr. Sie alle haben den Workshop «Media and Facts» ausgewählt. So auch Aleksejs aus Riga. «Neben dem Produzieren von eigenen Inhalten üben wir auch den Umgang mit Fake News oder Shitstorms», erzählt der 16-Jährige. Er ist gut in der Zeit, hat genügend Interviewmaterial und eine klare Vorstellung davon, wie er seinen Beitrag zusammenschneiden will.
Das European Youth Forum Trogen ist ein Projekt der Kantonsschule Trogen, dem Kinderdorf Pestalozzi und Movetia. Es fand vom 24. Februar bis 2. März statt. Die Radiobeiträge können hier nachgehört werden.
Zum fünften Mal findet das Forum statt. Dieses Jahr sind Jugendliche aus der Ukraine, Schottland, Italien, Polen, Kroatien, Ungarn, Lettland, Deutschland, der Türkei und der Schweiz dabei. Sie sind zwischen 15 und 19 Jahre alt und besuchen ein Gymnasium, Englischkenntnisse sind eine Voraussetzung für die Teilnahme.
«Unser Ziel ist es, den interkulturellen Austausch zu fördern», sagt Veronika Reiser, Pädagogin im Kinderdorf. «Vielfalt ist eine Bereicherung, das erfahren hier die Jugendlichen durch die Zusammenarbeit untereinander.» Sie nehmen das Gelernte nach Hause und bringen es dort in die Schulen, zum Beispiel indem sie selber einen Workshop veranstalten.
Das wird auch Lena tun, wenn sie zurück in Łódź (Polen) ist. Sie besucht den Workshop «What If», dort werden die Themen Identitäten, Diskriminierung und Menschenrechte diskutiert und bearbeitet. «Ich lernte viel über meine Privilegien und die Stereotypen anderer», sagt sie in perfektem Englisch. «Besonders von den ungarischen Jungs bin ich beeindruckt; wie reflektiert sie über ihre Gefühle sprechen.» Die Übung von heute ist, die eigene Held:in auf ein A4-Papier zu bringen. Sie nimmt ein schwarzes Blatt und einen weissen Stift und beginnt, einen Kopf zu zeichnen. Die Bilder werden an der Ausstellung am letzten Tag präsentiert.
Es ist halb 4, eine halbe Stunde vor Redaktionsschluss. Aleksejs sitzt vor dem Laptop und versucht die richtige Stelle im Audiofile zu finden. Seine Gruppe befragte die Teilnehmenden zum Ausflug nach St.Gallen vom Vortag. Kathedrale, Stiftsbibliothek, Sitterwerk, Grabenhalle, Kybunpark und Textilmuseum standen auf dem Programm, je nach Gruppe. Aleksejs war im Kybunpark.
Der 16-Jährige Lette zeigt sich beeindruckt von der lebendigen Kleinstadt: «Städte in dieser Grösse sind in Lettland viel langweiliger». Im Kinderdorf teilt er seine Unterkunft mit Ungaren und Türken. «Als wir ankamen, haben sie uns umarmt und wollten gleich unser Instagram, diese Offenheit kennen wir in Lettland nicht.»
Lena ist bald fertig mit dem Bild ihrer Heldin. Auf dem Papier ist eine Frau umgeben von Zitaten zu sehen wie «You can start again» oder «Couldn’t you pick an easier major». «Unser Schulsystem ist zu sehr auf Fehler fokussiert», sagt die 17-Jährige. Wer beispielsweise Ärztin werde möchte, müsse sich zu oft mit den Zweifeln anderer rumschlagen. Dabei bräuchten viele nur eine motivierende Stimme bei sich, um sich zu entfalten und ihre Talente zu entdecken. Sie klebt ein ausgeschnittenes Blumenbild aus einem Magazin in den Kopf der Heldin. «Hier in Trogen werden wir motiviert, Ideen umzusetzen», sagt Lena, «und die anderen Teilnehmenden interessieren sich für einen und die Lebensrealitäten zuhause, das ist schön.»
Aleksejs ist inzwischen fertig mit Schneiden. Er hat noch 10 Minuten Zeit bis zur Livesendung. Doch nun will auch sein Programm nicht richtig Exportieren. Hilfe ist schnell da, die Kollegin hatte zuvor das gleiche Problem. Kurz darauf schliesst Aleksejs den Laptop, seine Arbeit ist gemacht. Kann er sich vorstellen, später als Journalist zu arbeiten? «Keine Ahnung, es ist schon cool als Beruf allen möglichen Leuten Fragen stellen zu können», sagt er. «Aber im Moment kann ich mir sehr vieles vorstellen.»