, 26. Februar 2024
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Familiäre Ästhetiken in der Kunsthalle St.Gallen

In den ersten beiden Ausstellungen dieses Jahres zeigt die Kunsthalle St.Gallen Werke von Marta Margnetti sowie der «New HEADS» JPP und Alexandra Sheherazade Salem. Sie stellen Fragen zu Entfremdung, Zugehörigkeit und Heimkehr. Dabei legen sie neben einer Vielfalt an Materialien, Lichtakzenten, Textkunst und olfaktorischen Erlebnissen einen Fokus auf den Klang von Erinnerungen. von Lilli Kim Schreiber

Marta Margnetti, «Serenata», Ausstellungsansicht. (Bilder: Kunsthalle St.Gallen/E. Sommer)

Introspektion ist gegenwärtig wieder sehr aktuell. Auto-analytisch und oft gespickt mit sehr persönlichen Bezügen, geben Autor:innen, Regisseur:innen und Künstler:innen den Blick frei auf das, was sich dem Publikum häufig entzieht, aber so ausschlaggebend für den Werdegang vieler Kulturschaffender ist: das familiäre Umfeld.

Was man bisher vor allem aus der französischen Literatur und Autor:innen wie der Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux, Didier Eribon oder dessen literarischem Zögling Eduard Louis kennt, zeigt sich vermehrt auch in der bildenden Kunst. In zwei separaten, aber inhaltlich miteinander verbundenen Ausstellungen zeigen die drei in der Schweiz lebenden und arbeitenden Künstlerinnen Marta Margnetti, JPP und Alexandra Sheherazade Salem in der Kunsthalle St.Gallen ihre Arbeiten, die alle ebenfalls auf das familiäre Umfeld Bezug nehmen, was in der gegenwärtigen Kunst geradezu erfrischend wirkt.

Die Ausstellung «Serenata» der Tessiner Multimediakünstlerin Marta Margnetti markiert ihre bisher grösste institutionelle Werksschau in der Deutschschweiz. Die gemeinsame Ausstellung der Künstlerinnen JPP und Alexandra Sheherazade Salem ist zugleich eine Ehrung für deren Auszeichnung mit dem Nachwuchsförderpreis «New HEADS» des Masterstudiengangs Bildende Kunst an der HEAD (Haute école d’art et de design) in Genf.

Generationslinien in Tonpaneelen

Der erste Ausstellungsraum von Marta Margnetti wirkt auf den ersten Blick überraschend steril. Eine Mischung aus Baumaterialien, Fundobjekten aus Wohnungen und abstrahierten, teilweise geometrischen und teilweise natürlich gewachsenen Figurationen in warmen Erdtönen fällt ins Auge. Bei genauerem Hinsehen findet man sich jedoch in einem häuslichen Kontext wieder, der durch terracottafarbene Reliefs geprägt ist.

Marta Margnetti, <em>Wisteria Drops</em>, 2024 (links); <em>Homeplace placeholder</em>, 2023 (rechts).

Marta Margnetti, Wisteria Drops, 2024 (links); Homeplace placeholder, 2023 (rechts).

In diesen erforscht Margnetti «Generationslinien», indem sie verschiedene Materialien in die Tonpaneele integriert oder diesen als zweite Schicht aufpfropft. In den Materialien findet die Künstlerin eine Analogie zur menschlichen Haut, die die Spuren des Sozialisationsprozesses widerspiegelt, wobei die familiäre Erfahrung wohl die prägendste bleibt. Ein gemeinsames Element, das die Ausstellung von Margnetti mit jener von JPP und Alexandra Sheherazade Salem thematisch verknüpft.

Klänge aus dem Küchenschrank

Im Zentrum von Margnettis Ausstellung findet sich die audiovisuelle Arbeit credenza (deutscher Titel: Selbstporträt mit Mama), die in einem reduzierten Küchenschrank aus den 60er-Jahren platziert ist. Hieraus ist eine Klangarbeit zu hören, die nur auf unbewussten Lauten eines Gesprächs zwischen der Künstlerin und ihrer Mutter reduziert ist. Übrig bleiben lediglich klickende Sprechgeräusche.

Marta Margnetti, <em>Autoritratto con mamma (credenza)</em>, 2024.

Marta Margnetti, Autoritratto con mamma (credenza), 2024.

Zuhören, Nachdenken und Erinnern sind wiederkehrende Elemente in Margnettis multimedialer Formsprache. Aber es sind auch vor allem die alltäglichen Gerüche, die bei Margnetti das Erinnern konstituieren. Ergänzt wird die Ausstellung durch die olfaktorische Komponente des omnipräsenten Tongeruchs, der an warme Abende im Tessin erinnert.

Je länger man sich in der Ausstellung aufhält, desto mehr ändert sich die Wahrnehmung Die Ausstellung wird zu einem heimischen Kosmos, der von Margnettis eigener familiärer Prägung durchwebt ist und in vielerlei Hinsicht eine Hommage an die weiblichen Familienmitglieder darstellt.

Dies zeigt sich auch im hinteren Teil der Ausstellung, wo eine Videoarbeit auf einem Röhrenfernseher in Dauerschleife läuft. Das Rauschen des Geräts und das körnige, pixelige Bild, das sich in seinem Zusammenspiel von Farben den Tonpaneelen anpasst, verleiht der Videoarbeit eine intime Gestik zwischen Margnetti und ihrer Mutter.

Marta Margnetti, <em>Autoritratto con mamma (pizzicotti)</em>,2024.

Marta Margnetti, Autoritratto con mamma (pizzicotti), 2024.

In der Arbeit Auditratto con mamma (deutsch: Kneifen) wird eine Szene nachgespielt, die das ritualisierte Kneifen in die Wange von Margnettis Grossmutter in Nahaufnahme zeigt. Die Künstlerin ist dabei kaum zu erkennen, was die Erinnerung an individuelle familiäre Rituale in ihrer kollektiven Strahlkraft unterstreicht.

Entwurzelung und Wiederkehr

Ein in kurzen Intervallen rot blinkendes Neonschildes mit der Aufschrift «OASI», das Margnetti 2024 an einer Autobahnraststätte gefunden hat, leitet in die zweite Ausstellung über, die gemeinsame Ausstellung der «New HEADS» JPP und Alexandra Sheherazade Salem. Hier findet man sich in einem multimedialen kollektiven Gedächtnis wieder und aufgrund der an ein Archiv erinnernden Ordnungsästhetik mühelos zurecht. Besucher:innen werden hier eingeladen, sich auf Spurensuche nach postkolonialer Erinnerungskultur, Hybridität und Fragen nach den vielfältigen Identitätskonstrukten zu begeben, mit denen sich viele Menschen mit Migrationshintergrund täglich konfrontiert sehen.

Marta Margnetti, <em>Oasi (batticuore)</em>, 2024.

Marta Margnetti, Oasi (batticuore), 2024.

Auch die Künstlerin Alexandra Sheherazade Salem, deren Weltbild durch die Migrationserfahrung ihrer Eltern geprägt ist, stellt Fragen. Ihr Werk jāt khāli (deutsch: „du fehlst“) zeigt in einem provisorisch anmutenden Wohnzimmer eine Videoarbeit, die die Geschichte der oft schmerzhaften Heimkehr erzählt. Auch hier wird die Rolle der Mutter als zentrale Figur der Familie hervorgehoben. In einem Gespräch mit dem Sohn, der in den Iran zurückgekehrt ist, werden Migrationserfahrungen in einem alltäglichen Dialog beim Teetrinken und einer Partie Backgammon innerhalb eines von Sheherazade Salem rekonstruierten Gesprächs mit ihrem Vater untersucht. Dabei geht es um die kollektive Lebensgeschichte vieler Migrant:innen. Die mit Bildern von einem Iran-Besuch von 2018 collagierte Videoarbeit thematisiert Schuldgefühle gegenüber den Daheimgebliebenen, Scham wegen der eigenen Privilegien und Lebenschancen sowie das Gefühl der Entwurzelung. Ob sich jedoch etwas zum Besseren gewandt hat, lässt Sheherazade Salem bewusst offen.

New HEADS: JPP & Alexandra Sheherazade Salem, Ausstellungsansicht.

New HEADS: JPP & Alexandra Sheherazade Salem, Ausstellungsansicht.

Die Sprache als zentrales Element der familiären Zugehörigkeit eines So-und-nicht-anders-geworden-Seins nutzt auch die Künstlerin JPP, deren Name ein Akronym für «J’en peux plus» («ich kann nicht mehr») ist. Dieser Name ist bereits ein konzeptioneller Hinweis auf ein dominierendes Gefühl einer ganzen Generation, das aus der kollektiven Erfahrung sozialer Differenzierung und Unterdrückung gewachsen ist.

Die tief dunkelblaue Textkunst der typografischen Arbeit Ilaçi i zemrës (oder The hearts remedy II), welche die erste Sure des Korans wiedergibt, dominiert den zweiten Teil der Ausstellung visuell. JPP bedient sich hier der Erinnerung an die kindliche Handschrift ihrer Mutter und zeigt dabei, wie verwoben und determinierend familiäre Prägung und Religion für Zugehörigkeit und Ausgrenzung in sozialen Gefügen sein können. Die intertextuelle künstlerische Produktions- und Ausdrucksweise sowie das Thema der kollektiven Entwurzelung und des Erinnerns vereinen beide Künstlerinnen. Ihre Arbeiten wecken Neugierde, in Zukunft mehr von ihnen zu sehen.

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