, 12. März 2018
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Fegefeuer statt Paradies

Markus Imhoof hat auf dem Mittelmeer, in Flüchtlingscamps, Gemüseplantagen und an der Schweizer Grenze in Chiasso gefilmt. Sein Film «Eldorado» gibt den Flüchtenden aus Afrika ein Gesicht. An der Premiere am Sonntag im St.Galler Kinok erinnerte Imhoof an die Mitverantwortung der reichen Länder.

Bevor der Film startet, sagt Regisseur Markus Imhoof vor der Leinwand im St.Galler Kinok nur einen Satz. Ein Flüchtlingsboot auf dem Mittelmeer müsse man sich so vorstellen: halb so gross wie der Kinoraum, vollgepfercht mit mindestens so vielen Menschen.

So ist es denn auch zu sehen in den ersten Minuten des Films. Ein Armeehelikopter kreist über dem Meer, nimmt einen winzigen Punkt ins Visier, noch könnte man sich in einem Actionfilm fühlen, aber dann beim Näherkommen ist es ein Gummiboot, überfüllt mit Frauen, Männern, auch Kleinkindern. Italienische Marinesoldaten werfen Rettungswesten ins Boot, holen die Flüchtlinge ins Rettungsboot, fahren sie in den Schlund des Kriegsschiffs, wo sie mit einer Nummer versehen, identifiziert, fürs erste versorgt und gesundheitlich untersucht werden.

«Welcome. Bienvenu», sagt der Offizier im weissen Schutzanzug, den hier alle Helfer tragen. Er sagt es nicht ironisch, es ist ernst, auch das Versprechen: «Sie sind hier in Sicherheit.» Aus den Gesichtern der Flüchtlinge spricht alles: Schrecken, Erleichterung, Erschöpfung, Starre.

Markus Imhoof hat auf der «San Giusto», dem Kriegsschiff der italienischen Marine filmen können. Es sind Bilder, wie sie das Kinopublikum nicht zum ersten Mal zu Gesicht bekommt, unter anderem dank Gianfranco Rosis Fuocoammare – wenn es denn bereit ist, «zu sehen, was man eigentlich gar nicht sehen will», wie Imhoof selber im Vorspann sagt. Bilder aber auch, wie sie inzwischen nicht mehr zu filmen wären: Die Rettungsaktionen auf hoher See, unter dem Namen «Mare nostrum» bekannt geworden, hat Italien eingestellt. Jetzt unterstützt Italien (und mit ihm die Schweiz) die libyschen Behörden darin, Flüchtlingsschiffe erst gar nicht auf Kurs Richtung Europa fahren zu lassen, sondern sie vorher abzufangen.

Vom Schiff in die «Sklaverei»

Das Kriegsschiff beherbergt am Ende der Fahrt 1800 Flüchtlinge, aus immer neuen Booten aufgelesen. Die Abläufe auf dem zur Arche Noah umfunktionierten Schiff wirken bürokratisch, effizient, routiniert, die Behandlung der Flüchtlinge ist respektvoll wie Imhoofs Kamera auch: Sie geht nahe, aber bleibt immer sorgsam und fern von allem Voyeurismus. Die Gesichter sagen genug.

 

Eldorado: Der Filmtitel glitzert so golden wie die Schutzblachen, die an die Migranten verteilt werden. Wie die Hoffnung auf das Paradies Europa, welche sie auf ihrer lebensgefährlichen Reise begleitet. Für viele der  Geflüchteten bleibt es aber beim «Purgatorio», dem Fegefeuer nach dem «Inferno» der Flucht, wie der Gewerkschaftsaktivist Raffaele Falcone sagt, der Imhoof auf eine der Blechhüttensiedlungen mitnimmt am Rand der riesigen Tomatenplantagen. Hier, im Gran Ghetto di Rignano, regiere die Mafia; Arbeit sei nur schwarz möglich, unter Sklaverei-ähnlichen Verhältnissen. Die Männer werden zur Erntearbeit gezwungen, die Frauen zur Prostitution.

Imhoof filmt mit unter der Jacke versteckter Kamera das Elend. Und Falcone erinnert daran, dass die Tomaten, die hier geerntet werden, auf unseren Tellern landen und in Büchsen in Afrika gekauft werden, von dem bisschen Geld, dass die Flüchtlinge aus demselben Afrika hier verdienen und an ihre Familien zurückschicken. Globalisierte Perversionen – auf die es weder eine einfache Antwort noch einfache Schuldzuweisungen gebe, wie der Regisseur nach dem Film im Gespräch mit dem Publikum sagt.

Imhoof hat sich mit viel Bürokratie-Aufwand Zugang verschafft an Orte, die man sonst nicht sieht: das Camp in Süditalien oder die Busse, mit denen die Flüchtlinge im Land verteilt werden. Vieles durfte er nicht filmen, sagt er nach der Premiere. Anderes bleibt unaussprechlich: so das Grauen, das die Eritreerin Rahel auf der Flucht und im libyschen Gefängnis durchgemacht hat und worüber sie vor Scham nicht sprechen will und kann. Rahel hat es in die Schweiz geschafft, sie ist als Betreuerin in einem Heim tätig gewesen, aber jetzt darf sie, nach ihrem abgelehnten Asylentscheid, nicht mehr arbeiten.

Nothilfe statt sinnvolle und von den Pflegebedürftigen hoch geschätzte Arbeit? «Schreiben Sie Frau Sommaruga eine Karte für Rahel», sagt Imhoof am Schluss. Sein Film beleuchtet auch die Schweizer Asylpolitik, er ist bei einer Befragung des Migrationsamts dabei, lässt sich durch die von Flüchtlingen bewohnten Zivilschutzbunker im bernischen Riggisberg führen oder gibt das Wort dem bernischen Polizeidirektor Hans-Jürg Käser. Der FDP-Mann erinnert daran, dass aus dem ländlichen Bernbiet im 19. Jahrhundert halbe Dörfer ausgewandert seien, auswandern mussten: «Wirtschaftsflüchtlinge», sagt Käser – nur damals aus der anderen Richtung.

Seinen Film hat Markus Imhoof unter anderem Rahel gewidmet. Und Giovanna. Es ist die Parallelgeschichte zur aktuellen Flüchtlingstragödie. Giovanna kommt als Kriegskind aus Italien 1945 zur Erholung in die Familie Imhoof, ein paar Jahre älter als der Bub Thomas. Nach sechs Monaten muss sie zurück; emotionale Bindungen an die Gastfamilie durften erst gar nicht aufkommen, verlangten die damaligen Gesetze. Doch mit Briefen wird der Kontakt aufrecht erhalten. 1949 kommt sie ein zweites Mal in die Schweiz, nach langen Bemühungen von Imhoofs Vater. Kurz nach ihrer erneuten erzwungenen Rückkehr nach Italien stirbt Giovanna 14-jährig.

Giovanna und Markus, Bild aus dem Familienarchiv.

Giovannas Geschichte sei die eigentliche «Keimzelle» für seine späteren filmischen Arbeiten, Das Boot ist voll und Eldorado, sagt Imhoof. Und bittet am Schluss das Publikum: «Warnen Sie Ihre Freunde nicht vor Eldorado – sagen Sie vielmehr, der Film sei auch eine Liebesgeschichte.»

Die Mitverantwortung der reichen Länder

Einfache Rezepte habe er nicht, sagt der Regisseur. Kurzfristig ginge es darum, Menschlichkeit über finanzielle Interessen und die herrschende Politik der Abschreckung zu stellen. Aktuell sei die Zahl der Asylgesuche in der Schweiz auf einem historischen Tiefstand, ergänzt Woz-Journalist Kaspar Surber im Gespräch mit dem Regisseur. Eine grosszügigere Politik wäre demnach möglich.

Langfristig, so Imhoof, bräuchte es eine Art Marshallplan für Afrika, auch aus der Einsicht heraus, dass der reiche Norden für das Elend des Südens mit verantwortlich ist. Dagegen und gegen das herrschende Ungleichgewicht könne man durchaus etwas tun – zum Beispiel, indem man die Konzernverantwortungs-Initiative unterstütze, welche die Schweizer Konzerne zu entwicklungspolitisch verantwortlichem Handeln zwingen will und voraussichtlich in einem Jahr zur Abstimmung kommt. Oder mit einer Unterschrift unter die Petition des Heks «für sichere und legale Fluchtwege»: Sie fordert den Bundesrat auf, legale Zugangswege zu schaffen, über die schutzbedürftige Menschen sicher und unversehrt in die Schweiz einreisen können. Zugleich sollen die Kontingente für Flüchtlinge auf jährlich 10’000 Personen erhöht werden.

Imhoofs Film hat bisher in den Medien und an Festivals wie der Berlinale viel Applaus erhalten – aber auch einige Kritik. Etwa, ob der Film nicht «schöne Bilder für das grosse Elend» produziere, Bilder zudem, die Europa schon reichlich gesehen habe. Die Kritik mutet angesichts von über 30’000 Toten im Mittelmeer zynisch an. Von den Bildern und den Gesichtern dieses Films – Gesichtern von jungen Menschen, die für den Traum von einem lebenswerten Leben ihr Leben aufs Spiel setzen – kann es kein «Zuviel» geben.

 

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