, 26. Januar 2023
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Flucht als letzter Ausweg

Repression, Drohungen, Gewalt, Gefängnisstrafen: Das Leben in der Türkei war für Fesih Kaya kaum mehr auszuhalten. Also entschloss sich der Kurde zur Flucht – und liess seine Frau und die gemeinsamen Kinder zurück.

Fesih Kaya ist im vergangenen Sommer in die Schweiz geflüchtet. (Bild: dag)

«Was wir zu erzählen haben, ist schmerzhaft», sagt Fesih Kaya. Mit «wir» meint er sein Volk, die Kurd:innen. Und Fesih hat viel zu erzählen. Von der alltäglichen Repression des türkischen Staates gegenüber der kurdischen Bevölkerung, von der Willkür der Justiz, von «100 Jahren Unterdrückung».

Die Türkei versuche systematisch, die kurdische Politik und die Menschen, die sich für diese einsetzen, auszulöschen. «Man muss jahrelang dort leben, um zu verstehen, wie dreckig der Staat ist, mit welchen Methoden er operiert.» Polizei, Armee, der ganze Staat sei in den Händen von Staatschef Recep Tayyip Erdoğan.

Die Erinnerung ist schmerzhaft

Der 34-jährige ist diesen Sommer aus der Türkei in die Schweiz geflüchtet. Seit vier Monaten ist er nun im Asylzentrum Thurhof in Oberbüren. Zusammen mit anderen Kurden, die vor den Repressionen des türkischen Staates geflohen sind, aber auch mit Türken, die als Anhänger der Gülen-Bewegung ihre Heimat verlassen haben, verlassen mussten. «In der Türkei hat jeder für seine Sache gekämpft, heute sitzen wir vereint in einem ausländischen Flüchtlingsheim, weil wir in der Heimat verfolgt werden.»

Man merkt Fesih beim Gespräch, bei dem ein Übersetzer anwesend ist, an, dass vieles tatsächlich schmerzhaft ist. Während er die Fragen beantwortet, zieht er die Augenbrauen immer wieder zusammen. Manchmal bloss, weil er nachdenkt, während er erzählt. Und manchmal wegen des Schmerzes, der an seinen Worten haftet, man spürt es an der Stimme, an der Mimik. Es sind die Momente, in denen er seinen Blick abwendet, die Augen schliesst, als wolle er den Blick vor seinen eigenen Erinnerungen verschliessen. Als wolle er das Echo der Vergangenheit auslöschen. Es sind jene Momente, in denen sich seine dunklen Augen verfinstern.

Vom Onkel und der Schwester verraten

Seine Flucht in die Schweiz dauerte etwas mehr als zwei Wochen. Davon will Fesih nicht erzählen, auch nicht darüber, über welche Route er in die Schweiz kam. Eigentlich hatte er zunächst Frankreich als Ziel erkoren. Doch als er erfuhr, dass es in Frankreich viel komplizierter sei, den Familiennachzug zu organisieren, entschied er sich für die Schweiz. Er hofft darauf, seine Frau und die beiden Kinder, zwei und vier Jahre alt, dereinst hierher holen zu können, wenn sein Asylverfahren abgeschlossen ist. «Ich habe diesen Weg nur für sie gemacht.»

Doch warum floh Fesih? Er sei «unter Beobachtung» der türkischen Behörden gestanden, sagt er. Das habe zum einen mit seinem politischen Engagement in der HDP (Demokratische Partei der Völker), die sich für die Interessen der Kurden und für eine Dezentralisierung und Demokratisierung der Türkei einsetzt, zu tun.

Zum anderen sei er im vergangenen Jahr von der Polizei befragt worden, weil ihn sein Onkel und seine eigene Schwester verraten hatten. Sie hätten gegenüber den türkischen Behörden über ihn ausgesagt und behauptet, er und seine Familie arbeiteten aktiv für die PKK. Dies sei eine Methode der Türkei, Kurden unter dem Vorwand einzusperren. Die Schwester, die unter Druck gesetzt worden sei, habe diesen Vorwurf inzwischen zurückgezogen. Gegen Fesih laufen aber noch weitere Verfahren in der Türkei.

Im Gefängnis gefoltert

Fesih, der sieben Geschwister hat, kommt 1988 in einem Vorort von Diyarbakır (Kurdisch: Amed), einer kurdischen Hochburg im Südosten des Landes, zur Welt. 1994 muss die Familie in die Stadt ziehen, weil der türkische Staat in den Dörfern das Dorfschützersystem einführt. Auch seinem Vater sei angeboten worden, «Dorfschützer» zu werden, also regierungsfeindliche beziehungsweise prokurdische Einwohner:innen zu verpfeifen. Er habe abgelehnt und sei deshalb ein halbes Jahr ins Gefängnis gekommen. Schon als kleines Kind habe er «den Faschismus der Türkei» erlebt, sagt Fesih. Er habe gesehen, wie Dörfer niedergebrannt worden seien.

Auch Fesih sass schon zwei Jahre im Gefängnis. Er hatte sich 2015 als Teil einer Jugendgruppe an den Protesten in Diyarbakır beteiligt. «Wir haben nicht mit Waffen gekämpft, sondern uns nur gewehrt.» Mit einem Bagger hatte Fesih, der beruflich verschiedene Maschinen und Geräte auf Baustellen bedient, Ziegelsteine für die Kampfhandlungen bereitgelegt – und wurde verhaftet. Er sei nur freigekommen, weil die Co-Präsidentin der örtlichen DBP ausgesagt habe, er habe nicht gewusst, wofür er mit dem Bagger die Ziegelsteine ausheben muss. Das hätten ihr die Behörden geglaubt, sie im Gegenzug aber zu einer noch härteren Strafe verurteilt. «Und durch die Folter im Gefängnis hat sie ihren Verstand verloren.»

Im Gefängnis gefoltert

Über seine eigene Zeit im Gefängnis will Fesih nicht reden. Die Erinnerung daran ist zu schmerzhaft. Man habe ihn gefoltert. Mehr will er nicht dazu sagen. Er habe bisher nur mit seiner Frau darüber gesprochen, sonst mit niemandem. Nach der Freilassung habe er sich der HDP angeschlossen. Für die Partei habe er in seinem Stadtteil Neumitglieder angeworben, seine Frau sei ebenfalls in der Partei aktiv. «Wir machen nichts Verbotenes, aber im Auge des Staates sind wir gefährlich.» Wer in der Türkei andere Parteien als die AKP unterstützt, wird gerne beschuldigt, terroristische Propaganda zu machen.

Der türkische Staat wende drei Arten der Repression an, um die kurdischen Aktivist:innen mundtot zu machen: jemanden einzusperren, jemanden umzubringen – oder jemanden zum Spion zu machen, damit er die eigenen Leute verpfeift. Letzteres geschehe durch Belohnungen oder durch Drohungen. «Auch mir haben sie Geld geboten, 100‘000 Lira, wenn ich mit ihnen kooperieren würde. Doch ich bin nicht käuflich. Aber eines Tages stand auch ein Jeep mit maskierten Personen vor meinem Haus. Die Bedrohung ist also real.» Ein Bekannter von ihm sei 2019 am helllichten Tag umgebracht worden, weil er sich geweigert habe, als Spion mit den türkischen Behörden zu kooperieren.

Willkür statt Rechtsstaat

Auch Fesihs Familie hat die Härte der türkischen Justiz mehrfach zu spüren gekommen. Sein Vater wurde zu insgesamt 17 Jahren Haft verurteilt, unter anderem weil er vor zehn Jahren am Begräbnis eines kurdischen Kämpfers eine Rede hielt. Sieben Jahre hat er abgesessen, gegen den Rest läuft noch ein Rekurs. Sein Schwager sitzt derzeit eine 24-jährige Haftstrafe ab. Er sei in seinem eigenen Auto mit Leuten aus der PKK unterwegs gewesen und aufgegriffen worden, weil man ihn verraten habe. Einen Rechtsstaat mit ordentlichen Verfahren gebe es nicht, es herrsche Willkür. Er kenne Leute, die seit 15 Jahren im Gefängnis sässen – aufgrund «anonymer Hinweise».

Er selbst sei bei der Arbeit auf dem Bau in Ankara beispielsweise von türkischen Mitarbeitern angegriffen worden, weil er immer wieder seine kurdische Identität verteidigt habe. Dies sei das Leid und die Realität des kurdischen Volkes in der Türkei.

«Wichtig ist, dass wir einen Status als Volk bekommen»

Doch was wünscht sich Fesih Kaya für das kurdische Volk eigentlich, wofür kämpft er? Er träume von Autonomie für sein Volk, von Föderalismus, «von einem System, in dem die Menschen Respekt voreinander haben», antwortet er. Dabei sei es ihm «nicht wichtig, dass wir einen Staat mit einer festen Grenze bekommen, sondern einen Status als Volk.»

Eine Lösung wie die Autonome Region Kurdistan im Irak lehnt er jedoch ab: «Uns ist das System in der Autonomie wichtig. Das System im irakischen Teil Kurdistans ist patriarchal und lehnt sich eigentlich an den Nationalstaat, was wir ablehnen.» Das System des demokratischen Konföderalismus in Rojava (Westkurdistan), dessen zentraler Bestandteil die Gleichberechtigung aller Menschen ist, entspreche seiner Vorstellung von kurdischer Autonomie. Und dann sagt er jenen Satz, der selbstverständlich sein sollte, der aber auch in der Schweiz erst seit 50 Jahren in der Verfassung verankert ist: «Jeder Mensch erwirbt mit der Geburt ein Mitbestimmungsrecht. Wer gibt den Männern das Recht, zu entscheiden, ob Frauen auch wählen und abstimmen können oder nicht? Die Macht des Männlichen muss kaputt gehen.»

Viele Mittäter – auch Europa

Für die Situation der Kurd:innen macht Fesih die westliche Welt mitverantwortlich. Europa schaue zu, wie die Regierung Erdoğan systematisch kurdische Gebiete angreife und Menschen umbringe, ja sie liefere sogar Waffen an die Türkei. Für eine Lösung nimmt Fesih auch die westliche Welt in die Pflicht: «Es wird nicht reichen, wenn sich nur die Kurden erheben. Es braucht auch die Solidarität der europäischen Staaten. Sie können nicht länger schweigen, sondern müssen Stellung beziehen.» Das gelte nicht nur bezüglich der Kurd:innen. «Der ganze Nahe Osten muss demokratisiert werden.»

Angst, selbst in der Schweiz die Repression des türkischen Staates zu spüren, hat er nicht. «Wovor soll ich denn Angst haben? Ich habe alles zurückgelassen, was ich verteidigt und wofür ich gekämpft habe und was mir wichtig ist – meine Kultur, meine Identität, meine Familie.» Letztlich sei es ihm bei seiner Flucht nur um eins gegangen: Sich und seiner Familie eine Zukunft mit Perspektive zu ermöglichen.

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