, 16. Oktober 2015
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Free Jazz oder was man dafür hält

Jazz ist, wo die Bastarde wohnen. Jazz ist überall und hat trotzdem ein Imageproblem. Dabei hätte er eigentlich ein wunderbar inspirierendes Wesen. Das beweist zum Beispiel der Rap.

The Pharcyde, 1994

Tschääss. Jazz hört man. Oder auch nicht. Ich habe jahrelang Kornett gespielt, darum mag ich Jazz. Andere sind da heikler: «Jazz ist organisierter Musikinstrumentenmissbrauch durch Intellektuelle», heisst es auf Uncyclopedia, dem satirischen Gegenstück zu Wikipedia. Laut den Autoren geht Jazz ungefähr so: «Überlege dir spontan eine Melodie und spiele dann an jedem Ton knapp vorbei. Rhythmus ist für Anfänger, du aber bist ein Genie. Mach weiter, egal was passiert, Hauptsache es dauert lange. Im Zweifelsfall mach’s nochmal. Nicht erlaubt ist, was gefällt.»

Böse. Aber auch nicht ganz falsch. Jazz hat definitiv ein Imageproblem. Oder anders gesagt: Wer heute mit seiner Leidenschaft für Jazz auftrumpfen will, wird die Disco ziemlich sicher alleine verlassen. (Ausser man geht an einen Ort, wo die Gäste immer noch Disco dazu sagen.) «Verkopft», «abgehoben », «etwas für Gelangweilte», «Alteleutemusik», «belanglos », «verhochschult» – alles spontane Reaktionen von Bekannten auf die Frage, was von Jazz zu halten ist.

Natürlich kamen auch nettere Statements, doch selbst die Jazzer scheinen manchmal ihre Mühe mit ihm zu haben: «Jazz ist so intellektuell, er zielt auf das Gehirn, aber rührt nicht das Herz.» Gesagt hat das Al di Meola, der in den 70ern als einer der besten Jazzgitarristen gefeiert wurde. Vermutlich hat er damit eher den Verlust des Verspielten gemeint, die zunehmende Akademisierung – nicht das Jazz-Wesen an sich. Hoffe ich.

Zu dumm für Free Jazz

Trotzdem: Jazz ist schwierig. Auch, weil man gar nicht so recht weiss, was diese Musik eigentlich ist. Swing? Dixie? Blues? Oder einfach was mit Saxophon?

«Wenn ich an Jazz denke», erklärte eine Kollegin, «sehe ich rollkragentragene Hochschullehrer, Weisse, die sich mit einer Zigarre im Mund gegenseitig das Ego streicheln, während nebenan schales Gedudel aus einer Bang & Olufsen kommt.»

joe-jonas-mit-katze

gefunden auf promiflash.de

Woher hat sie dieses Bild? Wie konnte es passieren, dass Jazz heute regelmässig mit vermeintlichen Eliten in Verbindung gebracht wird? «Wisst ihr, der Neger will sich nicht an der Musik festklammern. Aber er braucht sie. Sie bedeutet etwas, und durch sie bedeutet er etwas», schrieb der Jazzer und Klarinettist Sidney Bechet, selber «ein Neger», in seiner 1960 erschienenen Autobiografie.

Mag sein, dass er damit ein fragwürdiges Bild transportiert hat; das des musizierenden Baumwollpflückers, der «breitgrinsend auf dem Boden hockt und sich mit seinem Banjo vergnügt», wie Michael Jacobs in seinem Buch All that Jazz kritisiert. Doch so viel ist sicher: Bechets Musik war Ausdruck des Widerstands. Im New Orleans der 50er-Jahre, wo die Gesellschaft ihren afrikanischen Sklaven keine eigene Kultur zugestehen wollte, wirkte sie identitätsstiftend und inspirierte andere. (Bechet selber war Sohn eines Schuhmachers.)

Marc Jacobs: All that Jazz – Die Geschichte einer Musik. Reclam Taschenbuch, Leipzig 2007.

David Dufresne: Rap-Revolution. Atlantis Musikbuch-Verlag, 1997.

Martin Büsser: On The Wild Side – Die wahre Geschichte der Popmusik. (Erstausgabe 2004). Mainz. Ventil Verlag 2013.

Besagte Kollegin, nennen wir sie Joelle, akzeptierte diese Einwände, hakte aber trotzdem nach.«Mal ernsthaft…», meinte sie kopfschüttelnd, «muss das denn wirklich sein mit diesem Free Jazz? Gibt es wirklich Leute, die sich das länger als fünf Minuten anhören können?»

Wir mussten ein bisschen lachen. Wenn es nämlich etwas gibt, das bei Jungen noch schlechter wegkommt als Jazz, dann ist es Free Jazz. Oder das, was sie dafür halten. Die Erklärung ist immer ungefähr die gleiche: Free Jazz verstört. «Irgendwie verstehe ich diese Musik einfach nicht», war auch Joelles Begründung. «Sie gibt mir das Gefühl, dass ich zu dumm dafür bin.»

Geht mir ähnlich. Free Jazz oder das, was ich dafür halte, ist auch nicht mein Ding. Dafür anderes. Ich steh auf Musik, die meine Hörgewohnheiten in Frage stellt. Ich mag es, wenn Strukturen aufbrechen, verschwimmen, entgleiten, wenn die Standards kippen und seltsame Harmonien am Horizont aufgehen. Ich mag die wohlige Unsicherheit. Sie hält mich in Bewegung.

Kulturelle Resistance

Darum geht es im Free Jazz oder dem, was die Fachwelt dafür hält; Gewohntes überwinden, totale Improvisation. Free Jazz meint Revolte gegen die Tradition. Ornette Coleman, einer seiner Vordenker, brachte es auf den Punkt: «Let’s play the music and not the Background», forderte er 1959. Mit «Background » meinte der New Orleanser Saxofonist die damals geltenden Hörmuster und Konventionen im Jazz. Diese galt es zu überwinden, wollte man sich nicht von ihnen einschränken lassen.

17th November 1959: Ornette Coleman plays the saxophone and Don Cherry (1936-1995) plays the trumpet at the 5 Spot Cafe, New York City. (Photo by Bob Parent/Hulton Archive/Getty Images)

Ornette Coleman im 5 Spot Cafe in New York. Bild: Bob Parent

Doch Free Jazz beschränkte sich nicht nur auf den künstlerischen Aspekt, der kollektive Normbruch einer ganzen Schar von Jazzern hatte auch politische Ursachen: Martin Luther King zog in den Kampf für die «civil rights» und mit ihm viele Künstler. «Free Jazz war – nicht nur, aber doch in einem starken Masse – Protestmusik», schreibt Jacobs. Durch ihn konnten schwarze Künstler wie Coleman, Charles Mingus oder Archie Shepp «ihre Enttäuschung, ihre Wut, ihren Zorn hinausschreien».

Shepp, ein Saxofonist und Intellektueller, war überzeugt, dass die Musik und ihre Entwicklung in den gesellschaftlichen Strukturen wurzeln. Er hoffte, mittels Free Jazz könnten dereinst neue künstlerische, soziale, kulturelle und ökonomische Massstäbe gesetzt werden.

Jazz als Hort und Quelle kultureller Resistance, damit kann Joelle leben. Nur hören will sie ihn nicht. Aber damit hatte der Free Jazz auch Anno dazumal schon zu kämpfen. Colemans Bilanz liest sich jedenfalls bitter: «Ich werde nicht geliebt, niemand hat wirkliches Interesse an dem, was ich tue, alle sind nur daran interessiert, darüber zu sprechen und zu schreiben.»

Mittlerweile ist Free Jazz anderen Formen gewichen. Die Haltung ist geblieben: Improvisation, Zusammenspiel und gemeinsame Entwicklung gehören nach wie vor zu den Grundwerten. Doch Jazz versucht die Grenzen längst nicht mehr nur bei sich auszuloten, sondern auch in der Beziehung mit anderen Stilen: ab Mitte der 60er-Jahre hörte man zunehmend Rock- und Funk-Jazz, Fusion oder World Music – alles Bastarde. Weitere folgten, darunter Acid- und Nu-Jazz, Pop-Jazz, Jazz-Rap oder der hoffentlich bald abgehakte Electroswing.

Ob man diese Schubladen ziehen will oder nicht; Jazz ist so gut wie überall. Ich bin ein grosser Rap-Fan. Miles Davis und Herbie Hancock haben mit Rappern und Spoken Words gearbeitet, Branford Marsalis gründete vor über 20 Jahren das Crossover-Projekt Buckshot LeFonque. Umgekehrt tummeln sich im Rap unzählige Künstler und Kollektive mit einer Schwäche für Jazz.

 

Mitte der 90er, in den goldenen Jahren des Rap, waren es vor allem die untergründigen und sozialkritischen Kreise, die auf jazzige Beats setzten, um ihre Botschaft unter die Leute zu bringen und sich vom gemeinen Gangsta-Rap abzuheben. Gang Starr, Jungle Brothers, Eric B & Rakim, The Roots, Digable Planets oder im deutschsprachigen Raum die Jazzkantine gehören vermutlich zu den bekannteren.

Einige Jazz-Rap-Bastarde (oder was man dafür halten kann):

All Natural: Second Nature (Thrill Jockey, 2001)
Awon & Phoniks: Return Of The Golden Era (Sergent Records, 2013)
Danger Mouse & Jemini the Gifted One: Ghetto Pop Life (Lex, 2003)
DdayOne: Heavy Migration (P-Vine Records, 2008)
Ghostpoet: Shedding Skin (Pay It Again Sam, 2015)
The Pharcyde: Bizarre Ride II the Pharcyde (Delicious Vinyl,1992)
Und: So gut wie alles von Rhymesayers Entertainment

Die Rap-Techniken ähneln dem Jazz: Was ist Freestyle, wenn nicht Improvisation? Dasselbe gilt für Turntables und anderes Gerät zur elektronischen Musikerzeugung: Wenn jemand damit fantasieren kann, egal in welchem Genre, ist das nicht auch irgendwie Jazz?

«Als Abwehrwaffe: Jazz»

Diese «Verunreinigung» durch andere Stile passt logischerweise nicht allen. Michael Jacobs bezeichnet obengenannte Bastarde in All that Jazz als «bescheidene Ableger am grossen Stamm der Jazzentwicklung». Hip Hop und Jazz Rap seien «Blüten der lauteren, bunteren und mediengerechteren Art, Elemente aus der Popmusik zu verbreiten». «Man kann sich nur schwer vorstellen, dass zukünftige Musikergenerationen einmal auf dieser Musik aufbauen werden, dazu fehlt ihr wohl das Potenzial», schreibt er. Jazz-Rap sei «nicht innovativ, sondern versucht durch eher oberflächliche Anpassung Anschluss ans multimediale Zeitgeschehen zu finden.» Wenigstens attestiert er ihm noch einen gewissen «Unterhaltungswert».

Kein Wunder hat es der Jazz so schwer hat bei Joelle und anderen. Jacobs Haltung wirkt schon recht blasiert. Ja, Rap ist populär. Unter anderem dank einer guten Prise Jazz. Ihn leichtfertig – ähnlich wie den «Tanzboden-Jazz » oder die «Liftmusik» – als minderwertige «Billigware» abzutun, wäre trotzdem ein Fehler, denn erstens muss populäre Musik nicht per se schlecht sein und zweitens erreicht man damit wenigstens die Leute.

Erinnern wir uns nochmal an Coleman und wie es ihm ergangen ist: Seine Musik vermochte lediglich ein paar Versprengte und Intellektuelle anzuziehen. Was er heute wohl täte? Wahrscheinlich würde er es wie die Ärzte machen. Die habens verstanden:

«Als ich den Punk erfand, da war das alles unerschlossenes Land. Am Feuer sassen die Leute und brieten ihre Beute, und wuschen sich mit Sand – bis ich den Punk erfand», singen sie. «Als ich den Punk erfand, da habe ich eines leider nicht erkannt, skrupellose Exporteure verkaufen für ein paar Ore den Punk auch ans Feindesland. Und die Gefahr ist wirklich eklatant, um nicht zu sagen hochbrisant. Am besten ich schaffe eine Abwehrwaffe, gewaltig und imposant. In mühsamen Forschungsstunden, zum Schutz der Gemeinde und gegen alle Feinde, habe ich den Jazz erfunden.»

Jazz! Lebe Jazz! Lebe!

 

Dieser Text erschien im Oktoberheft von Saiten.

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