Frieda Kellers Zerstörung

Die Zürcher Autorin Michèle Minelli hat einen Roman über einen Kindsmord in St.Gallen geschrieben. Am Freitag ist Buchpremiere im Raum für Literatur im Rahmen des Wortlaut-Festivals.
Von  Ralph Hug

Ein aufsehenerregender Prozess fand im November 1904 in St.Gallen statt. Im Mittelpunkt stand die 25-jährige Damenschneiderin Frieda Keller, Tochter eines Schuhmachers aus Bischofszell. Sie hatte im Hagenbuchwald ihren kleinen Sohn mit einer Schnur erdrosselt und verscharrt. Doch die Leiche kam zum Vorschein und Frieda Keller musste sich den Richtern stellen. Diese verurteilten sie wegen Mordes zum Tode. Es folgte die Begnadigung, Frieda Keller wanderte für 15 Jahre hinter Schloss und Riegel in der St.Galler Strafanstalt St.Jakob, die in der Nähe des heutigen Olma- Geländes stand.

Nach Verbüssung der Strafe war Frieda Keller eine gebrochene Frau. Das Trauma der Tat, aber auch ihre radikale Entblössung in der Öffentlichkeit – der Fall schlug landesweit Wellen – verunmöglichten ihr eine Rückkehr in ein normales Leben. Sie war für immer stigmatisiert und innerlich ausgebrannt. Viele Jahre schlug sie sich noch als Zimmermädchen durch. Schliesslich erkrankte sie, geriet in die Mühlen der Psychiatrie und starb im Jahr 1942 einen einsamen Tod. So weit der Plot, kurz zusammengefasst.

Verstossen und stigmatisiert

Der Ausgangspunkt des Mordes wird in Michèle Minellis historischem Roman Die Verlorene gleich von Anfang klar. Frieda Keller wurde von einem Wirt, bei dem sie als Aushilfe arbeitete, im Keller vergewaltigt und geschwängert. Später machte sich der Täter aus dem Staub, ohne Alimente zu zahlen. Die Autorin macht deutlich, wie die damaligen patriarchalen Gesetze solche Machenschaften schützten. Frieda Keller hingegen musste selber sehen, wie sie sich durchschlug. Der Vater verstiess sie, weil er die Schande einer unehelichen Niederkunft seiner Tochter nicht ertragen konnte.

Aber auch Frieda Keller selbst ertrug den ihr durch die zeitgenössischen Moralvorstellungen auferlegten Druck nicht. Der drohende soziale Ausschluss veranlasste sie, ihr Kind, das Ernstli, in die «Kinderbewahranstalt» Tempelacker zu geben und ihn dort vor der Umwelt zu verbergen. Die Last, ein totgeschwiegenes Kind zu haben, wurde jedoch immer grösser. Ihre prekäre soziale Lage als Schneiderin mit einem geringen Einkommen trug zur wachsenden Verzweiflung bei, die Situation eskalierte im fatalen Kindsmord. Frieda Kellers Suche nach einem bisschen Glück in ihrem Leben endete im Desaster und in der schleichenden Selbstzerstörung.

minelli

Michèle Minelli

Dass es überhaupt so weit kommen konnte, daran waren die engen gesellschaftlichen und moralischen Verhältnisse vor dem Ersten Weltkrieg mitschuldig. Daran lässt die Autorin keinen Zweifel. Bei der Schilderung des Gerichtsprozesses, einem veritablen Justizskandal, legt sie den Finger auf eine sozial blinde, vorurteilsbeladene Männerjustiz, die dem Fall überhaupt nicht gerecht werden konnte. In einer weinseligen Runde am Rand des Prozesses wird über «Weibszimmer» wie Frieda Keller mit ihrem liederlichen Lebenswandel kollektiv der Stab gebrochen. Das einstige Vergewaltigungsopfer wird zur doppelten Täterin gemacht.

Dokumentarischer Roman

Das traurige Schicksal der Frieda Keller beruht auf Tatsachen. Michèle Minelli hat die umfangreichen Prozessakten aus dem St.Galler Staatsarchiv durchgearbeitet und mit zahlreichen Fachpersonen gesprochen. Diese ausführliche Recherche erlaubte ihr die Einbettung des Stoffs in einen historischen Roman, der anhand von fiktiven, aber durchaus realistischen Dialogen und Szenen aufzeigt, wie Frieda Keller, die Verlorene, durchs Leben ging und dabei scheiterte. Das ist spannend und einfühlsam geschrieben, gewisse Manierismen muss man der Zürcher Autorin aber nachsehen.

Michèle Minelli (Tochter des Rechtsanwalts und Sterbehelfers Ludwig A. Minelli) ist eine Spezialistin für historische Stoffe. Sie hat vor drei Jahren unter dem Titel Die Ruhelosen eine europäische Familiensaga verfasst. Zuvor gab sie einen Band mit Porträts von Engagierten im Asylbereich heraus. Vor zwei Jahren verfasste sie unter dem Titel Kanalleiche einen Kriminalroman, der in Zürich spielt. Für Ostschweizer Leserinnen und Leser ist ihr neuestes Werk auch deshalb von Interesse, weil sich die Schauplätze in Bischofszell und in der Stadt St.Gallen befinden. Die Autorin sagt, sie sei nicht zum Stoff, sondern der Stoff sei zu ihr gekommen. Ein befreundeter Journalist stand eines Tages vor der Tür und übergab ihr ein Dossier: «Ich habe da etwas für dich.» Es war eine Geschichte, die geschrieben werden musste.

 

die verlorene

 

Michèle Minelli: «Die Verlorene», Aufbau-Verlag Berlin 2015, erhältlich ab Ende März.

Buchpremiere: Freitag, 27. März, 19.30 Uhr, Raum für Literatur St.Gallen.