, 29. Oktober 2013
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«Fuck you St.Gallen!»

Stell‘ dir vor es ist Auswärtsspiel – und alle gehen hin: Der FC St.Gallen wurde auch in Spanien seinem Ruf gerecht, etwa 1500 Fans sind nach Valencia gereist. Matthias Fässler sollte jedoch nur zehn Minuten vom Spiel sehen – sein Bericht über den Polizeieinsatz, der jetzt auch vom FC selber kritisiert wird.

Von überall her und auf verschiedenen Wegen waren die Fans angereist – wir entschieden uns für den Zug und lernten dort unter anderem einen litauischen Söldner kennen, der sagte, dass er seine schönste Zeit im Afghanistan-Krieg verbrachte habe. Und der ganz überrascht war, dass wir uns vorstellen könnten, eine muslimische Frau zu heiraten.

Je näher wir Valencia kamen, desto eindrücklicher wurde die Küstenlandschaft, desto mehr spürte man durch die Katalonien-Flaggen an jedem zweiten Balkon – im Gegensatz zu 1:12-Fahnen wohl zur Freude des lokalen Mieterverbandes – den katalanischen Separatismus. Nach 21 Stunden via Nancy, Portbou, Barcelona kamen wir in «Balensiya», wie die Araber vor 1300 Jahren den Ort nannten, an.

Das Spiel und das Drumherum
Um halb sieben machen wir uns zum Treffpunkt der St.Galler-Fans auf. Es ist eine gewisse Spannung zu spüren – nicht nur, weil Spanien ein Land mit extrem hoher Polizeipräsenz ist, sondern auch, weil der Marsch der Fans zum Stadion von den Behörden nicht offiziell bewilligt wurde.

Der Platz füllt sich rasch – helle Vokale, Schützengartenbier und «grün-weiss», wohin das Auge blickt. Um sieben Uhr setzt sich die Menge in Bewegung Richtung Stadion, durch enge Gassen, vorbei an Kirchen, quer durch die Altstadt, feuchtfröhlich und friedlich. Weit und breit keine Polizei. Erst als das Stadion näher rückt, eilen von der Seite 20 Polizisten in Vollmontur herbei und begleiten den Marsch bis zum Stadion.

Ich kannte zwar die spanische «Guardia Civil» von einigen Kundgebungen in Madrid, habe aber selten eine solch überforderte und hypernervöse Polizei gesehen. Sogar die Pferde der berittenen Einheit machen einen ruhigeren Eindruck. Doch zunächst bleibt es ruhig, obwohl die Polizei ihre Präsenz auf den letzten Metern nochmals extrem verschärft.

«Hier hast du deine Demokratie!»
Vor dem Stadion wird es dann wild und unschön. Vor uns zerren vier Polizisten an einem Fan, der ein Bier trinkt (was 1500 Fans zuvor auf dem Marsch und in der Innenstadt ausgiebig getan haben) und schlagen ihm und anderen mit den Schlagstöcken das Bier aus der Hand. Einer wird, ohne Bier oder sonst einem Fehlverhalten, aus der Menge gezogen und, abgeschirmt hinter Pferden und Polizisten, mit Schlagstöcken, Fäusten und dem Spruch «Fuck you, St.Gallen!» und «Fuck Footballfans» eingedeckt.

Als er sich nicht wehrt, lassen die vier Polizisten von ihm ab, waschen ihm gar noch das Gesicht mit Wasser ab, um anschliessend Ambulanz und Übersetzer gegenüber zu behaupten, dass sie nichts getan hätten.

Im Gegensatz zu Swansea, wo noch unbewaffnete, zum Scherzen aufgelegte Polizisten den Fans gegenüber standen, sind hier bewaffnete, hochaggressive Polizisten, die offensichtlich auf Eskalation aus sind im Stadion Mestalla. Dieses diente übrigens ironischerweise während dem Bürgerkrieg als Konzentrationslager und Schrottplatz.

Es geht chaotisch weiter: Nachdem mehrere Dutzend Polizisten auch innerhalb des Blocks nicht zimperlich mit den Sanktgaller Fans umspringen und teilweise wahllos Fans mit den Schlagstöcken angreifen, skandieren wir: Ein solches Verhalten sei einer angeblichen Demokratie unwürdig.

Das genügt anscheinend, um einen Kollegen aus dem Block zu ziehen, ihn in einer Ecke unter Flüchen und den Worten «hier hast du deine Demokratie!» zu verprügeln und aus dem Stadion zu schmeissen.

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«Der Kampf ist der Weg – Die Solidarität unsere Waffe – Gegen die Repression.»

Aus Solidarität mit ihm verlassen wir das Stadion bereits nach 10 Minuten wieder. Auch einem älteren Ehepaar ist die Polizeigewalt so zuwider, dass es verschwindet. Die obligaten 90 Minuten Fussball holen wir am nächsten Tag beim Spiel «Levante» gegen «Espanyol Barcelona» nach, wo – oh Wunder – erneut der Gästesektor voll mit schlagstockschwingenden Polizisten ist. Das Lied «Who let the dogs out!?», das bei jedem Tor erklingt, passt wie die Faust aufs Auge.

Normal und selbstverständlich?
Das Erschreckende hier in Valencia war nicht die Gewalt an sich – schliesslich ist man sich sowohl als Schweizer Fussballfan wie jüngst auch als friedlicher Teilnehmer an einer Tanzdemo in Winterthur an polizeiliche Gewalt fast schon gewöhnt – sondern deren Normalität und Selbstverständlichkeit. Die St.Galler Fans waren nicht die ersten, welche die polizeiliche Willkür der «Guardia Civil»zu spüren bekamen, Freiburg und Dortmund machten ähnliche Erfahrungen. Die Frage drängt sich auf, wie es um den Zusammenhang steht zwischen dieser Gewalt- und Repressions-«Kultur» und den 36 Jahren Franco-Diktatur samt dem anschliessenden, äusserst problematischen Übergang in eine Demokratie – unter anderem mit einer allgemeinen Amnestie, einem «Pakt des Schweigens» und der fehlenden Aufarbeitung dieser Zeit.

Was bleibt
Aber der Polizeieinsatz und die 1:5-Niederlage – das Highlight soll gemäss den im Stadion gebliebenen Fans der Rasenmäher nach dem Spiel gewesen sein – vergraulten uns den Aufenthalt in Valencia nicht. Vor allem die Gegensätze in der Stadt sind höchst interessant: Hier der leblose Hafen mit seinen stillgelegten Gebäuden der Formel 1-Strecke oder die aus dem Boden gestampften privaten Werften des America’s Cup, die den Zugang zum Meer versperren, und die überdimensionalen Calatrava-Bauten, die St.Gallens Bushaltestelle am Bohl zur Ameise schrumpfen lassen – dort der Kontrast in Form einer charmanten und authentischen Innenstadt voller Kolonialbauten und engen Gassen, Bars, Restaurants und Läden.

Die Krise im Land, das eine der höchsten Arbeitslosigkeitsquoten der Welt aufweist (mehr als 50 Prozent der unter 24-Jährigen haben keine Arbeit) spürt man selten, beziehungsweise man müsste sie wohl fernab der blühenden Touristenzentren suchen. Etwa in Aussenquartieren, wo Obdachlose im Vorraum von Bankfilialen schlafen oder Schutz suchen.

Der Ausflug nach Valencia hat einmal mehr gezeigt, wie vielschichtig das Phänomen Fussball und seine Fankultur sind, wie viel Leidenschaft, Hingabe, soziale Verflechtungen, kreative Energie vorhanden ist. Und wie falsch es ist, darauf plump, eindimensional und repressiv zu reagieren, ob in Valencia oder St.Gallen. Der FCSG samt seinen Fans hat wie in Swansea auf dem Rasen erneut verloren, aber neben dem Rasen auch viel an Glaubwürdigkeit und Sympathien gewonnen.

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