Gewalt an Frauen: perpetuelles Patriarchat

Um den Schwerpunkt im Juniheft künstlerisch umzusetzen, hat Zoé Aubry zwei ihrer Projekte neu aufgearbeitet. Noms Inconnus und Reproduction. Suture. sind Multimedia-Arbeiten der Schweizer Künstlerin, die sich mit strukturellem Femizid auseinandersetzen.

In den ersten Wochen dieses Jahres wurden in der Schweiz 14 Frauen von Männern getötet. Und im letzten Jahr ist in St.Gallen sowie in Appenzell Ausserrhoden die Anzahl Vergewaltigungen gestiegen. Warum? Und was tut die Ostschweiz dagegen?

Dass Ap­pen­zell In­ner­rho­den der letz­te Schwei­zer Kan­ton war, der 1991 das Frau­en­stimm­recht auf Druck des Bun­des­ge­richts hin ein­ge­führt hat, ist nur ei­nes der zahl­rei­chen Bei­spie­le für die Re­ni­tenz der Schweiz in Sa­chen Gleich­stel­lung. Im be­acht­li­chen «gen­der pay gap», der schlech­ten Ver­ein­bar­keit von Be­ruf und Fa­mi­lie, der Tat­sa­che, dass Ver­ge­wal­ti­gung in der Ehe erst seit 2006 ein Of­fi­zi­al­de­likt ist oder in der Be­nach­tei­li­gung in der Ge­sund­heits­ver­sor­gung fin­den sich wei­te­re. Die Schweiz hat aber auch – und vor al­lem – ein Pro­blem mit der von Män­nern aus­ge­üb­ten Ge­walt an Frau­en.

Ge­mäss der kürz­lich er­schie­ne­nen po­li­zei­li­chen Kri­mi­nal­sta­tis­tik (PKS) des Bun­des kam es in der Schweiz 2024 zu 1028 an­ge­zeig­ten Ver­ge­wal­ti­gun­gen, das sind 257 Fäl­le mehr als im Vor­jahr. Im Kan­ton St.Gal­len stieg die Zahl der Fäl­le so­gar von 25 auf 45 und in Ap­pen­zell Aus­ser­rho­den von 3 auf 9. Die­ser An­stieg kön­ne sich mit der Re­vi­si­on des Se­xu­al­straf­rechts er­klä­ren las­sen, sagt No­ra Mark­wal­der. Die Pro­fes­so­rin für Straf­recht und Kri­mi­no­lo­gie an der Uni­ver­si­tät St.Gal­len un­ter­sucht seit meh­re­ren Jah­ren Tö­tungs­de­lik­te und da­mit auch häus­li­che Ge­walt in der Schweiz, auch im Auf­trag des Eid­ge­nös­si­schen Bü­ros für Gleich­stel­lung (EBG).

Ver­ge­wal­ti­gung lag frü­her nur vor, wenn sie mit ei­ner Dro­hung oder Ge­walt und zwin­gend ei­ner va­gi­na­len Pe­ne­tra­ti­on ein­her­ging. Heu­te ist sie durch die «Nein heisst Nein plus»-Re­ge­lung et­was wei­ter ge­fasst. Op­fer kön­nen auch männ­lich sein und müs­sen nicht mehr zwin­gend nach­wei­sen, dass sie sich mit kör­per­li­cher Ge­walt ge­wehrt ha­ben. Mitt­ler­wei­le ist er­wie­sen, dass vie­le Op­fer von Über­grif­fen als ers­te Re­ak­ti­on in ei­nen Schock­zu­stand («Free­zing») ver­fal­len, al­so er­star­ren, und sich da­her gar nicht im­mer weh­ren kön­nen. Weil die Zah­len in der PKS für ein­ge­gan­ge­ne An­zei­gen ste­hen, ver­mu­tet Mark­wal­der da­her ei­ne mög­li­che Kor­re­la­ti­on.

Auch der ge­sell­schaft­li­che Dis­kurs könn­te da­zu ge­führt ha­ben, dass sich mehr Be­trof­fe­ne trau­en, ei­ne An­zei­ge zu er­stat­ten. Aus­ser­dem ver­zeich­net die bun­des­wei­te Sta­tis­tik ins­ge­samt ei­ne Zu­nah­me bei al­len Ge­walt­de­lik­ten. Im Thur­gau und in In­ner­rho­den sind die Zah­len ten­den­zi­ell ge­sun­ken. Al­so Ent­war­nung? Im Ge­gen­teil. Die Dun­kel­zif­fer häus­li­cher Ge­walt sei nach wie vor sehr hoch, fügt Mark­wal­der an. Das be­stä­tigt auch Sil­via Vetsch vom Frau­en­haus St.Gal­len: «Ob­wohl wir vor kur­zem aus­ge­baut ha­ben, sind wir seit zwei, drei Jah­ren im­mer aus­ge­las­tet.»

Die Zahl ge­tö­te­ter Män­ner sinkt seit 30 Jah­ren – je­ne der Frau­en nicht

Deut­lich wird die Pro­ble­ma­tik ins­be­son­de­re beim Be­trach­ten der Zah­len zu Tö­tun­gen von Frau­en. In der PKS wird nicht ge­nau auf­ge­schlüs­selt, wer wen war­um ge­tö­tet hat. Es gibt ei­ne An­zahl männ­li­cher und ei­ne An­zahl weib­li­cher Tä­ter:in­nen so­wie männ­li­che und weib­li­che Op­fer. Fe­mi­zi­de, Tö­tun­gen von Frau­en auf­grund ih­res Ge­schlechts, wer­den aber nicht als sol­che aus­ge­wie­sen (zum Un­ter­schied zwi­schen Fe­mi­zid und Fe­mi­ni­zid sie­he In­fo­box am En­de). Ge­nau das ist das Pro­blem, da sind sich Po­li­ti­ker:in­nen wie Si­bel Ars­lan (Grü­ne/BS), die mit ih­rem Pos­tu­lat 2024 die Un­ter­su­chung von Fe­mi­zi­den in der Schweiz be­wirkt hat, und Ex­pert:in­nen wie No­ra Mark­wal­der ei­nig.

«Das ist alar­mie­rend»

Nora Markwalder, Professorin für Strafrecht und Kriminologie an der Universität St.Gallen

Um Fe­mi­zi­de zu stop­pen, müs­sen sie be­nannt wer­den – und da­zu braucht es Zah­len, Be­le­ge und Ana­ly­sen. So wie sie Mark­wal­der und ih­re -Kol­leg:in­nen durch­füh­ren. Ge­mäss ih­ren Stu­di­en – die letz­te er­schien im Fe­bru­ar – zeigt sich, dass die Zahl der Tö­tun­gen von Män­nern durch Män­ner seit 1990 zwar kon­ti­nu­ier­lich ab­ge­nom­men hat, je­ne der von Män­nern ge­tö­te­ten Frau­en aber un­ge­fähr gleich hoch ge­blie­ben ist. Das heisst, dass seit über 30 Jah­ren gleich vie­le Frau­en ge­tö­tet wer­den. «Das ist alar­mie­rend», sagt Mark­wal­der.

Bei Tö­tungs­de­lik­ten in der Schweiz sind dem­nach 
54 Pro­zent der Op­fer weib­lich. Die meis­ten die­ser Frau­en (84 Pro­zent) wer­den im fa­mi­liä­ren Um­feld, haupt­säch­lich durch den (Ex-)Part­ner ge­tö­tet. «Da­mit fällt die Schweiz im eu­ro­päi­schen Ver­gleich auf: Bei uns ha­ben wir mehr weib­li­che als männ­li­che Op­fer.» So sind (ge­mäss ei­ner eu­ro­päi­schen Stu­die) die Op­fer in Schwe­den, Schott­land, den Nie­der­lan­den, Finn­land und Est­land zwi­schen 19 und 33 Pro­zent weib­lich, Dä­ne­mark ver­zeich­net mit rund 39 Pro­zent ei­nen et­was hö­he­ren An­teil. In kei­nem der Län­der ist die Quo­te so hoch wie in der Schweiz. Für ih­re Ana­ly­sen ha­ben Mark­wal­der und ih­re Kol­leg:in­nen nicht nur die Zah­len der PKS ver­wen­det, son­dern auch die­je­ni­gen des Swiss Ho­mic­i­de Mo­ni­tors, der In­for­ma­tio­nen von sämt­li­chen ab­ge­schlos­se­nen Ver­fah­ren be­inhal­tet.

Tren­nung als Ri­si­ko­fak­tor

Wenn Frau­en auf­grund ih­res Ge­schlechts ge­tö­tet wer­den, spricht man von Fe­mi­zi­den. Al­ler­dings fehlt bei die­ser De­fi­ni­ti­on ein Aspekt: Die Frau­en wer­den von Män­nern er­mor­det, de­nen das Ver­hal­ten der Frau­en miss­fällt. In den meis­ten Fäl­len sind die Tä­ter Män­ner, die sich ge­kränkt füh­len, weil sich ih­re Part­ne­rin tren­nen möch­te. Ei­ni­ge der Tä­ter sind Män­ner, die nicht ge­lernt ha­ben zu kom­mu­ni­zie­ren, sich hilf­los füh­len, kon­trol­lie­ren möch­ten oder ei­fer­süch­tig sind. Män­ner, die Frau­en als Ob­jekt (der Be­gier­de) in ih­rem Be­sitz se­hen. Und manch­mal sind es Män­ner mit nar­ziss­ti­schen Zü­gen. Das be­rich­tet der fo­ren­si­sche Psych­ia­ter Mark Graf in ei­nem In­ter­view vom 24. April mit der «Zeit». Nicht zu­letzt sind es aber auch Män­ner, die durch ih­re Er­zie­hung über­zeugt sind, ein Recht auf weib­li­che Für­sor­ge zu ha­ben und dar­auf, dass die Frau ih­re Be­dürf­nis­se er­füllt und sich un­ter­ord­net.

14 Frau­en sind laut dem un­ab­hän­gi­gen Re­cher­che­pro­jekt «stopf­emi­zid» in den ers­ten fünf Mo­na­ten die­ses Jah­res in der Schweiz ge­tö­tet wor­den. 14-mal ha­ben Män­ner Frau­en­le­ben be­en­det. Das letz­te in Münchwi­len im Kan­ton Thur­gau. Am 3. April wur­de dort ei­ne Frau ge­tö­tet. Be­reits fest­ge­nom­men: ihr Part­ner. Ein wei­te­rer Mann wird noch ge­sucht.

Tä­ter von Fe­mi­zi­den las­sen sich nicht ei­ner spe­zi­fi­schen Grup­pe zu­ord­nen. Doch gibt es ver­schie­de­ne Ri­si­ko­fak­to­ren, die ge­mäss bis­he­ri­gen Er­he­bun­gen ei­ne Rol­le spie­len, al­len vor­an: Tren­nun­gen. Das be­stä­tigt auch Sil­via Vetsch vom Frau­en­haus. Auch ei­ne all­fäl­li­ge Ar­beits­lo­sig­keit des Tä­ters – und der da­mit ein­her­ge­hen­de Bruch im Männ­lich­keits­bild – oder die Tat­sa­che, dass sol­che Tä­ter häu­fig im Vor­feld schon Ge­walt ge­gen­über ih­ren (Ex-)Part­ne­rin­nen aus­ge­übt ha­ben. Laut Mark­wal­der ist letz­te­res in 40 Pro­zent der Ta­ten der Fall.

Schluss­end­lich aber tref­fen die­se Män­ner in­di­vi­du­ell die Ent­schei­dung, ei­ne Frau zu tö­ten – im Kon­text pa­tri­ar­cha­ler Struk­tu­ren. So ord­nen Na­ta­lia Wid­la und Mi­ri­am Su­ter in ih­rem kürz­lich er­schie­ne­nen Buch Nie­mals aus Lie­be die Ta­ten ein. Die bei­den Jour­na­lis­tin­nen un­ter­su­chen dar­in Fe­mi­zi­de in der Schweiz, de­ren Ur­sa­chen und Mass­nah­men zur Prä­ven­ti­on. Sie kom­men auch zum Schluss, dass die Her­kunft der Tä­ter die Ta­ten nicht er­klärt, weil es eben di­ver­se Fak­to­ren gibt, die zu ei­ner Tat füh­ren und die­se nicht nur ab­hän­gig von ei­ner Kul­tur sind – es wä­re folg­lich schlicht zu ein­fach, die Ta­ten mit der Her­kunft ei­nes Tä­ters zu be­grün­den.

It’s a men’s world

Viel­mehr ist es die Ge­sell­schaft, die Män­ner zu den Mäch­ti­gen macht: das Pa­tri­ar­chat. Ei­ne Welt, die von Män­nern für Män­ner ge­schaf­fen ist. Fe­mi­nis­ti­scher Kack­scheiss? Lei­der nein. Ein paar Bei­spie­le: In der Me­di­zin sind die meis­ten Wirk­stof­fe auf stan­dar­di­sier­te Män­ner­kör­per aus­ge­rich­tet (die­je­ni­gen der Frau­en sind kom­pli­ziert, heisst es oft), Kli­ma­an­la­gen, Bü­ro­ti­sche, Stüh­le und Au­tos – auf Män­ner­kör­per aus­ge­legt. Män­ner ha­ben hö­he­re Löh­ne, be­zah­len oft we­ni­ger für die Kran­ken­kas­sen. Män­ner ha­ben nach wie vor das Sa­gen in Un­ter­neh­men und der Po­li­tik.

Auch im Film kom­men Män­ner öf­ter zu Wort. So zei­gen Stu­di­en, dass in über der Hälf­te der Dis­ney­fil­me die männ­li­chen Rol­len öf­ter und län­ger spre­chen und wenn weib­li­che Fi­gu­ren mal zu Wort kom­men, spre­chen sie über die männ­li­chen . Der «ma­le ga­ze», al­so der männ­li­che Blick, der durch meist männ­li­che Film­schaf­fen­de ent­steht, führt im Ki­no oft zur Ob­jek­ti­fi­zie­rung oder zu­min­dest der Mar­gi­na­li­sie­rung von Frau­en und ih­ren Per­spek­ti­ven und be­stimmt da­mit, was die Ge­sell­schaft auf den Lein­wän­den sieht – durch die Au­gen ei­nes Man­nes.

Und wer in den letz­ten Jah­ren nicht un­ter ei­nem Stein ge­haust hat, war auch das ei­ne oder an­de­re Mal im In­ter­net – dem Hot­spot für Frau­en­hass. Män­ner kom­men­tie­ren, ob­jek­ti­fi­zie­ren, be­lei­di­gen, be­wer­ten und be­dro­hen Frau­en, so­bald die­se Raum ein­neh­men. Und wer­den da­für ge­fei­ert – sie­he An­drew Ta­te. Oh­ne Hem­mun­gen, oft oh­ne Zen­sur, meist oh­ne Kon­se­quen­zen. Über­haupt scheint kein Me­di­zi­ner, kaum ein Film­pro­du­zent oder Pro­duk­te­de­si­gner und ein Gross­teil der Ge­sell­schaft ab­so­lut kei­ne Hem­mun­gen zu ha­ben, Frau­en in ir­gend­ei­ner Form als min­der­wer­tig an­zu­se­hen. Es ist halt nor­mal – ei­ne all­ge­mei­ne Ak­zep­tanz des Sta­tus quo. Nicht bö­se ge­meint, nur en Witz.

Da­bei ist die­ses von der Ge­sell­schaft re­pro­du­zier­te Män­ner­bild des Er­näh­rers, des po­ten­ten Kämp­fers und Ver­sor­gers nicht nur ge­fähr­lich für Frau­en, son­dern auch für die Män­ner selbst. Wer da nicht rein­passt, kämpft nicht für sei­ne Eh­re, son­dern mit sei­ner Iden­ti­tät.

Mas­si­ve De­fi­zi­te in der Prä­ven­ti­on

Wie al­so lässt sich ein Pro­blem lö­sen, das im kol­lek­ti­ven Ge­dan­ken­gut ein­ge­floch­ten ist? Pa­tri­ar­cha­le Struk­tu­ren durch­zie­hen wie Hy­phen, die fa­den­för­mi­gen Zel­len von Pil­zen, al­le Le­bens­be­rei­che un­se­rer Ge­sell­schaft. In ei­ni­gen Be­rei­chen sind sie nicht le­bens­be­droh­lich, in an­de­ren bil­den sie ein Per­pe­tu­um mo­bi­le der Ge­walt.

Be­reits 2018 hat­te so­gar die Schweiz, wel­che ge­mein­hin un­ger­ne in­ter­na­tio­na­le Über­ein­kom­men un­ter­schreibt, die Is­tan­bul Kon­ven­ti­on ra­ti­fi­ziert. Das Über­ein­kom­men des Eu­ro­pa­rats soll Mäd­chen und Frau­en vor Ge­walt schüt­zen. Vor drei Jah­ren wur­de die Schweiz vom in­ter­na­tio­na­len Ex­pert:in­nen Gre­mi­um «Gre­vio», ge­rügt, weil sie in der Um­set­zung der Kon­ven­ti­on hin­ter­her­hinkt und mas­si­ve De­fi­zi­te in der Prä­ven­ti­on auf­weist. Nächs­tes Jahr ge­be es wie­der ei­nen sol­chen Un­ter­su­chungs­be­richt, sagt Sil­via Vetsch. «Es kann sein, dass die Schweiz er­neut ge­rügt wird.» Nach dem ers­ten Be­richt ent­stand un­ter der Lei­tung von Bun­des­rä­tin Ka­rin Kel­ler-Sut­ter, da­mals noch In­nen­mi­nis­te­rin, zwar ein Mass­nah­men­plan ge­gen häus­li­che Ge­walt, al­ler­dings hinkt die Schweiz nun selbst die­sem hin­ter­her.

«Es kann sein, dass die Schweiz er­neut ge­rügt wird.» 

Silvia Vetsch, Geschäftsleiterin Frauenhaus St.Gallen

Ge­mäss der so­ge­nann­ten Road­map soll­te im No­vem­ber 2025 ei­ne na­tio­na­le Hel­pli­ne für be­trof­fe­ne Frau­en ein­ge­rich­tet wer­den. Weil die­se sich auf­grund tech­ni­scher Pro­ble­me ver­zö­gert, sprin­gen die Kan­to­ne in die Bre­sche – St.Gal­len ste­he da­bei recht gut da, sagt Vetsch. «Der Kan­ton St.Gal­len hat sich für ei­ne Ost­schwei­zer Lö­sung ein­ge­setzt, bei der das Frau­en­haus als Dritt­an­bie­te­rin die Um­lei­tung von der Hel­pli­ne der Op­fer­hil­fe über­nimmt.» Teil der Ost­schwei­zer Lö­sung sind ne­ben dem Kan­ton St.Gal­len auch bei­de Ap­pen­zell, der Kan­ton Gla­rus so­wie nörd­li­che Ge­mein­den des Kan­ton Grau­bün­dens.

Ray­on­ver­bo­te und ei­ne Road­map ge­gen häus­li­che Ge­walt

Die Road­map be­inhal­tet wei­te­re Punk­te wie Auf­klä­rungs­ar­beit, ei­ne en­ge­re Zu­sam­men­ar­beit der In­sti­tu­tio­nen, elek­tro­ni­sche Über­wa­chungs­mass­nah­men oder den Aus­bau des Schut­zes be­trof­fe­ner Frau­en und der Ar­beit mit ge­walt­aus­üben­den Män­nern.

An­ge­bo­te für ge­walt­be­rei­te Män­ner exis­tie­ren in den Ost­schwei­zer Kan­to­nen über die Be­wäh­rungs­hil­fe so­wie ein­zel­ne Or­ga­ni­sa­tio­nen. Die Kan­to­ne ver­fü­gen auch über Fach­stel­len für Per­so­nen, die von Ge­walt be­trof­fen sind. Aus­ser­dem gibt es ver­ein­zel­te An­ge­bo­te und Be­ra­tungs­stel­len von Or­ga­ni­sa­tio­nen oder Ver­ei­nen, wie die Op­fer­hil­fe SG-AI-AR. Frau­en­häu­ser sind al­ler­dings rar. Ein schweiz­wei­tes Pro­blem, das Wid­la und Su­ter kri­ti­sie­ren. In der Ost­schweiz kön­nen sich be­trof­fe­ne Frau­en nur in St.Gal­ler an ein Frau­en­haus wen­den. Dar­auf hat der Kan­ton Thur­gau be­reits re­agiert: 2007 ging das De­par­te­ment für Jus­tiz und Si­cher­heit zu­min­dest ei­ne Leis­tungs­ver­ein­ba­rung mit dem Ver­ein der Be­ra­tungs­stel­le für Ge­walt­be­trof­fe­ne Frau­en ein. Zu­dem exis­tiert ei­ne ei­ge­ne Op­fer­hil­fe, ge­grün­det vom Frau­en­ver­ein Thur­gau, die eben­falls Be­ra­tungs­an­ge­bo­te be­reit­stellt.

In St.Gal­len be­treibt das Frau­en­haus ak­ti­ve Prä­ven­ti­on. «Wir füh­ren viel Sen­si­bi­li­sie­rungs- und Auf­klä­rungs­ar­beit durch an Fach­hoch­schu­len und bei an­de­ren Or­ga­ni­sa­tio­nen», so Vetsch. Auch die Kan­tons­po­li­zei­en schrei­ten bei häus­li­cher Ge­walt ein, spre­chen Weg­wei­sun­gen, Kon­takt- oder Ray­on­ver­bo­te aus, wel­che die Frau­en schüt­zen sol­len.

Trotz­dem blei­be die Ge­fahr für die Frau­en meist sehr hoch, be­rich­tet Vetsch. Eve­ly­ne An­gehrn, St.Gal­ler SP-Kan­tons­rä­tin und An­wäl­tin, sagt, sol­che Mass­nah­men kön­ne man zwar ver­län­gern, trotz­dem sei­en die­se nicht nach­hal­tig wirk­sam. Die An­wäl­tin sieht Hand­lungs­be­darf vor al­lem bei den Ver­fah­ren: «Die­se dau­ern meist sehr lan­ge, das braucht enorm viel Kraft, die vie­le der be­trof­fe­nen Frau­en nicht mehr auf­brin­gen kön­nen. Und ein sol­cher Pro­zess steht und fällt mit den Aus­sa­gen der Frau­en. Oft er­stel­len sie nach ei­nem ers­ten Be­ra­tungs­ge­spräch gar kei­ne An­zei­ge.» Ge­ra­de des­halb ist auch sie über­zeugt: «Wich­tig ist es, die Prä­ven­ti­on zu ver­bes­sern.» Doch na­tio­nal wirk­sa­me und nach­hal­ti­ge Mass­nah­men zur Prä­ven­ti­on feh­len und der Kan­tön­li­geist scheint mit­ver­ant­wort­lich.

Was den Fe­mi­zid, die Ku­mu­la­ti­on der Ge­walt an Frau­en, an­geht, for­dern Po­li­ti­ke­rin­nen im­mer wie­der er­folg­los den Be­griff Fe­mi­zid ins Straf­ge­setz auf­zu­neh­men, um wirk­sam da­ge­gen vor­ge­hen zu kön­nen. Dies sei je­doch schwie­rig um­zu­set­zen, weil das Straf­ge­setz im Grund­satz kei­ne Ge­schlech­ter ken­ne, sagt Eve­ly­ne An­gehrn und folgt da­bei dem Te­nor des Par­la­ments.

Ge­mein­sam fürs Um­den­ken

Ne­ben der ein­gangs er­wähn­ten un­ab­ding­ba­ren Da­ten­er­he­bung und der Fi­nan­zie­rung zu­sätz­li­cher Frau­en­häu­ser for­dern die Buch­au­torin­nen Na­ta­lia Wid­la und Mi­ri­am Su­ter bei­spiels­wei­se auch «Kom­pe­tenz­zen­tren im Um­gang mit di­gi­ta­ler Über­wa­chung, Deepf­ake-Por­no­gra­fie und Stal­ker­wa­re» zur Prä­ven­ti­on von häus­li­cher Ge­walt und Fe­mi­zi­den. Aus­ser­dem müss­te sich auch der Um­gang der Me­di­en mit häus­li­cher Ge­walt än­dern.

Hier­zu ein ak­tu­el­les Bei­spiel: Am 14. Mai 2025 ti­telt das «St.Gal­ler Tag­blatt»: «De­par­dieu we­gen dop­pel­ter Sex­at­ta­cke ver­ur­teilt – und das ist viel­leicht erst der An­fang». Sex­at­ta­cken? Gé­rard De­par­dieu wur­de we­gen «se­xu­el­ler Über­grif­fe» an zwei Frau­en ver­ur­teilt. Zu­dem liegt ei­ne An­kla­ge we­gen Ver­ge­wal­ti­gung vor. Mit «Sex» ha­ben sol­che Über­grif­fe sel­ten et­was zu tun. Das Wort «Sex­at­ta­cke» ver­harm­lost, weil es nicht be­nennt, son­dern um­schreibt. Ge­nau­so wie wenn bei Fe­mi­zi­den von ei­nem «Fa­mi­li­en­dra­ma» oder ei­nem «Mord aus Lei­den­schaft» die Re­de ist.

No­ra Mark­wal­der hat in ei­ner ih­rer Stu­di­en auch fest­ge­stellt, dass die meis­ten Fe­mi­zi­de mit ei­ner Schuss­waf­fe be­gan­gen wer­den. Wid­la und Su­ter spre­chen sich für ein Ver­bot von Ar­mee­waf­fen in Pri­vat­haus­hal­ten aus. Nicht zu­letzt for­dern die Jour­na­lis­tin­nen aber auch – und vor al­lem – ein Um­den­ken in der Ge­sell­schaft. Es müs­se mit Ju­gend­li­chen und Män­nern ge­spro­chen wer­den, und weil die pa­tri­ar­cha­len Struk­tu­ren in un­se­rer Ge­sell­schaft eben auch den Män­nern scha­de­ten, sei de­ren eman­zi­pa­to­ri­sche Be­we­gung nö­tig.

Per­pe­tu­el­le Struk­tu­ren las­sen sich al­so nur ge­mein­sam stop­pen. Das be­ginnt da­mit, dass wir be­nen­nen und hin­schau­en, ge­mein­sam dar­über re­den und schrei­ben. Die bit­te­re Fra­ge bleibt al­ler­dings, wie vie­le Frau­en noch um­ge­bracht wer­den, bis das Um­den­ken fruch­tet und der Pilz auf­ge­ge­ben hat.

Zoé Au­bry, 1993, lebt und ar­bei­tet in Genf. In ih­rem Schaf­fen ver­bin­det sie künst­le­ri­sche For­schung mit fe­mi­nis­ti­scher Theo­rie und kon­zen­triert sich auf struk­tu­rel­le Ge­walt, Er­in­ne­rung und Sicht­bar­keit.

Begrifflichkeit und Links

Ne­ben dem Be­griff Fe­mi­zid, der die Tö­tung von Frau­en auf­grund ih­res Ge­schlechts be­schreibt, exis­tiert auch der Be­griff Fe­mi­ni­zid. Die­ser wur­de ge­prägt von der me­xi­ka­ni­schen An­thro­po­lo­gin Mar­ce­la Lag­ar­de und soll durch die Sil­be «ni» spe­zi­fisch la­tein­ame­ri­ka­ni­sche Er­schei­nungs­for­men von Ge­walt an Frau­en dar­stel­len, wo es sich um kei­ne Ein­zel­fäl­le hand­le, son­dern um struk­tu­rel­le Ge­walt. Man fin­det ihn auch im deut­schen Sprach­raum, wo er den Fo­kus auf die Sys­te­ma­tik hin­ter Fe­mi­zi­den le­gen soll.

cont­re-les-fe­mi­ni­ci­des.ch
stopf­emi­zid.ch
frau­en­haus-stgal­len.ch
ohsg.ch
frau­en­zen­tra­le-ap­pen­zel­ler­land.ch
op­fer­hil­fe-tg.ch
ge­walt-ist-nicht-okay.ch

Jetzt mitreden:
Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Dein Kommentar wird vor dem Publizieren von der Redaktion geprüft.