, 25. Juli 2014
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Glück ist wie ein Vogel

«In jungen Jahren bist du glücklich, wenn du etwas erreichst – in älteren Jahren, wenn dir nichts fehlt», sagt mein Grossvater A. R. Wie sich mit dem Leben auch das Glück wandelt. von Priska Scherrer

Grossvater, was heisst für Dich Glück?

Ich denke, es handelt sich dabei, egal ob im Kindes- oder Erwachsenenalter, immer um dasselbe: um Anerkennung – im Sinn von zu Hause sein – bei den anderen und in sich selber. Es geht um das «geliebt werden» und vielleicht noch viel mehr darum, «jemanden zum Lieben» zu haben.

Heute bist Du 87 Jahre alt. Was machte Dich früher glücklich, als Kind?

Damals erfüllten mich vor allem meine Eltern und meine Geschwister mit Glück. Und klar; auch mein Teddy machte mich glücklich.

Kuscheltiere – manche Dinge ändern sich wohl nie. Wie ist es mit der Auffassung von Glück? Hat sich Deine mit den Jahren verändert?

Sicher, als ich älter wurde zum Beispiel, machte mich der schulische Erfolg glücklich, die Bestätigung. Als Jugendlicher trat ich der Jungwacht bei; dort waren es wiederum die Erlebnisse, die mich glücklich stimmten. Ein Ausflug in die Westschweiz war damals wohl ähnlich aufregend für uns wie heute ein Transatlantik-Flug für euch junge Menschen. Später spielten zunehmend auch Freundschaften eine grosse Rolle in meinem Leben und natürlich die erste grosse Liebe. Im Erwachsenenalter fand ich das Glück dann vor allem mit meiner eigenen Familie, unseren Kindern, unserem Haus und nicht zuletzt im beruflichen Erfolg. Ich denke, das Glück wird mit dem Älterwerden generell bewusster wahrgenommen und wohl auch dankbarer angenommen.

Du sprichst mir aus der Seele: Ein Langstreckenflug lässt mein 21-jähriges Herz, ehrlich gesagt, schon höher schlagen als die Zugfahrt nach Genf. Ist die Welt heute schwieriger zu beglücken als früher?

Es geht uns gut, hier in der Schweiz. Der Mensch gewöhnt sich ja auch daran, es gut zu haben, obwohl «es gut haben» nicht gleichbedeutend ist mit «glücklich sein». Ob jemand viel oder wenig braucht, um glücklich zu sein, hängt meiner Meinung nach von der Familie ab, in der man aufwächst. Ein familiärer Sonntagsspaziergang etwa gehörte in unserer Familie zum Pflichtprogramm, schon seit meiner Kindheit. Heute genügt ein Spaziergang vielleicht nicht mehr allen – manche laufen vielleicht lieber einen Marathon…

Und jetzt, mit fast neunzig Jahren, in welchen Momenten bist Du heute glücklich?

Es macht mich glücklich, wenn ich in die Familiengemeinschaft eingebunden bin, wenn ich mit meinen zwei Töchtern und deren Familien eine schöne Zeit verbringen kann. Ausserdem spielt die Gesundheit eine immer wichtigere Rolle in meinem Alter, ganz klar, und was diese anbelangt, habe ich allen Grund, glücklich zu sein. So lange ich gesund bin, bleibe ich unabhängig und kann auch meine Töchter und Enkel besser geniessen – das macht mich glücklich und dankbar, schliesslich braucht man auch im Alter jemanden zum Gern-Haben.

Das Alter ist für viele auch die Zeit des Bilanzziehens. Kannst Du zusammenfassen, wie sich Deine Gefühlswahrnehmung von Glück seit Deiner Kindheit verändert hat?

Rückblickend würde ich sagen, dass sie sich mit zunehmendem Alter weiterentwickelt hat; von himmelhoch jauchzend oder zu Tode betrübt in der Jugend, hin zu einem ausgewogeneren, stetigeren Glücksempfinden.

Was genau meinst Du damit?

Mein Glücksgefühl ist konstanter geworden, übrigens spreche ich heute lieber von Zufriedenheit. Glück ist wie ein Weg, glücklich sein der Lebensweg, so würde ich es zusammenfassen. Mit dem Alter wird man geduldiger. Junge Frauen und Männer jagen dem Glück viel eher nach als ich heute, denn es fehlt ihnen noch an Erfahrungen. Von Zeit zu Zeit spaltet sich nämlich der Pfad, manche Wege trennen sich. Solche Gabelungen und Abzweigungen werden mit dem Alter kleiner, weniger beängstigend, man wird zufriedener. Das Glück ist für mich ein Hafen; Du als heute 21-Jährige zum Beispiel verlässt gerade jenen Deiner Ursprungsfamilie, gehst eigene Wege und wirst in den kommenden Jahren eher dank neuer Erfahrungen glücklich. Wenn Du einst pensioniert wirst, kehrst Du in den «sicheren Hafen» zurück, wo es wieder vermehrt die Menschen sind, die Dich glücklich machen.

Apropos: Du hast die Kriegsjahre zwischen 1933 und 1945 in der Schweiz miterlebt. Konntest Du damals so etwas wie Glück empfinden?

Während des Zweiten Weltkriegs besuchte ich die Sekundarschule. Nicht Glück, sondern Gefühle wie Betroffenheit und Wut standen für mich im Vordergrund. Bis heute muss ich mir gelegentlich in Erinnerung rufen, dass die jetzige Generation nicht für die Gräuel von damals verantwortlich ist. Die Taten von damals lassen sich nicht erklären – auch das musste ich während des Älterwerdens akzeptieren lernen; dass es nicht auf alles eine Antwort gibt.

Ein Grund zum unglücklich sein?

Nicht für mich. Als meine Frau, Deine Grossmutter, damals psychisch erkrankte – wieso gerade sie? –, musste ich mich auch einer grossen Belastung stellen. Die Situation lastete nicht nur auf unserer Partnerschaft, sondern auch auf unseren Kindern; plötzlich musste ich die Rolle der Mutter übernehmen, für die Kinder da sein, ihnen bei den Hausaufgaben helfen, für mich war das neu. Unsere Töchter gewöhnten sich jedoch schnell daran, was meine Frau wiederum unglücklich stimmte. Ausserdem war ich nebenbei noch hundert Prozent in einer Gemeindeverwaltung tätig, funktionierte aber zu 130 Prozent. Arbeit, Familie und Freizeit unter einen Hut zu bringen, war zwar sehr stressig, aber immer noch kein Grund, unglücklich zu sein.

Ich stelle mir das sehr schwierig vor – Arbeit und Freizeit ist mir da bereits genug. Wie wichtig ist es Dir eigentlich, glücklich zu sein?

Jeder Mensch, auch Du und ich verfügen über die innere Anlage, glücklich sein zu wollen. Der Mensch strebt nach Glück. Dies ist in uns verankert. Religion hat mir immer viel bedeutet, mich auch «beschäftigt». Wenn ich von Religion spreche, meine ich weniger Theologie als eher Mystik. Es ist schwierig, dies in Worte zu fassen. Der Satz eines Kirchenliedes hilft mir dabei: «Weit wie das Meer ist Gottes grosse Liebe, wie Wind und Wiese, ewiges Daheim.» Dieses «ewige Daheim», das in unserem Leben hier auf Erden beginnen will, das ist letztlich das Glück, nachdem ich strebe, das ich erwarte.

Rätst Du mir, nach meinem Glück zu streben?

Ich rate Dir, nicht allzu verbissen nach Deinem Glück zu suchen. Lass dir Dein Glück schenken, denn sobald Du es haben willst, entschwindet es. Glück ist wie ein Vogel: Man muss ihn halten, sonst fliegt er davon. Aber nicht zu fest, sonst zerdrückt man ihn.

Über mein monatliches Gehalt freue ich mich jeweils aber schon, wenn ich ehrlich bin…

Sicher, aber das finanzielle Glück ist von kurzer Dauer. Investiere lieber in die Partnerschaft, in Freundschaften, und dein Glück wird Bestand haben, so hoffe ich.

 

A.R. ist 87 Jahre alt. Der Pensionär ist ehemaliger Grundbuchverwalter und war lange Zeit als Gemeinderatsschreiber tätig. Zudem ist er patentierter Rechtsagent und war Mitglied des Bezirksgerichts. Seine Zeit verbringt er gerne mit Lesen (religiöse, geschichtliche, wirtschaftliche Bücher), Musik hören und Wandern. Er hat stets einen guten Spruch oder Witz auf Lager und philosophiert gerne über Gott und die Welt.

Das Glück aus der Sicht des 87-Jährigen:
Glück im Alter ist eher still, nicht mehr himmelhoch jauchzend, und die Erkenntnis, dass man nicht dauernd nur glücklich sein kann. Glück ist die Balance, der Ausgleich zwischen Wunsch und Erfüllung, Wollen und Können, Traum und Wirklichkeit, vielleicht auch zwischen Resignation und Freude. Glück ist die Erkenntnis, dass das Leben «so ist» (im Rückblick war nicht alles gut, aber es war wohl gut, dass es so war), oder anders gesagt: Glück im Alter ist vor allem Zufriedenheit. Oder Abgeklärtheit – diese sieht man manchmal im Gesicht, in den Augen, im ruhigen und doch wachen Blick vieler alter Menschen.

 

20140613-HUE_6467_PriskaMedienschülerin Priska Scherrer, 1992, wohnt in Wil. Die gelernte Bankkauffrau arbeitet zurzeit als Redaktionsvolontärin bei den «Wiler Nachrichten». Im Herbst 2014 wird sie ein Wirtschaftsstudium beginnen. Für ihr persönliches Glück sorgen Wanderungen in den Bergen, Jogging, Biken oder Reisen.

Das Glück aus der Sicht der heute 21-Jährigen:
Glück für mich ist Freude am Leben in all seinen Facetten. Ich bin glücklich, wenn ich etwas erreicht habe, sei dies schulisch, beruflich oder sportlich. Eine erfolgreiche Prüfung, beispielsweise, oder die Aussicht eines bestiegenen Berges lässt mich Glücksgefühle erleben. Glücklich bin ich aber auch, wenn ich mich mit Freundinnen treffe, wobei vor allem auch die Vorfreude auf das Treffen mich glücklich stimmt. Solche Anlässe tragen dazu bei, dass ich spüre: Jetzt gerade bin ich glücklich. Diese Wahrnehmung ist jedoch meist eher von kurzer Dauer, und dass es mir gut geht und ich Grund zum glücklich sein hätte – daran muss ich mich doch ab und zu erinnern.

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