, 19. August 2019
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Glücksfassade mit Rissen

Ein Dorf als Bühne: Zwischen den Zellwegerpalästen von Trogen wird einen Monat lang Theater gespielt. «Das glückselige Leben» verknüpft Aufklärung und Gegenwart, Gassenleben und Philosophie zu einem farbigen, anspruchsvollen Bilderbogen.

Der Chor der Untoten vor den Zellweger-Palästen am Dorfplatz Trogen. (Bilder: Karin Bucher)

Das glücklichste Dorf der Schweiz? Regula, die Frau des schwurbligen Gemeindepräsidenten, macht nicht gerade diesen Eindruck. Aus dem Mansardenzimmer zuoberst im Gemeindehaus schmeisst sie Bücher, Kleider und andere Habseligkeiten auf den Vorplatz hinunter und schreit ihre Wut auf die Materie, die Männer und überhaupt in den Trogener Nachthimmel hinaus. Unten sind die vier Buchstaben PECH in die Wiese gemäht, das Publikum steht amüsiert drumherum.

Ein grandioser Auftritt, einer von vielen auf dem Rundgang durch das angeblich glücklichste Dorf der Schweiz, und doppelt pikant, wenn man weiss, dass im Zellwegerpalast nebenan früher im Dachstock das Gefängnis war und die Häftlinge manchmal ihren Frust auf die Strasse hinuntergeschrieen haben, gerade so wie an diesem Abend die Regula.

Johann Caspar Zellweger, Erbauer des Fünfeckpalasts, und seine Familie auf dem Wandbild, das im Stück gestohlen wird. (Bild: Jahrhundert der Zellweger)

Die Textildynastie der Zellweger, die Trogen zum Weltdorf gemacht hat im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, ist auch sonst allgegenwärtig im Stück. Kurz zuvor auf dem Rundgang ist eben Laurenz Zellweger, der Philosoph und Philantrop, in den Hof des Fünfeckpalasts eingeritten und hat sich von Anna Barbara aus dem Fenster herab von ihrer Parisreise zur Krönung Napoleons 1804 berichten lassen.

Aber in Wahrheit sei Trogens «Pentagon» mit seinen 365 Fenstern und 52 Räumen «mit dem Blut afrikanischer Sklaven» gebaut worden, weiss Hanna-Klara, eine der Figuren aus dem Heute. So erzählt sie es dem verklemmten Dorfpoeten Ferdinand – wir sind inzwischen beim Parkplatz, ein paar Stationen weiter auf dem inszenierten Weg durchs Dorf. Hanna-Klara will denn auch weg, so schnell wie möglich, und als Influencerin hat sie auch den passenden Hashtag: #leavewithabang.

Hanna-Klara (Suramira Vos) und Ferdinand (Stephan Eberhard).

Erst recht kritisch sieht das Ganze der Dorfsäufer Nöldi – schon im «Schäfli», seiner Stammbeiz, haben wir ihn über die «Hochleistungsfrömmigkeit» der Zellweger und die Unbeständigkeit des Glücks herziehen hören, und nachher beim Festakt auf dem Landsgemeindeplatz berserkert er erst recht gegen die noblen Herren und ihre Paläste.

Glücksfassade mit Rissen

Es ist nicht alles Gold was glänzt im Dorf – das muss bald einmal auch Glücksforscher Dr. Hans-Peter Gstörner feststellen. Seine makellos wissenschaftliche Statistik, aus der Trogen als das glücklichste Dorf der Schweiz hervorgangen ist, erhält einen Riss nach dem andern. Fazit: Glücklich sind immer die andern.

Der Chor mit dem Glücksmaximen vor dem Kirchenportal.

Statt gejubelt wird beim grossen Festakt auf dem Dorfplatz philosophiert; die Chäshörnli, die Laurenz serviert, schmecken dem Gstörner scheusslich, der hoffnungsvolle Dichter erschiesst sich, und erst recht gespenstisch wird es, als sich der Chor der Untoten zum Prozessionszug formiert, mit dem der bedauernswerte Herwig zu Grabe getragen wird.

«Das glückselige Leben»: Vorstellungen bis 14. September, Dorfplatz Trogen

dasglückseligeleben.ch

Dieser nämlich habe sich vor fünf Jahren am Kirchturm aufgehenkt. So erzählen es uns andere Zuschauer, deren Rundgang nicht im «Schäfli», sondern in der «Krone» begonnen hat, wo Pfarrerin Ursina und ihr Mann Herwig die Hauptrolle spielten. Drei weitere Stationenwege starten im Heim Vorderdorf, im Café Ernst und in einem Bus, mit dem die auswärtigen «Zürcher» Gäste von St.Gallen nach Trogen gefahren werden, um beim Glücks-Finale mit dabei zu sein.

Wer was wo vom Stück mitkriegt, ist daher eine Frage der Perspektive, wie im wahren Leben. Beziehungsweise: Glückssache.

Szenografische Meisterleistung

Die fünf Dorfrundgänge, jeder ein eigenes Stück im Stück, sind eine logistische Meisterleistung des Leitungstrios Katrin Sauter und Hans-Christian Hasselmann (Regie) und Karin Bucher (Szenografie), auf deren Ideen das ganze Projekt aufbaut. Sie sind das Herzstück der Produktion, für Fremde und erst recht für die Einheimischen: Da badet einer glückselig im Feuerwehrweiher, wo sonst striktes Badeverbot herrscht. Da geht in der unscheinbaren Garage ein Blumenladen auf, während in Wirklichkeit das Blumengeschäft vor wenigen Jahren dicht gemacht hat. Da tragen in einer Hintergasse über den Zaun hinweg zwei Nachbarn ihre Keifereien aus, da klemmen Besen zwischen den Häusern, auf dem Brunnenrand spielt eine traurige Klarinette, und die Kinder rüsten auf dem Parkplatz einen alten VW-Bus zum Glücksmobil um, Ziel: Bali.

In diese (so fiktive wie anspielungsreiche) Dorf-Realität bricht immer wieder die Geschichte ein. Auf der Balustrade über dem Platz, aus den Fenstern im Fünfeckpalast und später vor der Kirche singt der weissgekleidete Geisterchor, und Palast-Erbauer Johann Caspar Zellweger irrlichtert durch das Stück auf der Suche nach seinem Sohn. Vielleicht seien ja Erinnerungen das wahre Glück, und glücklich sei man dort, wo Gestern und Heute dasselbe meinen – tiefgründige Sätze wie diese werden vom Chor gesungen oder vom weisen Laurenz seinem smarten Glücksforscher-Gast in die Chäshörnli hineingepfeffert, oben auf dem Turm in der Platzmitte.

Glücksforscher Gstörner (Manuel Löwensberger, rechts) philosophiert mit Laurenz Zellweger (Jens Weber) über das Glück.

Dieser Turm, Bühne und Kassahäuschen in einem, steht für die «förene Hütte», jenes einfache Holzhaus, in dem der historische Laurenz Zellweger im 18. Jahrhundert seine Zürcher Freunde empfangen hatte, den Dichter Bodmer, den Stadtarzt Hirzel; aus dem sündigen «Limmat-Athen» reisten sie hoch und glaubten im ländlichen Trogen das glückselige «Arkadien» und in der Molke das Elixier des Glücks gefunden zu haben.

Aufklärung trifft Gegenwart

Das ist die hohe Ambition des Stücks: Aufklärerische Philosophie spiegelt sich am Heute, Ideale einer vergangenen Zeit werden auf ihre Tauglichkeit für die Gegenwart geprüft, und umgekehrt prallt die modische Vorstellung vom «machbaren» Glück auf das Ideal einer «Glückseligkeit» als innerer Haltung.

Zur Geschichte des Fünfeckpalasts und der Zellweger-Dynastie in Trogen ist eben das Buch erschienen: Wunderlich kommt mir die Baute vor, verfasst von Kantonsbibliothekarin Heidi Eisenhut und herausgegeben vom Kanton Appenzell Ausserrhoden und dem Appenzeller Verlagshaus Schwellbrunn (Fr. 48.-)

Wie die Ideen, so sind auch die Figuren ein Vexierspiel: Hanna-Klara, Nöldi, Ursina, Ferdinand und Gstörner, gespielt von den Profis Suramira Vos, Ingo Ospelt, Rachel Braunschweig, Stephan Eberhard und Manuel Löwensberg, haben ihr Gegenüber in historischen «Wiedergängern», die von Laien gespielt werden. Briefstellen in der sperrigen Sprache von damals mischen sich in die Texte der drei Autoren Lukas Linder, Rebecca C. Schnyder und Matthias Berger. Das Wandbild aus der bis heute existierenden Zellwegerwohnung wird im Hier und Jetzt lebendig. Der Chor mit Mitgliedern des chorwald teilt sich seinerseits in Heute und Damals (Kompositionen: Martin Schumacher).

In zahlreichen weiteren Rollen spielen rund zwei Dutzend Laien aus dem Dorf und der Region mit. Geprobt wurde mehr als ein Jahr lang, seit Wochen war «ganz Trogen in Aufruhr»: Der Satz, der zum Auftakt fällt, trifft den Nagel auf den Kopf.

Finale im Turm. (Bild: Rolf Wild)

All die Fäden zusammenzuknüpfen, gelingt allerdings auch Zuschauern mit geschichtlichen Detailkenntnissen nur bedingt. Und steckt man in den Beizen und beim Rundgang mitten drin im prallen Leben über zwei Jahrhunderte hinweg, so bleibt beim Finale auf dem weitläufigen Dorfplatz der Diskurs der Ideen allzu spröde. Die Fäden baumeln szenisch lose im sternklaren, von einem Lichtballon wundersam erleuchteten Trogener Nachthimmel.

Ab und zu einen Ballon aufblasen: So heisst eine der zehn Gstörner’schen Glückmaximen. Was das «glückselige Leben» ausmacht, ist am Ende unspektakulärer, aber schwieriger: sich selber zu sein oder zu werden. Die Hauptfiguren finden darauf ihre je eigene, einsame Antwort. Und auch das Publikum muss sich seinen eigenen Reim darauf machen. Material zum Nach- und Weiterdenken bietet das zweistündige Freiluftspektakel an allen Dorf-Ecken.

 

 

 

 

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