, 4. November 2017
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Go all the way #13

Nach acht Monaten und sechs Tagen ist das Meer da. Das Schwarze Meer, Ziel von Ruth WilisFusswanderung von St.Gallen nach Georgien. Hier ihr dreizehnter Tagebuchbericht.

Die beiden Hunde liegen an mir eingerollt. Schlafen. Ich bin von Glück gefüllt.

Gestern Nachmittag haben wir Pluto verloren. Innerorts in Sveti Wlas. Glücklicherweise unmittelbar vor Ankunft. Circa alle zehn Meter eine streunende Katze. Mein kleiner Finger blau von seinem In-die-Leine-Preschen. Und als ich nachgreifen wollte, schnellte er los und war mit Leine und Geschirr weg.

Längere Warteaktionen gehören zu unserem gemeinsamen Weg, und ausserorts – nicht im Wald, da ist Leine dran zum Schutz der Waldbewohnenden – ist das auch ok. Homer und ich gehen dann noch ein Stück, damit Pluto nicht lernt, das gar locker zu nehmen, und dann warten wir halt. Letzthin 30 Minuten, und ich musste ihm wieder etwas entgegengehen, aber er kommt. Innerorts allerdings sind die Eindrücke so stark, es hilft kein Rufen. Er ist weg.

Die Vermieterin wartet und ich übernehme unsere Nächtigungsmöglichkeit ohne Pluto. Gehe danach suchen. Nach drei Stunden Spurenlegen, Rufen und Rumfragen ohne Erfolg nachtet es ein und drückts mir aufs Herz. Pause. Etwas essen. Ich bitte Lauretta, die Coachin, um Hilfe. Und erhalte wieder einmal grossartige Unterstützung, fokussiere mich und gehe wieder raus. Suche. Suche. Suche. Rufe. Mich übend, die Verbindung zu halten. Telephoniere rum. Die Polizei spricht nur Bulgarisch und hängt mir auf. Ich verschwende keine Kraft, mich zu ärgern. Weiter! Frage die Vermieterin, ob wir allenfalls länger bleiben können. Frage jemanden für ein Rad. Weitere Stunden Strassen abklappernd und Spuren heim ziehend. Alle, ALLE ansprechend, bereit, zu nerven. Plutos Foto zeigend. Meine Nummer jedem und jeder in die Hand drückend. Mich konzentierend, im Herz zu sein. Verbunden. Immer wieder mich sammelnd und in Verbindung gehend.

Einmal glaube ich, sein Bellen zu hören, aber es hört einfach wieder auf. Ohne ihn geborgen zu wissen ins Bett zu schlüpfen macht mich schwer. Noch einmal folge ich Lauretta und verstärke das innere Band, als ich unter die Decke krieche, es ist kurz vor Mitternacht. Und mein Handy klingelt! Er ist gesehen worden und hat sich einfangen lassen! Ich fliege in die Kleider, laufe runter, schliesse den Racker in die Arme, der noch einmal eine Katze verfolgt. Völlig durch den Wind. Geschirr und Leine sind weg. Aber er ist ganz und bei mir!

Nun liegen wir physisch Trio. Lassen Pluto wieder heimfinden. Dazwischen putze ich, wasche. Der Mist, den er sich reingezogen hat auf dem Ausflug, kam nachts gut verteilt raus und stinkt bestialisch. Da ist dann wohl das Gift, das seinen Körper die letzten Tage sichtbar verlassen hat, wieder nachgefüllt!

Heilen.

In der Geisterstadt

Die zwei Etappen waren gar lang für unsere Kräfte. Homer mit einer klaffenden, umfassend verarzteten, aber langsam heilenden Wunde am einen Lauf; aber wir hatten in Ajtos nicht bleiben können wegen eines Motorradevents, für den alle Unterkünfte in der Umgebung ausgebucht waren. Druck in mir. Im Gefühl, zuviel zu fordern, und selber überfordert zu sein, werde ich zum vertrauensfernen Kopfmenschen. Ich muss… ich muss doch… wo und wie ist eine Lösung?

Es hilft nix, wir müssen aufbrechen. Homer legt sich auf dem Weg zur nächstmöglichen gefundenen Unterkunft hin. Hat genug. Und die Hosts versetzen uns. Sagen einfach ab. Ich schreibe voller Rachegefühle zurück. Nach beharrlichem Suchen in zwei Dörfern findet sich jemand, der uns gegen Bezahlung in den nächsten Ort fährt, wo eine Schlafmöglichkeit besteht. Sunnybeach. Heisst der. Ort. Er liegt am Meer. Als das Auto uns ausspuckt, wird es dunkel. Die Strassenlampen gehen nicht an. Eine Geisterstadt. Ein leeres Apartmentgebäude neben dem nächsten. Verlassene Hotels. Die vereinzelten Menschen, die unterwegs sind, bestätigen grauslig die Leblosigkeit des Ortes, vermögen ihn nicht zu beleben. Selbst die sich aneinanderreihenden Geschäfte sind leergeräumt. Wer diese Geisterstadt beherrscht, sind streunende Katzen. Zu unserem Leidwesen. Pluto wird zum sich in die Leine werfenden Kämpfer.

Das auf der Herfahrt gebuchte Apartment befindet sich in einem Geisterhaus. Niemand da. Nach warten, anrufen, schreiben kommt die Nachricht, ich solle was anderes suchen. Es sei niemand mehr da. Ich bin fertig, habe keine Kraft mehr. Respektive, das stimmt nicht, kapiere ich. Plutos Kämpfen laugt mich aus und der Frust über vier Kilometer zur nächsten gefundenen Unterkunft, die so jetzt noch zu gehen sind, macht mich hochexplosiv. Das Auto ist weg. Immerhin, es haben 38 Grad Wärme am andern Ende der Leitung abgenommen und bestätigt, dass wir nicht umsonst kommen. Aber ich könnte jemanden erschlagen unter meiner Erschöpfung.

Wir ziehen los. Pluto und ich im physischen Kräftemessen. Und plötzlich klickts in mir. Ich kann das jetzt exakt bis zur Ankunft so belassen und noch die Schuld obendrauf packen, dass wir Kämpfende viel langsamer sind als ich angegeben habe betreffend Ankunftszeit, oder aber: Ich kann jetzt nochmal anrufen, unsere Verspätung melden und auf dem Weg noch in dem einzelnen Minimarkt, der geöffnet ist und wie ein lebendiger Hopper in dem verlassenen Ort steht, für uns drei was einkaufen und dann in der Zeit, die wir eben brauchen, unseren Weg gehen. Es ist ein Entscheid, Frust und Rachelust loszulassen und die Situation anzunehmen, wie anstrengend sie auch ist, und in ihr in Liebe für uns drei zu schauen, was ich für uns tun kann.

Es gelingt. Einigermassen. Einmal platzt mir doch der Kragen, die Schultermuskulatur schmerzt vom ichweissnichtwievielten Schlag von Pluto in der Leine und ich schreie los. Pluto starrt mich zwei Sekunden an und schnellt erneut einer Katze nach. Schreien bringt nichts. Er ist in dieser Katzenstadt in einem Film, zu dem ich keinen Zugang habe. Homer gähnt gestresst, Pluto rammt auch ihn. Ich nehme Plutos Vorderpfoten hoch und drücke einen Moment seinen Kopf an mein Herz. Rede leise mit ihm. Das kommt vielleicht ebensowenig durch zu ihm, kommt aber aus dem Herzen, aus unserer Zukunft; es ist nicht aus dem mich gefangenhaltenden Stress geboren.

Plötzlich hier zu stehen

Ich fremde, am Rücken der Geisterstadt. Fast 24 Stunden. Kochen tut gut. Belebt meine Geisterstadt. Und plötzlich ist Frieden in mir, hier und so ans Meer zu stossen. Und es zieht uns ganz natürlich durchs Schilf. Ein gewaltiger, später Schwarm schwarzer Vögel fliegt waghalsige Manöver über uns. Abendgrau. Dann ist da plötzlich nur noch eine einzelne, letzte Düne, die uns vom Meer trennt. Ich lasse die Hunde frei und sehe zwei rasende Sandwolken sich entfernen. Ganz langsam komm ich voran durch den Sand. Ans Meer. Ich habe kein Handy dabei, ich wollte nur eine letzte Runde machen mit den Hunden. Bin vom Leben überrascht, plötzlich hier zu stehen, darf den Moment nur erleben. Ich stehe da. Fühle, dass ein Panzer um mich liegt. Mussten wir nach acht Monaten und sechs Tagen wirklich gestern ans Meer fahren?

Es tut weh. Sammle kleine Muscheln. Die Hunde spielen auf dem verzauberten Boden. Stöbern im Sand. Fressen angeschwemmte Algen im letzten Abendlicht. In unserem Rücken die Geisterstadt. In einer Geisterstadt? Völlig einsamer Strand. Meine geliebten Tiere in einem Fest. Die lauten Vögel über uns, die den Himmel punktieren. Es ist die Wirklichkeit. Das ist unsere Ankunft am Meer. Noch fern vom Ziel, Warna liegt nördlich und da wandern wir hin. Aber die Ankunft am Meer, nach acht Monaten und sechs Tagen. Ein Quallenwesen ist stille Zeugin. Die sanft plätschernden Wellen. Und als die Tränen kommen, kommt die Schönheit durch. Da ist er. Mein endloser Horizont. Ich bin zu ihm gelaufen.

https://www.saiten.ch/wp-content/uploads/2017/08/odyssee1.jpgRuth Wili, Jahrgang 1981, war bis Ende 2016 als Inspizientin am Theater St.Gallen tätig. Vor acht Monaten ist sie aufgebrochen zu einer Fussreise von St.Gallen ans Schwarze Meer. Mit dabei: ihr Hund Homer – und, in Bulgarien zugelaufen, Pluto, der Hund Nummer zwei. Auf saiten.ch berichtet Ruth Wili von ihren Erfahrungen unterwegs.

 

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