, 7. Dezember 2018
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Go all the way #32

«Ich weiss noch nicht, was weiter passiert. Wir leben hier.» Das schreibt Ruth Wili im vorläufig letzten Tagebuchbericht ihrer Fussreise nach Georgien – fast zwei Jahre nach ihrem Aufbruch in St.Gallen.

Sintflut geht runter seit Tagen. Sie schwemmt, ich entscheide es, weg, was mich noch einmal abhalten will, den Text hier zu schicken. Der dritte Anlauf ist es; die Geräte mit den beiden vorangegangenen Berichten habe ich gecrasht, in beiden Fällen noch auf eine passende Foto wartend.

Unser Leben hier hat Routine erhalten, stets durchsetzt mit irgendwelchem Trouble. So trennen drei Tage Regen uns von Strom und Wasser; oder eine Leitung in der Wand ist plötzlich undicht, die Wand läuft voll Wasser und der Klempner, der die Dusche undicht verbaut hat, muss erneut her; das Holz für den Petchi ist gespalten und im Balkon geschichtet, aber der Abzug will nicht recht und wir hocken von Holz umgeben in der klammen Küche; das Waschmaschinenkabel ist an der reparierten Stelle auseinandergefallen, und als ich es repariert habe, behauptet die Maschine unnachgiebig «Error 01»; ein Paket, das hierher unterwegs ist, wendet, als es in der Nähe von Keda ist und kehrt – niemand weiss warum – zurück nach Deutschland.

Immer wieder sind die simpelsten Alltagsdinge eine Tagesansage. Wo ich sie nicht als Tagesansage handhabe, ersauf ich in «klappt grad nichts». Ein Gefühl von Rückwärtsgehen im Leben krieg ich dann, ein Graus. Manchmal erliege ich ihm, lasse mich einsinken in das hiesige Leben, und finde auch, ich warte halt einfach, es wird schon wieder anders, aber ich könnte mich vor Wut in den Bauch beissen, so frustriert sink ich dann ins Bett. Ist ja nicht tragisch, ob ich heute oder morgen wasche – nur dass die vier verwaisten Welpen alles verkacken, die ich, nachdem weitere zwei trotz Pflege draussen umgekommen sind, eingepackt habe und nun beherberge, bis sie flügge sind. Waschen können ist gelinde gesagt Basics, um nicht in Dreck zu ertrinken. Jedes Nicht-Funktionieren hat einen Rattenschwanz an Effekten. Aber die vier gedeihen superschön, und das ist es wert. Eine Nachbarin findet ihretwegen nun Anlass, im Dunkelroten zu drehen. Die Hunde eignen sich als Blitzableiter. Nicht dass ich die Nachbarin nicht ein Stück weit verstehen kann. Und sie mich schönerweise in irgendeinem Winkel ihres Seins auch.

Gehen im Eichenwald

Wir haben den Herbst hier erlebt, gefühlt endet er langsam in der Nässe, die nun Morgen für Morgen in den Hängen hängt und nirgendwo mehr unterkommt, so durchtränkt sind die Böden. Die Tage Regen haben den Bach zum reissenden braunen Fluss anschwellen lassen, der an ersten Stellen Land erobert. Kleinere Murgänge sind runtergegangen. Heute hat es zwanzig Meter vor uns ein Auto einfach von der Piste genommen. Als hätte es einen Seitwärtsgang. Ein unfassbares Glück, dass es in einem Baum hängengeblieben ist, sonst wäre es senkrecht runter in den Fluss gestürzt. Vor einer Woche noch das leuchtende Gelb, nun das Rostrot des Laubs hinter den Feuchtigkeitsschleiern am Hang gegenüber.

Ich habe zum ersten Mal bewusst einen alten Eichenwald im Kleiderwechsel gesehen, Tag für Tag sich verändernd. Unsere Spaziergänge durch ihn sind eine Sucht. Moos und helle Flechten an den Stämmen. Eichenwald hat etwas ganz Lichtes, so alt und knorzig die Bäume zum Teil sind. Eine wahnsinnig schöne Wald-Art. Dazwischen Kastanien und Nussbäume, einzelne Nadelbäume und viele Pflanzen, die bei uns zu den Zimmerpflanzen gehören. Näher an Keda schliesslich Kakibäume, die zuckersüss ausschauen. Ich wusste nicht, dass die das Laub viel früher abwerfen, als die Früchte reif sind. Diese hängen dann wie Weihnachtskugeln oder orange, satte Lampions im kahlen Baum. Endlos viele.

Der Kakihain oberhalb von uns ist ein «inneres Kinderparadies», all diese prallen Bollen an den Steckchen. Ich liebe den Anblick, und die Hunde sind wild auf Kakis, also sind wir alle happy. Ein Highlight: wilde Kakis! Ich bin durch Pluto draufgestossen. Der hat sich unter einem Baum geparkt und kam und kam nicht mehr los. Bis ich schauen ging und die traubengrossen Kakis erkannte. Ich habe eins probiert, als sie orange waren: Pelz im Mund und Fischgeruch. Puh. Aber man muss nur länger warten: Jetzt sind sie komplett braun, fast schwarz und werden langsam schrumpelig am Baum, und nun sind sie göttlich!

Die Krux mit der Gastfreundschaft

Ich weiss noch nicht, was weiter passiert. Wir leben hier. Wir haben den Sommer verabschiedet und den Herbst begrüsst: Das ist hier ein Geschmacks- und Geruchsfest. Die Eisenöfen, die Petchis, stehen im Sommer in den Garagen. Ende Sommer, Anfang Herbst werden sie vor die Häuser gestellt, geschrubbt, und dann werden sie in der Hitze des Tages – während parallel dazu halbe Bäume vor den Häusern abgeladen und über Tage und Wochen von Hand zum winterlichen Brennholz zerkleinert werden – zum ersten Mal eingeheizt. Draussen. Das Lüftungsrohr irgendwo an einem Baum oder Türrahmen hochgebunden. Es wird Llobio eingemacht. Grüne Bohnen: Die gehören hier zwingend auf die Menükarte, offenbar wäre der Winter schwer zu überstehen ohne. Es duftet umwerfend aus den riesigen Alutöpfen und mehrmals erhalte ich ein Schüsselchen zum Probieren. Die Einmachgläser gehören zur grossen Sorte, ab zwei Kilo aufwärts, und davon stehen dann Dutzende an den Garagenrückwänden, in Scheunen draussen, unter Treppenabsätzen. Pfirsiche, Kirschen, «Ketchup», alles, was einmachbar ist, wird eingemacht.

Eine Preisfrage; Gemüse und Früchte seien im Winter hier um Welten teurer, sprich: zu teuer. Der Monatslohn eines Zivilschutzangestellten beträgt 500 Lari, das entspricht 200 Schweizer Franken. Schulden haben ist normal, bei der Bank und bei allen, die einem Geld zu leihen bereit sind, schlicht, weil am Ende des Geldes Mal für Mal Monat übrig ist. Viele leben in Familienverbünden, alle Löhne zusammen finanzieren einen Haushalt, Wohnung, Essen, Holz für den Winter und die Kreditzinsen (wofür immer noch ein zweites Familienmitglied bürgen muss). Ein Zimmer ist für die ältere Generation (vergleichsweise meine Eltern), ein Zimmer für meine Generation inklusive Kinder, oder aber, wenn «ausgeflogen», ein Zimmer fürs Paar, ein Zimmer für die Kinder plus Grosseltern. Dazu ein gemeinsames Wohnzimmer, Küche (ist zum Teil dasselbe) und Bad. Man lebt hier damit, einander nicht ausweichen zu können.

Je länger ich hier bin, desto mehr Reibung empfinde ich. So warm die Gastfreundschaft anmutet, ich schätze es tief, wenn der Brauch, dass man einander ungefragt besucht, nicht einhergeht mit der Selbstverständlichkeit, dass jedes Gespräch zu jedwedem Moment von irgendwem unterbrochen oder beendet werden kann, ohne dass auch nur die Frage auftaucht, ob der Besuch genehm sei oder gerade nicht. Das Kommen und Gehen von Menschen empfinde ich manchmal als ein Sich-arrangieren mit dem Umstand, dass oft etwas (eben: Strom, Wasser…) grad nicht geht. Also geht man halt auf Besuch, teilt, so empfinde ich es, das Verhindertsein mit den Nächsten oder profitiert von der dort möglicherweise gerade vorhandenen Schubkraft. Selten empfinde ich diese Besuche als energieschenkend. Mache sie selber nur dann, wenn ich aus Interesse zu jemandem will und auch spüre, dass ich mit der Person wirklich gerne eine Runde plaudern und mich austauschen will. Nur dann.

Ich habe manchmal den Eindruck, die Menschen binden und halten einander gegenseitig auf überschaubarer Kraft, dadurch, dass es unter dem ungeschriebenen Gesetz der Gastfreundschaft erlaubt ist, sich einfach beim Nächsten zu «parken», solange man mag. Ich reagiere, wo ich das wahrnehme, gereizt. Ich glaube, ich fange an, mehr und mehr von mir einzubringen hier. Eine eigene Sicht auf das, was ich erlebe. Ecke zum Teil an damit. Gastfreundschaft ist ein Wert hier. Dass ich sage, man dürfe mir auch sagen, es passe nicht, so wie ich selber das meinerseits tue, stiess zu Beginn auf Unverständnis. Oder mein Ablehnen einer Einladung. Mittlerweile habe ich den Eindruck, es ist angekommen, dass es dabei nicht darum geht, einen Hammer auszuteilen, sondern um die Frage nach ehrlichem Interesse und dem Wunsch, es zusammen gut zu haben.

Ich habe auf einem unserer Erkundungsgänge ein Haus gesehen, das ganz viel von dem Gefühl auslöste, das ich im Haus in meinem Traum hatte. Vieles «stimmt». Es liegt etwas höher als wir wohnen, in den Hügeln, die uns umgeben. Etwas unterhalb des Dorfkerns vom Weiler oberhalb Kuchula. Am Hang. Es hat Blick nach Westen. Wir sind stehengeblieben, ich habe Haus «inhaliert». Nach wie vor glaube ich, «meins» liegt von hier aus Richtung Goderzipass, da oben irgendwo. Da sind die Häuser, die ganz aus Holz gebaut sind! Aber die Strasse dort hinauf ist für Mietautos verboten, und noch viel mehr die Piste über den Pass, und da ich eh illegal meine Hunde transportiere, riskiere ichs lieber nicht, da oben stecken zu bleiben oder von der Piste zu rutschen. Wir haben die Hauptverkehrsroute nach Tbilisi gemacht, und schon da waren die Strassenverhältnisse extrem anstrengend zum Fahren.

Liegt «mein Haus» da oben, wird der Weg dahin sich zeigen!

Ruth Wili, Jahrgang 1981, war bis Ende 2016 als Inspizientin am Theater St.Gallen tätig. Anfang 2017 ist sie aufgebrochen zu einer Fussreise von St.Gallen ans Schwarze Meer. Mit dabei: ihr Hund Homer – sowie Pluto, in Bulgarien zugelaufen, und später in Georgien Mimi und Tetri, die Hunde Nummer drei und vier. Auf saiten.ch hat Ruth Wili seit April 2017 von ihrem Weg und den Erfahrungen im Sehnsuchtsland Georgien berichtet.

 

 

1 Kommentar zu Go all the way #32

  • Langenegger Nina sagt:

    Liebe Ruth Wili,
    ich verfolge die Berichte deiner Reise seit längerem. Herzlichen Dank dafür, sie sind unglaublich spannend zu lesen und immer äusserst faszinierend! Wünsche dir weiterhin viele gute Erfahrungen und dass dich das findet, wonach du suchst:)

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