, 12. Juni 2017
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Gracias «Abschied»: Attentat auf die Vereinfacher

Der St.Galler Autor und Churer Bistumssprecher Giuseppe Gracia beschreibt im schmalen Roman «Der Abschied» ein islamistisches Attentat aus der Opferperspektive. Ein kontroverses Buch – mit bedenkenswerten Tiefenschichten.

Die Rahmenhandlung des neuen Buches von Giuseppe Gracia, der 1995 mit Riss und in den Nullerjahren mit zwei viel beachteten Romanen (Kippzustand und Santinis Frau) einen fixen Platz in der Schweizer Literatur hatte, beschreibt bis in die äussersten Grausamkeiten ein islamistisches Attentat an der Kultur- und Politszene in Berlin. Mittendrin befindet sich der Ich-Erzähler, eine Art integrierter Aussenseiter und passionierter Szenen- und Gesellschaftskritiker: «Es ekelt mich plötzlich, ihnen (den Mitgliedern der Kulturszene, red.) die Hand geben zu müssen und ich verspüre das Verlangen, sie schnell und hart und – fürs Fernsehen aus verschiedenen Perspektiven – zu ohrfeigen.»

Seine Kritik ist wütend, undifferenziert und bedient sich vieler Klischees. Wobei an den Klischees nicht problematisch ist, dass sie nicht irgendwie wahr wären, sondern dass sie den Weg verstellen für das, was ausserdem noch wahr ist und dass sie also Klarheit reklamieren für das Ungeklärte.

Phantasien um Versöhnung und Vernichtung

Denn einfach sind alle klaren Formen – in der Natur und auch im menschlichen Leben. Zum Beispiel ist es einfach, wenn man nie wütend ist, immer gute Stimmung hat oder zumindest sich anstecken lassen kann. Oder einfach ist es auch sehr wütend zu sein, a very angry guy or a very angry woman, alles weghaben wollen, wegschreiben, wegsingen, wegslamen, wegschreien, so dass niemand zu fragen wagt.

Dagegen ist es so unendlich viel schwieriger, gute Laune zu wollen ohne Verrat zu üben an einer anhaltenden Trauer oder wütend zu sein und der Wut etwas Positives entgegen setzen zu wollen, zum Beispiel einen Halt oder eine Ordnung, die genug Kraft hat, den Abgrund zu transformieren in Tiefe und die Angst vor den Wünschen in die Wünsche, die vor der Angst da waren usw. Denn nichts wirkt nach aussen befremdender als dieses unsouveräne Geschäft des fortgesetzten und schlecht kaschierten Austragens der inneren Konflikte.

Ein Suchender zu sein, sich nach einem Bekenntnis zu sehnen, die Unruhe nicht im vielsagenden Zynismus zu ertränken oder im nichtssagenden Harmonismus aufzulösen, nervt auf Dauer oder wirkt bestenfalls lächerlich. Und die Erkenntnis über diese Lächerlichkeit macht noch unsicherer und noch wütender, führt in die Verbitterung und schliesslich in die Selbstexklusion – aber vielleicht auch in die ebenfalls destruktive Sehnsucht nach jenen einfachen Formen der guten Laune oder der Wut.

Von Anfang an ist klar, dass die Hauptfigur in Der Abschied zu jenen unausgeglichenen Typen gehört, die einfach nicht können, was doch aus Sicht der vielen so einfach ist. Denn obwohl es in dieser kurzen, verschachtelten Novelle um Terror und sehr vieles mehr geht, ist sie im Wesentlichen die Geschichte von einem, der hineinkommen, mitfeiern, mitlieben, mitreden will und doch nicht will und der draussen bleiben will und doch nicht will.

Giuseppe Gracia: Der Abschied, Bucherverlag 2017, Fr. 19.90

Dieses Wollen und doch nicht Wollen zieht sich leitmotivisch durch das ganze Buch. Der namenlose Ich-Erzähler ist besessen von der Liebe nach seiner toten Frau, die er vor ihrem Suizid doch nicht mehr lieben konnte. Er möchte Nähe zu seinen Eltern und geht doch hart mit ihnen ins Gericht. Er möchte ein guter Journalist sein und kann doch den Journalismus nicht gut finden. Er möchte die Transzendenz der Kirche und traut doch dem Glauben nicht über den Weg, als scheute er Jesu im Kontext des heutigen Fundamentalismus problematische Forderung: «Euer Ja sei ein Ja und euer Nein sei ein Nein». Er möchte sich eigenständig von allem – auch vom Leben – lösen und phantasiert sich doch immer wieder als Wiedergänger seiner selbst und als Gefangener seiner Bindungen. Und folgerichtig schlägt seine obsessive Wunschhemmung um in hemmungslose Fiktion. In immer wieder neuen Traumsequenzen werden verdrängte Ängste, ungelebte Wünsche, Versöhnung und Vernichtung phantasiert.

Unlösbare innere Konflikte

Da aber Der Abschied sowohl das Buch des Schriftstellers und PR-Profis Giuseppe Gracia als auch das Buch dieses Namenlosen ist, überträgt sich diese schwere Ambivalenz auf die formale Ebene. Und daher ist nicht immer klar, wo die autobiografische Note fiktionalisiertes Material ist oder materialisierte Fiktionalität. Hier fühlt man sich an die Worte des Altphilologen und aufgeklärten Katholiken Zeitblom erinnert, der im Roman Doktor Faustus von Thomas Mann über sein literarisches alter Ego Adrian Leverkühn sagt: «Mein Gegenstand steht mir zu nahe. Allzusehr fehlt es wohl überhaupt an dem Gegensatz, dem blossen Unterschied von Stoff und Gestalter.»

Giuseppe Gracia. (Bild: kath.ch)

Im Abschied schreibt ein erfahrener Erzähler mit Sprachkraft, ein hintersinniger Konstrukteur und zugleich einer, der sich immer wieder weigert, überhaupt ein Schriftsteller zu sein, indem er das Literarische absichtlich bricht und brachial-banale Authentizität in die Sprache trägt – als würde er sich einmal der Aggressivität des ungeschminkten Ressentiments schämen und dann wieder der sublimierenden Wirkung der Kunst. Und so wird auch der Leser immer wieder ausgestossen mit Fahrigkeit: «…weil die technisch-kulturelle Impotenz der arabischen Welt eine totale ist…» und hineingenommen mit Nähe: «Es ist mir unverständlich, wie die Journalisten vor den kreuz und quer im Blut liegenden Körpern weiterproduzieren können.»

Zusammengenommen ergibt dies kein stimmiges Ganzes, was freilich auch zuallerletzt die Absicht ist, da im Abschied nichts stärker denunziert wird als Geschliffenheit und Weltgewandtheit (– selbstverständlich ein religiöses Thema.)

So spiegelt das Buch in seiner unschlüssigen Form, was aus einem Subjekt werden kann, das vor der Angst, durch die unlösbaren Konflikte zerrissen zu werden, sich nicht zureichend verstecken oder sich abschliessen kann gegen alle Erfahrung (was natürlich von den Hauptfiguren ständig versucht wird mit Alkohol, Tabletten, Bewunderung von Vorbildern und Meinungsphilistertum), sondern das gleichsam mit runtergelassener Hose dasteht und mit um den Hals gewickelten Preisschildern für die Kosten, die einem solchen Leben heute drohen: die Selbstgerechtigkeit, die Selbstauslöschung oder die Externalisierung der Zerreissungsangst in die Zerreissungsphantasie gegen die anderen, die ja im Sprengstoffgürtel ihr ultimatives Bild hat.

Klammheimliche Faszination

Und die Drohung der islamistischen Terroristen, alles in die Luft zu sprengen, erscheint dem ungehaltenen Protagonisten angesichts des langsamen grausamen Abschlachtens, das sie stattdessen im Kulturhaus Berlin an den Geiseln praktizieren, nahezu als Erlösungsvision. Nämlich, dass sein unerträgliches Leben in dieser unerträglichen Gesellschaft ein schnelles Ende haben kann. Denn das ist es, was dem lebensmüden Teil der Hauptfigur als einzige Möglichkeit in den Sinn kommt: dass alles aufhöre.

Mit dem Selbstauslöschungswunsch – wie gesagt eine logische Konsequenz dieser ins Destruktive transformierten Unentschiedenheit – kommt aber der Text über den Umweg zum inneren Unfrieden des namenlosen Journalisten doch noch der Täterpsychologie nahe, von der er auf der Handlungsebene nichts wissen will, weil dort ständig suggeriert wird, dass es für diese Akte des Terrors doch auch tiefere oder grössere Gründe geben könnte als den Hass, der aus einem narzisstischen Subjekt quillt, das für seine Kränkungen und Demütigungen nur noch antizivilisatorische Ausdrucksweisen findet.

In dieser Ähnlichkeit der Psyche des Ich-Erzählers mit jener des Selbstmordattentäters liegt der Grund seiner «klammheimlichen» Faszination für den Terror als Akt der Auslöschung des schuldig gewordenen Lebens. Und in der zwar ständig im Raum stehenden, aber literarisch nicht deutlich gemachten Parallelisierung von islamistischer Menschen-Opferung und individuellen Schuldverhältnissen offenbart sich vielleicht auch ein Versäumnis des Autors, der sein «Unbehagen in der Kultur» zu zaghaft in Wissen und sprachliche Reflexion übersetzt, wie das beispielsweise die Psychoanalyse tut oder von alters her die Religionen.

Die verdrängte Destruktivität des Westens

Denn: Der Zwang zum Opfer ist allen Gesellschaften inhärent, der Todeswunsch ist eine Mitgift des menschlichen Bewusstseins, und jede Gesellschaft steht vor der Aufgabe, sich ihrer spezifischen Destruktivität bewusst zu werden und kollektive Formen ihrer symbolischen Bewusstmachung und Entschärfung zu finden. Der Wahn, den schuld- und kostenverdrängenden westlichen Gesellschaften die Verantwortung für ihre in alle Welt externalisierte und exportierte Destruktivität mit öffentlichen Opferlektionen wieder einzubläuen, wie das die islamistische Ideologie seit Jahren propagiert und wie es in Gracias Buch inszeniert wird, wo der narzisstische Psychopath mit Sprengstoffgürtel gleichzeitig den strengen Sankt Nikolaus gibt, ist selbstverständlich ein Angriff auf das Zentrum unserer Zivilisation. Aber vielleicht in einem noch etwas umfassenderen Sinn als das die liberale Rede von Freiheit und Sicherheit nach den Attentaten meinen kann.

Lesung und Diskussion mit Giuseppe Gracia und Saida Keller-Messahli vom «Forum für einen fortschrittlichen Islam», Moderation Jürg Ackermann: 20. Juni, 20 Uhr, Rösslitor St.Gallen

Die wirkliche Tragweite kann nur ermessen, wer versteht, was historisch gesehen der zentrale Fortschritt der menschlichen Zivilisation ist. Es ist der Kampf gegen das Menschenopfer, gegen den immer wieder kehrenden Zwang, entstandene Schuld durch Blut zu sühnen, der durch die in den Religionen und antiken Gesellschaften grundgelegte allmähliche Entwicklung von Gesetzen bis hin zum Rechtsstaat mit seinen Prinzipien «Gnade vor Recht» und «Reversibilität» ziemlich erfolgreich gebrochen werden konnte.

Das bedeutet natürlich erstens, dass die Terrorakte selber die zivilisatorische Regression befördern, indem sie öffentliche Opferinszenierungen sind und gleichzeitig den Rechtsstaat aushöhlen, der sich nicht anders als mit Akten der Rechtsbeugung gegen den Terror zu helfen weiss. Zweitens aber könnte uns die schreckliche Präsenz des Menschenopfers in der Öffentlichkeit bewusst machen, dass es gerade auch in unseren Gesellschaften nie verschwunden ist, und den Blick schärfen für die spezifischen Opferpraktiken des Westens (ohne diejenigen anderer Weltgegenden zu relativieren). Und weiter, dass wir den Terror nicht bekämpfen können, wenn wir nicht den Kampf gegen Menschenopfer auf allen Ebenen führen. Gegen moderne Arbeitssklaverei genauso wie gegen eine Wettbewerbsgesellschaft, die den Opfern, die sie zwangsläufig produziert, alle Schuld zuschiebt und ebenfalls gegen die Aushöhlung solidarischer Strukturen, die ja das zivilgesellschaftliche pièce de résistence gegen die Rückkehr der Opferpraxis bilden.

Hin zum katholischen Ritus

Es ist einerseits zweifelhaft, ob dem Ich-Erzähler, der sich diese «Opferlektion» ausdenkt, die Binsenwahrheit bewusst ist, wonach das Symptom (ob Masernflecken oder Selbstmordattentäter) nie etwas lehren kann, sondern einfach nur Leiden bringt, dass es niemals eine andere Botschaft hat als diejenige, eine Krankheit anzuzeigen, und schon gar nicht heilend ist, da es ja gerade das Produkt eines gescheiterten Heilungsversuchs ist.

Andererseits hat die Kritik des Ich-Erzählers am Leerlauf der Leistungsgesellschaft und seine intuitive Hingezogenheit zum katholischen Gottesdienst dann aber doch ihre Logik darin, dass in den symbolischen Akten der Messe das Bewusstsein der menschlichen Schuld-Opfertragik noch präsent gehalten und ihre Überwindung im Bild der göttlichen Gnade gefeiert wird, wogegen eine rationalistisch enggeführte Aufklärung, wie er sie etwa in einem militanten Säkularismus anklagt, von der ganzen Problematik nichts wissen will und beim Fortschritt nur das Weggehen und nie das Zurücklassen bedenkt.

Letztlich ist Der Abschied daher eine Art «ecce homo» und «ecce societas». Und es macht diese Novelle bemerkenswert, dass sie auch als eine Tragödie lesbar ist, die, freilich zweideutig und fragmentarisch, die alte aus den rationalen Diskursen verdrängte, aber in kultischen Religionen und Mythen noch präsente und urmenschliche Angst vor Zerreissung durch Schuld zum Thema macht.

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