, 3. Juni 2018
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Gute Zeiten, schlechte Zeiten

Wenn jemand psychisch erkrankt, ist auch das Umfeld betroffen. Das zeigen die Geschichten von Daniela und Peter: Sie verlor eine ihrer besten Freundinnen. Er versucht zu kitten, was in 25 Jahren zu Bruch gegangen ist.

Zeichnung: Freddie Gaffa

Weder Daniela noch ihre Mitbewohnerin ahnen, dass irgendetwas mit Sandrine nicht stimmt. Dabei ist die Mitbewohnerin Sandrines Schwester. Und auch Daniela kennt sie seit vielen Jahren. Sie sind mehrmals zusammen gereist. Vier, manchmal fünfmal pro Woche laufen sie miteinander ein bis zwei Stunden lang und unternehmen auch sonst vieles gemeinsam.

Die eine Geschichte, die sich zwei Jahre vor der gemeinsamen WG ereignet hat, ist schon fast vergessen. Sandrine war plötzlich verschwunden, und niemand, weder ihre Schwester noch die Eltern noch die engsten Freunde wussten etwas von ihrem Verbleib. Die Schwester rief Daniela an. Ihre Freundschaft sei Sandrine wichtig, mit ihr habe sie sich oft über Persönliches unterhalten. Ob sie etwas wisse? Aber Sandrine war verschwunden, ohne irgendjemanden einzuweihen, auch Daniela nicht. Und sie blieb drei Wochen weg, ehe sie sich beim Vater meldete. Sandrine war in Prag, war pleite und hatte offenbar ihr ganzes Geld und mehr in Casinos verspielt.

Seither sind zwei Jahre ohne Zwischenfälle vergangen. Zwar verzögert sich Sandrines Psychologie-Studium immer wieder, weil sie Prüfungen und Arbeiten hinausschiebt. Sie hadert mit vielem. Aber das ist in Studentenkreisen nichts Aussergewöhnliches. «Ich bin überzeugt, dass sie ihren Weg bald finden wird», hat Daniela gegenüber Sandrines Mutter schon nach der Prag-Episode beteuert. «Sie ist sehr intelligent und interessiert.» Die Zweifel, die in der Stimme der Mutter mitschwangen, irritierten sie, wie sie sagt.

Und dann kommt der Sommer 2009. Daniela läuft den Zürich-Marathon. Sandrine und ihre Schwester kommen, um sie anzufeuern. Im Anschluss fahren sie zusammen in die gemeinsame Wohnung und merken schnell, dass eingebrochen wurde. Alles Bargeld ist verschwunden. Es dauert noch einmal zwei Wochen, bis Sandrine von der Polizei verhaftet wird, nachdem sie einer Kellnerin ihr Portemonnaie entrissen hat und von Passanten festgehalten wurde. Später sprudelt auf dem Posten alles aus ihr heraus. Auch die Geschichte mit dem Diebstahl an ihren Mitbewohnerinnen, den sie mit eingeschlagener Fensterscheibe in Danielas Zimmer wie einen Einbruch hat aussehen lassen. Sie sagt, wenn es in der Zelle irgendeine Möglichkeit gegeben hätte, hätte sie sich aufgehängt. So gross sind Scham und Verzweiflung.

Erfinder oder Gestörter

«Ich habe mit 18 angefangen zu kiffen. Und das war sicher ein Hauptauslöser meiner Krankheit, auch wenn die Veranlagung schon vorher da war», sagt Peter. Er ist mittlerweile 47 und blickt auf eine Krankheitsgeschichte zurück, die rund 25 Jahre dauerte und auch jetzt nicht ganz zu Ende ist.

Peter leidet an einer schizoaffektiven Störung, die bipolare Symptome wie Manie und Depression beinhaltet und gleichzeitig Symptome einer Schizophrenie. Wahnvorstellungen, Stimmen im Kopf, das Gefühl, andere Menschen könnten seine Gedanken lesen, Verfolgungswahn. In solchen Phasen waren es die anderen, mit denen etwas nicht stimmte. Nicht er.

Seine Gedanken waren sprunghaft und assoziativ. Er erzählte verrückte Geschichten, die ihm viele glaubten. Er selber oft auch. «Für viele war es unterhaltsam, wenn ich Grenzen überschritt und Leuten ohne jede Rücksicht Dinge an den Kopf warf.» Wenn man unwahre Geschichten erzählt, sei man entweder ein Erfinder oder ein Gestörter. «Für viele ist es schwierig, den Unterschied zu machen.»

Peter hat zwei Kinder mit zwei Frauen. Er lebt von beiden getrennt. Die fünfjährige Tochter hat den kranken Vater nicht mehr erlebt. Der zwölfjährige Sohn erinnert sich aber wohl an die Zeiten, als seine Mutter manchmal die Taschen packte und aus Angst vor ihm mit dem Sohn aus der gemeinsamen Wohnung floh. Einmal bis ins Ausland.

Und auch Regula, die mit ihrem Mann und den zwei kleinen Kindern zeitweise in einer WG mit Peters Bruder wohnte, als Peters Krankheit sich immer wieder entlud, sagt, sie habe Angst vor ihm gehabt. Vor allem Angst um die Kinder. «Wir waren im untersten Stock im Zimmer, hörten Peter oben rumbrüllen und hofften, er komme nicht runter.»

Da waren diese Aggressionen. Aggression entstehe immer aus Frustration, sagt Peter. «Ich bin wahnsinnig froh, dass sich meine Aggressionen nie gegen Menschen richteten, sondern immer nur gegen Dinge.» Wobei viel Glück dabei war, dass sich niemand verletzte. Fernseher flogen aus dem Fenster. Fensterscheiben gingen zu Bruch. Zum Beispiel bei der damaligen Freundin oder im Elternhaus, als ihn Freundin und Vater davon überzeugen wollten, er solle in die Klinik. Sein Vater sagte ihm danach, Stein und Scherben hätten ihn schwer verletzen oder gar töten können, wenn er am Fenster gestanden hätte. «Das ist mir schon sehr eingefahren», sagt Peter.

Im Flughafenhotel

Nach der Geschichte mit dem gestellten Einbruch setzen sich Sandrine, Daniela und ihre Schwester an den Küchentisch, und Sandrine beichtet alles. Daniela ist das gestohlene Geld völlig egal. Sie sorgt sich vor allem um ihre Freundin. Aber sie erschrickt auch, als sie hört, wie Sandrine über Monate mehr und mehr Schulden angehäuft hat, bei Online-Wetten oder im Casino, wie sie immer tiefer in eine Spirale der Verzweiflung geraten ist, weil sie bald, da war sie sich sicher, so viel gewinnen würde, dass sie alle Schulden tilgen und dann den Teufelskreis durchbrechen könnte.

Und Daniela hat rein gar nichts gemerkt. Sie kann nicht begreifen, wie sich eine ihrer besten Freundinnen so gut vor ihr verstellen konnte. Und wenn sie an die psychischen Qualen denkt, die diese tägliche Verstellung mit sich bringen musste, all die Lügengeschichten, um ihre Abwesenheiten zu erklären, all das aufgesetzte Lächeln und künstliche Lachen, dann wird ihr beinahe schlecht.

Heute sagt Daniela, sie habe seit Monaten nichts von Sandrine gehört. Niemand habe von ihr gehört, und niemand wisse, wo sie sei. Vielleicht wüssten es die Eltern. Aber inzwischen hat Sandrine so oft die Freundschaft abgebrochen, auf wiederholtes Nachfragen keine Antwort gegeben, dass Daniela und die anderen ehemals engsten Freundinnen, die sich jahrelang Mühe gaben, weitgehend resigniert haben.

«Wenn wir anderen uns sehen oder telefonieren, folgt früher oder später die Frage: Hast du was von Sandrine gehört?» Meist laute die Antwort nein. «Anfangs habe ich immer allen gesagt, man dürfe Sandrine ihre Affronts nicht vorwerfen. Es sei die Krankheit, die einen vor den Kopf stosse, nicht Sandrine.» Aber die Situation besserte sich über die Jahre nicht. In erster Linie seien mittlerweile alle müde.

Sandrines Muster war stets dasselbe. Die Krankheit spitzte sich zu, bis Sandrine einwilligte, die Klinik aufzusuchen. Dort wurde sie therapiert und erhielt Medikamente gegen die Depressionen. «Jedes Mal, wenn sie in Behandlung war, sagte sie, sie sehe jetzt die Probleme viel klarer als je zuvor. Sie sehe ein, was sie ändern müsse.» Sie kam aus der Klinik, nahm Medikamente, ging in die Therapie und nahm ihr Studium wieder in Angriff. Eine Weile war sie dann da, pflegte Kontakte und wirkte einigermassen stabil, auch wenn sie, die nie viel Alkohol getrunken hatte, an manchen Abenden plötzlich trank, bis sie kaum mehr stehen konnte.

«Und dann hörte man wieder nichts, bis jemand etwas aufschnappte.» Einmal beispielsweise, dass sie über Wochen am Flughafen Zürich gelebt, auf Stühlen ausgestreckt geschlafen und sich in den Toiletten gewaschen und die Zähne geputzt hatte. «Tagsüber wandelte sie ziellos in Zürich herum, abends ging sie an den Flughafen, und niemand ahnte etwas.»

Daniela, andere Freundinnen und die Familie haben Sandrine immer wieder gesagt, sie könne sich melden, egal mit welchen Problemen. Sie könne jederzeit einziehen, notfalls aufs Sofa. Aber Sandrine meldete sich nie. «Ich fühlte mich als Freundin komplett nutzlos.»

Die Hoffnung, Sandrine könnte sich fangen und irgendwie aus dem Teufelskreis herausfinden, sei von Episode zu Episode geschrumpft. «Aufgegeben habe ich sie noch nicht. Aber ich habe mich über die Jahre emotional weit von Sandrine distanziert. Ich kann diese Geschichte nicht mehr so nahe an mich heranlassen.»

Die grösste Freude

Peter hatte jetzt seit sechs Jahren keine «Episode» mehr. Er hat die Krankheit unter Kontrolle. Trotzdem oder genau deshalb trägt er zu jeder Zeit Notfallmedikamente bei sich. Wenn er merkt, dass sich etwas anbahnt, nimmt er Tabletten, die in ihrer Wirkung über die tägliche Medikamentendosis hinausgehen.

Peter ist überzeugt, dass er seine Krankheit gemeistert hat, weil er endlich diszipliniert lebt und die Ratschläge der Psychiater umsetzt. Er kifft schon lange nicht mehr und achtet auf einen regelmässigen Tagesablauf und genügend Schlaf.

Er weiss, dass in den 25 Jahren seiner Krankheit vieles zu Bruch gegangen ist, was er inzwischen nur teilweise kitten konnte. Teilweise auch nicht. Seinen Sohn kann er auf dessen Wunsch ausschliesslich in Gegenwart der Mutter sehen. Die jüngere Tochter zieht er aber im geteilten Sorgerecht gross. «Das gibt mir den grössten Halt und die grösste Freude.»

Alle Namen geändert

Mehr dazu, was die Anzeichen einer psychischen Erkrankung sind, wie man sich am besten verhält und wo man Hilfe findet, im Juniheft von Saiten auf Seite 28–30. Dieser Beitrag ist im Junihfet erschienen.

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