, 18. Juni 2019
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Heimat, befreiend und quälend

Das Panorama Dance Theater fragt nach den Qualitäten und Komplikationen rund um den Begriff «Heimat». Das jüngste Tanzstück des Ensembles ist nach der Premiere in Winterthur dieses Wochenende in St.Gallen zu sehen. von Marlen Saladin

Tobias Spori, Giulia Tornarolli und Rakesh Sukesh. (Bilder: Tine Edel)

Heimat und Heimatverlust – ein Thema, so emotional aufgeladen wie schwer fassbar: Was ist Heimat? Gibt es darauf überhaupt eine verbindende Antwort, oder ist Heimat für jede Person etwas anderes?

Sich dieses Themas aus künstlerischer Perspektive anzunehmen und die damit verbundenen Auseinandersetzungen tänzerisch zu verkörpern, wie das beim neuen Stück Green Green Grass of Home des Panorama Dance Theaters geschieht, ist eine mutige und wichtige Entscheidung. Mutig, weil der Begriff «Heimat» allzu oft aus einer vereinfachenden Perspektive betrachtet und zum Terrain für machtpolitische Diskurse wird; und wichtig deshalb, weil eben jenes Terrain auch von ganz anderer, fragender Seite her angegangen werden kann und es sich, wie dieser Abend beweist, wunderbar darauf tanzen lässt.

Wütend, zärtlich, eingeklemmt

Als Grundlage für das Tanzstück, das am kommenden Wochenende in der Lokremise St. Gallen gezeigt wird, dienten der künstlerischen Leiterin Ann Katrin Cooper und dem Tänzer und Choreographen Tobias Spori Aussagen verschiedener Leute, die sie zum Thema «Heimat» befragt hatten. Darauf aufbauend entwickelten sie ein Werk, das die unterschiedlichsten Assoziationen im Zusammenhang mit Heimat, Zuhause-Sein und Das-Zuhause-Verlieren sichtbar macht.

An den leicht herumtragbaren Holzkonstruktionen in schematischer Häuserform, mit denen Tobias Spori, Rakesh Sukesh und Giulia Tornarolli ihre Bühnenfläche tanzend immer wieder neu aufteilen, lässt sich erkennen, dass der Begriff «Heimat» ein je nach Lage und Betrachtungsweise verschiedenes und bewegliches Konstrukt ist: Zunächst bauen sich die drei in je einer Ecke der Bühne ein separates «Zuhause», dann verschieben sie einzelne Teile oder setzen sie mit anderen zusammen. Dann wieder werden die Holzgestelle mutwillig umgestossen oder im wohl eindrücklichsten Bild des Abends über einen der Tänzer gestapelt, bis dieser sich kaum mehr bewegen kann: Heimat ist zu einem bewegungshindernden Gefängnis geworden, das einem Menschen von anderen übergestülpt werden kann.

Dazwischen erzählen die Körper ihre eigenen Geschichten: Gesten des Vergessens und Suchens steigern sich zu wütendem Gerangel und Aneinander-Klammern. Verzweifelte Bewegungen Einzelner wechseln sich ab mit zärtlichen Begegnungen zu zweit und ausgelassenem Tanz zu dritt.

Im Jenseits und im Turm

Es ist ein integraler Bestandteil des Themenfeldes, wenn die wahre Heimat im Jenseits imaginiert wird: Nach dem Tod sind wir «zuhause», hier im Leben sind wir alle unterwegs. Der Gefahr, dass eine Darstellung dieses Aspekts ins Süsslich-Religiöse verfällt, begegnen Cooper und Spori auf kluge Weise. So sind über dem entsprechenden Text zwar Kirchenglocken zu hören. Aber durch die zerrissenen Bewegungen wird dem Moment jeglicher Kitsch genommen und die Sehnsucht nach einem Ort der wirklichen Ankunft umso deutlicher spür- und sichtbar.

Ein Grossteil der Dramatik dieses Abends kommt von Improvisationsmusiker Jan F. Kurth. Seine durch Live-Elektronik übereinander gelagerten Gesangslinien geben der Vielstimmigkeit und Vielschichtigkeit des Themas musikalischen Ausdruck. Es bildet sich ein Klangteppich unter den Füssen der Tänzerinnen und Tänzer, der ihre Bewegungen trägt, untermalt oder kontrapunktiert.

22. Juni, 20 Uhr und 23. Juni, 17 Uhr, Lokremise St. Gallen
panorama-dancetheater. com

Green Green Grass of Home verbindet scharfsinnige theoretische Auseinandersetzung mit physischer Intensität. Nassgeschwitzte, schwer atmende Körper bewegen sich immer in einem klar strukturierten Raum. Es fehlt dem Geschehen auf der Bühne nie an einem gedanklichen Überbau. Das hat zuweilen etwas Beengendes und Eingrenzendes, passt aber durchaus zum Thema «Heimat».

Und am Ende des Stückes finden die Darstellenden einen konstruktiven Weg, mit den sperrigen Holzgestellen umzugehen: Sie haben daraus in der Mitte der Bühne einen – zwar etwas wackligen – Turm gebaut, durch den es sich frei hindurchtanzen lässt. Die Konstrukte der Heimat haben sich verbunden zu einem fragilen Ganzen, das von allen Seiten durchlässig ist und niemandem die Bewegung verwehrt.

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