, 25. Februar 2021
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Heimvorteil: Ammenmärchen oder Realität?

Seit rund einem Jahr spielt der FC St.Gallen vor leeren oder fast leeren Rängen. Welchen Einfluss hat das fehlende Publikum auf den Spielausgang in der Super League? Eine wissenschaftliche Arbeit von Florian Oertle und anderen liefert unerwartete Antworten.

Bilder: SENF

Der FC St.Gallen spielte gerade eine seiner besten Saisons, als die Coronapandemie das öffentliche Leben weitgehend zum Stillstand brachte. Im März wurden kulturelle Anlässe abgesagt, sportliche Aktivitäten unterbunden, gesellige Besuche in Restaurants verboten und die Olma gestrichen. Alles schien aus den Fugen zu geraten.

Auch die Super League unterbrach Ende Februar 2020 ihren Spielbetrieb. Nach der Wiederaufnahme im Sommer vor begrenzter Kulisse dauerte es nicht lange, bis das Publikum gänzlich aus den Schweizer Stadien verbannt wurde. Auch heute sind wir von einem Stadionbesuch meilenweit entfernt.

Die Forschung freuts

Doch für die Wissenschaft erwiesen sich die Einschränkungen im Fussball als Glücksfall. Bis anhin konnte der Einfluss des Heimpublikums auf das Spielergebnis kaum erforscht werden. Nun aber erlaubten es die leeren Stadien, diesen Einfluss beziehungsweise dessen Fehlen über einen längeren Zeitraum und isoliert von anderen Einflussfaktoren in einem natürlichen Feldexperiment zu beobachten. Denn für die Wissenschaft ist unbestritten, dass das Heimpublikum eine wesentliche Rolle beim Heimvorteil spielt, mit dem sich die Forschung seit den 1980er-Jahren befasst.

Heimvorteil. Erinnerungen an das altehrwürdige Espenmoos werden wach. Ein Hexenkessel eben. Wer noch Spiele im Espenmoos besucht hat, weiss, welchen Einfluss das Publikum auf das Spielergebnis ausüben kann.

Das waren noch Zeiten…

Nach dem Umzug in das neue Stadion im Westen der Stadt beklagten sich viele Fans, dass der oft zitierte Heimvorteil beim FC St.Gallen verschwunden sei. Zwölf Jahre später, am 19. Juni 2020, titelte das «St.Galler Tagblatt»: «Der Niedergang des Heimvorteils im Fussball». Und fügte an: «Der Heimvorteil ist nicht mehr das, was er noch vor Jahren war.»

Publikum kann den Schiri beeinflussen

Sollte dem so sein, könnte das an drei Faktoren liegen, die durch das Heimpublikum unmittelbar beeinflusst werden.

Erstens haben eine hohe Zuschauerauslastung und eine hohe Zuschauerdichte einen positiven Einfluss auf den Heimvorteil. Generell haben Vereine mit einer grossen Fanbasis tendenziell einen Heimvorteil.

Zweitens kann das Heimpublikum sozialen Druck auf das Schiedsrichtergespann ausüben. Dieses neigt dann bei ihren Entscheidungen über gelbe beziehungsweise rote Karten und bei Strafstössen dazu, die Heimmannschaft zu favorisieren. Zudem erhält die Heimmannschaft bei anwesendem Publikum statistisch gesehen eine längere Nachspielzeit zugesprochen.

Drittens kann die vom Heimpublikum erzeugte Geräuschkulisse einen wesentlichen Einfluss auf das Spielergebnis haben. So bemerkte eine Studie beim Vergleich zwischen Stadion mit und ohne Laufbahn, dass sich der Heimvorteil mit zunehmender Entfernung des Publikums vom Spielfeldrand verringerte.

Drei Saisons untersucht

Doch nicht nur das Publikum beeinflusst den Heimvorteil. Als weitere, nicht abschliessende Einflussfaktoren, die auf den Heimvorteil einwirken, werden in der Fachliteratur die Reisestrapazen des Auswärtsteams, der Wechsel der Spielstätte, die andere Rasenunterlage, psychologische Aspekte, die Finanzkraft und der Terminkalender angeführt.

Seit Monaten: gähnende Leere im Stadion.

Basierend auf diesen theoretischen Grundlagen zeige ich, Florian Oertle, zusammen mit Mitstudierenden in einer wissenschaftlichen Arbeit die Veränderungen des Heimvorteils in der Super League während der Coronazeit auf.

Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich dabei über drei Saisons (2017/18 bis 2019/20) und betrachtet insgesamt 512 Spiele in der Super League. Spiele mit beschränkter Besucherzahl werden als Geisterspiele gewertet. Anhand linearer und logistischer Modellierungsansätze, bei denen die Tordifferenz zwischen Heim- und Auswärtsmannschaft als abhängige Variable bestimmt wird, analysiert das Autorenteam den Einfluss des Heimpublikums.

In der Arbeit wird das Heimpublikum mit den Faktoren Stadionkapazität, Stehplätze und Laufbahn modelliert. Hinzu kommen die Einflüsse der Reisestrapazen und der jeweiligen Rasenunterlagen auf das Spielergebnis. Ausserdem integrieren die statistischen Modelle mehrere Hilfsvariablen, damit wichtige Einflussfaktoren abgebildet sind, womit die Resultate aussagekräftig werden. Dazu gehören die Marktwerte und die Platzierungen der jeweiligen Mannschaften bei Saisonende sowie ihre Formstärken. Darüber hinaus inkludiert das methodische Verfahren auch die Ruhetage und Kadergrössen pro Spieltag und Mannschaft.

Heimteams ohne Publikum erfolgreicher

Entgegen der intuitiven Wahrnehmungen zeigen sich in der Super League erstaunliche Resultate. So steigt das durchschnittliche Torverhältnis zwischen Heim- und Auswärtsteam von 0,17 Tore pro Spiel vor Corona bei der Austragung von Geisterspielen auf 0,66 Tore pro Spiel. Das Heimteam schiesst also noch deutlicher mehr Tore als die Gastmannschaft.

Darüber hinaus ist die Anzahl der Heimsiege von 41,5 Prozent auf 52,5 Prozent gestiegen. Folglich impliziert der Anstieg von 10,7 Prozentpunkten sogar, dass der Heimvorteil ohne anwesendes Publikum tendenziell zunimmt. Diese Tatsache überrascht umso mehr, weil das Publikum statistisch gesehen die Tordifferenz mit 0,47 Toren zugunsten der Heimmannschaft signifikant beeinflusst.

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Interessante Resultate liefern auch die Modelle, mit denen man Veränderungen der Wahrscheinlichkeiten prognostizieren kann. So steigt in der Coronapandemie die Wahrscheinlichkeit für einen Heimsieg um 57 Prozent. Zugleich sinkt die Wahrscheinlichkeit für einen Auswärtssieg um 50,6 Prozent. In diesem Kontext scheint der FC St.Gallen mit sechs Siegen und acht Unentschieden aus total 18 Auswärtsspielen eine Ausnahme zu sein.

Geld schiesst doch Tore

Bei den anderen Variablen konnte das Autorenteam feststellen: In der Super League hat weder eine Laufbahn im Stadion noch der Anreiseweg beziehungsweise die Distanz einen wesentlichen Einfluss auf den Heimvorteil, weder vor noch während Corona. Im Gegensatz dazu konnte bei Mannschaften, die ihre Heimspiele auf Kunstrasen austragen, schon davor ein markant höherer Heimvorteil beobachtet werden. Erwartungsgemäss haben auch Marktwerte der jeweiligen Mannschaften einen enormen Einfluss auf das Spielergebnis.

Die restlichen Hilfsvariablen sind entweder statistisch nicht signifikant oder haben einen zu vernachlässigenden Einfluss auf den Heimvorteil.

Es scheint also, dass der Heimvorteil während Corona sogar noch grösser geworden ist. Allerdings könnte es nur eine Frage der Zeit sein, bis sich die Mannschaften an die neuen Umstände bei Geisterspielen gewöhnt haben und somit der fehlende Einfluss des Heimpublikums weniger bedeutsam für das Spielergebnis wird.

Und obwohl die trockenen Zahlen eine eindeutige Sprache sprechen, wissen wir alle, wozu ein begeistertes Heimpublikum fähig sein kann. Vielleicht nicht statistisch, vielleicht nicht immer. Aber in diesem einen Spiel. Denn, wie die englische Fussballlegende Sir Bobby Robson schon sagte: «Der Heimvorteil gibt dir einen Vorteil.»

Dieser Beitrag basiert auf einer empirischen Semesterarbeit zum Thema Heimvorteil im Rahmen eines Masterstudiengangs an der ZHAW. In Zusammenarbeit mit Cyrill Ineichen.

Das Senf-Kollektiv besteht aus 15 fussballverrückten Frauen und Männern. Es gibt die St.Galler Fussballzeitschrift Senf heraus und betreibt daneben auch einen Blog. Senf kommentiert auf saiten.ch das Geschehen auf und neben dem Fussballplatz.

4 Kommentare zu Heimvorteil: Ammenmärchen oder Realität?

  • Nicole Oertle sagt:

    Gratulation an Florian Oertle und die Mitschreiber, ein sehr objektiver und souveräner Artikel mit viel Feingefühl und die LIEBE zum Fussball. Das Senf Bulletin ist immer sehr aufschlussreich und eine Bereicherung. BRAVO und CHAPEAU

  • Hans Fässler sagt:

    Wenn das Satire sein soll, ist es schlecht. Wenn es Wissenschaft sein soll, ist es noch schlechter. Wenn die Autoren und das Senf-Kollektiv, was ich vermute, selber gar nicht so recht wissen, ob sie es ernst meinen, dann wäre das am schlechtesten.

    • SENF sagt:

      Die Grundlage für diesen Artikel ist eine wissenschaftliche Arbeit an der ZHAW, die dort auch abgenommen und für sehr gut befunden wurde. Wir wissen darum sehr genau, dass wir es ernst meinen. Wenn es konkrete Fragen gibt, bemühen wir uns aber natürlich gerne, diese zu beantworten.

  • Hans Fässler sagt:

    10 Kreuzbandrisse beim FCSG in 11 Jahren? Das feuchte Klima? Die DNA der Spieler? Die Boshaftigkeit der Gegner? Zufall? Hier braucht es eine wissenschaftliche Untersuchung! ZHAW und Senf, übernehmen Sie!

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