Highway to hell and back

Der Mai ist für mich ei­ne ganz be­son­de­re Zeit. Im Mai vor drei Jah­ren kam ich nach St.Gal­len. Ich den­ke darüber nach, während ich zu den Mau­ern des al­ten Schlos­ses Lenz­burg lau­fe – auf dem Weg zu ei­ner Kon­fe­renz für Schrift­stel­le­rin­nen.

Plötz­lich spüre ich al­les wie­der. Da ist er, der Ge­ruch nach dem Re­gen, hier sind die Pflas­ter­stei­ne, und ich se­he wie­der, wie schön das fri­sche Laub ist ... All das wäre vor drei Jah­ren aus mei­nem Le­ben bei­na­he ver­schwun­den.

Ich er­tap­pe mich bei dem Ge­dan­ken, dass die­ses Schloss so schön ist – und dass ich die Schönheit wie­der fühle. Das Le­ben kehrt zu­rück, wie der Frühling.

Doch da­mals bei mei­ner An­kunft in St. Gal­len fühl­te sich der An­fang an wie ein Hor­ror­film. So un­ge­fähr könn­te man das nen­nen. Denn da prall­ten zwei Rea­li­täten auf- ein­an­der – ko­gni­ti­ve Dis­so­nanz pur. In der ei­nen exis­tiert die Ukrai­ne, wie sie wirk­lich ist, in der an­de­ren so, wie man sie hier in die­ser Ecke der Schweiz zu «ken­nen» glaubt.

Stellt euch ein­fach vor: Eu­re Kol­leg:in­nen, die plötz­lich zu Sol­dat:in­nen an der Front wur­den, voll­brin­gen täglich un­glaub­li­che Hel­den­ta­ten aus tiefs­tem Mut. Welt- weit re­nom­mier­te Schrift­stel­ler:in­nen wer­den ein­be­ru­fen. Es ster­ben Men­schen, eben­falls täglich. Übe­r­all auf der Welt wird die Ukrai­ne un­ter­stützt, es ent­ste­hen er­staun­li­che künst­le­ri­sche und krea­ti­ve Ak­tio­nen. Gasts­tätten sind jetzt Hubs für Frei­wil­li­ge. Co­wor­king-Spaces sind vol­ler Men­schen, die tak­ti­sche Ers­te-Hil­fe-Sets zu­sam­men­stel­len. IT-Spe­zia­list:in­nen pro­gram­mie­ren Soft­ware für Droh­nen ...

Zur sel­ben Zeit, ir­gend­wo in klei­nen Dörfern in ir­gend­ei­ner Ecke der Welt, be­haup­tet je­mand, ukrai­ni­sche Frau­en sei­en «we­gen der Schwei­zer Männer ge­kom­men» (so ei­ne Un­ver­schämt­heit ha­be ich wahr­schein­lich seit den an­ge­staub­ten 90er-Jah­ren nicht mehr ge­hört). Und ich höre es, zum Bei­spiel, kurz nach­dem ich er­fah­ren ha­be, dass Vik­to­ria Ame­lina, mei­ne Freun­din, ei­ne Schrift­stel­le­rin, ge­tötet wur­de. Ih­re Bü- cher wur­den später in vie­le Spra­chen über­setzt. So­gar das letz­te, un­voll­ende­te Werk.

Oder so et­was wie: «Was habt ihr denn für Li­te­ra­tur? Dos­to­jew­ski?» Und das kommt, während ukrai­ni­sche Schrift­stel­ler:in­nen und Mu­si­ker:in­nen welt­weit auf­tre­ten, mit Ed Sheeran und Pink Floyd kol­la­bo­rie­ren, um Un­ter­stützung zu zei­gen.

Oder wenn ir­gend­wel­che Tik­Tok-Fakes ver­brei­tet wer­den, denn auch der hy­bri­de Krieg ist nicht vor­bei und wird mehr als gross­zügig fi­nan­ziert.

Dann ver­steht man plötz­lich, wie rie­sig der Ab­grund ist – zwi­schen dem, was ge­schieht, und dem, was ir­gend­wo nur vom Hören­sa­gen exis­tiert.

Erst später be­grei­fe ich, dass die Schweiz aus ver­schie­de­nen Tei­len be­steht, es gibt ver­schie­de­ne Kan­to­ne, und in den Städten weiss man ei­nes, in den klei­nen Dörfern da­für et­was an­de­res. Aber man kann doch ein­fach mensch­lich sein ...

Es wird sehr viel Zeit ver­ge­hen, bis sich das al­les ir­gend­wie syn­chro­ni­siert.

Und wie­der kommt der Mai.

Ich den­ke auch darüber nach, wie ich da­mals di­rekt nach der Uni zum ers­ten Mal hier war, nämlich in Caux VD, bei ei­ner Kon­fe­renz. Ich hat­te so son­ni­ge Er­in­ne­run­gen an die­se in­ter­na­tio­na­le Zu­sam­men­ar­beit, Ver­trau­en und Un­ter­stützung, an un­se­re Ideen und das ge­mein­sa­me Tei­len. An die un­glaub­lich schöne Na­tur. Und nun, ge­ra­de jetzt, wo ich die­se Na­tur und die Stil­le so brau­che, macht es mich nach­denk­lich, wie grau­sam Men­schen sein können, als würden sie in ei­ner an­de­ren Rea­li­tät le­ben. Und dass es in die­ser glo­ba­len Wis­sens­welt über­haupt möglich ist, «nichts über die Ukrai­ne zu wis­sen» oder ir­gend­wel­chen Un­sinn zu ver­brei­ten. Ir­gend­wel­che So­cial Me­dia-Fakes, die spal­ten, statt zu ver­ei­nen. All das brach­te mich in ei­ne un­aus­sprech­li­che Ver­zweif­lung. Es tat weh – aus dem Ge­fühl her­aus: Wo­zu denn das Gan­ze?

Nun ha­be ich ver­stan­den: Ge­nau dar­in steckt die gröss­te Kraft. Ich ha­be all das durch mein Herz hin­durch­ge­las­sen. Plötz­lich fügten sich da­durch all die­se Tei­le der Schweiz für mich zu ei­nem Gan­zen – und ein Teil da­von wur­de auch die Ukrai­ne, die zu­vor für man­che un­be­kannt war.

Ich se­he, wie das Son­nen­licht im Laub flim­mert. Jetzt weiss ich, dass das al­les nicht um­sonst war.