, 3. Mai 2022
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«I want to show life as I imagined it»

Sie ist eine der eigenwilligsten und kompromisslostesten Vertreterinnen des britischen Gegenwartskinos: Joanna Hogg. Die Programmkinos Xenix in Zürich, Rex in Bern, Kinok in St.Gallen und Cameo in Winterthur zeigen nun eine gemeinsame Retrospektive. von Esther Buss

Honor Swinton Byrne und Tilda Swinton in The Souvenir: Part II. (Bilder: pd)

In Joanna Hoggs autobiografisch geprägter Rückschau auf ihre Studienzeit Anfang der 1980er-Jahre stecken viele Filme: das Porträt einer jungen Frau auf der Suche nach einer künstlerischen Stimme, ein Zeitbild der Thatcher-Ära, ein Drama über Co-Abhängigkeit und Trauerarbeit, eine Reflexion über gesellschaftliche Privilegien und Emanzipation, eine Erinnerungserzählung, ein Film übers Filmemachen.

Dass die britische Autorenfilmerin erst mit The Souvenir (2019) und The Souvenir: Part II (2021) eine grössere Öffentlichkeit erreichte, hat sicherlich mit der Offenheit und Vieldeutigkeit des zweiteiligen Films zu tun. Andere Gründe könnten das aktuelle Interesse für autobiografische bzw. autofiktionale Erzählformen sein und für die Art und Weise, wie Hogg die verschiedenen Elemente des Films zu einem so luftigen wie organischen Gewebe verflicht. Auch die blassen, fast pudrigen Farben, die die Realität weit zurückliegender Erinnerungen in eine leicht entrückte filmische Sprache kleiden, und eine Erzählweise, die eher hingetupft als mit breitem Strich gezeichnet ist, machen den Film zu einem Ausnahmewerk. Wie auch die Präsenz von Honor Swinton Byrne (Tilda Swintons Tochter im Film wie im echten Leben), die Hoggs Alter Ego Julie mit einer faszinierenden Mischung aus Hartnäckigkeit und Zerbrechlichkeit spielt.

Nachdem The Souvenir auf dem Sundance Film Festival mit einer Auszeichnung bedacht und im Anschluss auch auf Festivals in Berlin und Basel gezeigt worden war, fand er schnell eine begeisterte Anhängerschaft. Auch die Betreiber:innen der Schweizer Kinos Xenix, Cameo, Rex und Kinok zählten dazu. Mit der Ankündigung eines zweiten Teils entstand unmittelbar die Idee zu einer gemeinsamen Retrospektive. Nun ist das Werk einer der eigenwilligsten und kompromisslosesten Vertreterinnen des britischen Gegenwartskinos erstmals in seiner Gesamtheit in der Schweiz zu entdecken. Zur Premiere von The Souvenir wird Hogg persönlich zugegen sein.

Alles, was im TV verboten ist

Joanna Hogg, 1960 in London geboren, kam über Umwege zum Autorenkino. Im Anschluss an ihren Abschlussfilm Caprice (mit einer damals noch unbekannten «Matilda» Swinton in der Hauptrolle), auf den auch The Souvenir: Part II Bezug nimmt, folgte zunächst eine langjährige Arbeit als Regisseurin von Musikvideos (etwa für Alison Moyet) und Fernsehserien. Erst nach fast 20 Jahren beschloss Hogg, inzwischen weit über 40, eigene Filme zu machen. Alles sollte darin möglich sein, was im Fernsehen verboten war.

Mit geringem Budget und auf High-Definition-Video entstand das Debut Unrelated (2007). In der Geschichte einer nicht mehr jungen Frau, die sich nach Verbindung und Lebendigkeit sehnt, etablierte Hogg Arbeitsmethoden, die sie bis heute weitgehend beibehalten hat. So etwa die Beschränkung auf einen zentralen Schauplatz, den Verzicht auf ein konventionelles Drehbuch und improvisierte Dialoge.

Joanna Hogg. (Bild: Ellis Parrinder)

Mit fünf Langfilmen ist Hoggs Werk überschaubar. Ihre künstlerische Handschrift, die ein Filmkurator einmal mit dem Adjektiv «hoggian» beschrieben hat, ist indes gar nicht so leicht zu fassen. Hoggs Filme leben von Wirklichkeitspartikeln wie von der Imagination, von eigenen Erfahrungen wie von Einflüssen aus Malerei, Fotografie und Filmgeschichte. Was ihre Arbeiten hingegen verbindet, sind Themen wie Isolation, unerfüllte Mutterschaft, weibliche Sexualität und künstlerische Krisen. Regelrecht spezialisiert hat sich Hogg zudem auf unterdrückte Spannungen und Kommunikationsverfehlungen, die sie gleichermassen beklemmend, peinlich berührend und mitunter auch komisch in Szene zu setzen weiss.

Kritische Beobachterin der eigenen Privilegien

Mit ihrer scharfsinnigen Darstellung der gehobenen Mittelklasse und ihrer Distinktionsformen – sie selbst entstammt der britischen upper middle class – hat sich die Regisseurin auch einen Namen als kritische Beobachterin der eigenen Klasse und der damit verbundenen Privilegien gemacht. Wer mit dem britischen Kino vor allem sozialrealistische Dramen um Arbeitskämpfe und prekäre familiäre Verhältnisse verbindet – der sprichwörtliche «kitchen sink realism» –, sieht sich bei Hogg auch einem ästhetischen Milieuwechsel gegenüber. Statt bewegter Kamera und dem trüben Kolorit schlechten Wetters arbeitet sie mit langen, unbewegten Einstellungen, weit geöffneten Bildkompositionen und einer differenzierten Farbdramaturgie.

Ebenso charakteristisch sind der Einsatz von Off-Dialogen und -Tönen und ein gemischtes Cast aus professionellen Schauspieler:innen wie Tilda Swinton und Tom Hiddleston (Hogg entdeckte den späteren «Loki» aus Marvels The Avengers erst für das Kino) und Laien wie die Punk-Musikerin Viv Albertine oder Liam Gillick, der in Exhibition (2013) eine Version seiner selbst spielt, aber auch die «echte» Köchin und der «echte» Landschaftsmaler in Archipelago (2010). Die Arbeit mit Laien führt nicht nur einen Naturalismus in die Filme ein, der sich zu ihrem konzeptuellen Rahmen in ein produktives Spannungsverhältnis setzt: Auch die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fiktion finden sich so verwischt.

Räume und Distanzen vermessen

Das wohl prägendste Element in Hoggs Werk ist jedoch die Bedeutung des Raums. Tatsächlich gibt es kaum eine Filmemacherin, die ein so umfassendes, tiefes und präzises Verständnis von Raum hat. Das können Landschaften sein wie die unberührte Natur auf einer entlegenen Insel im äussersten Südwestens Grossbritanniens (Archipelago), das in Kensington im Westen Londons gelegene modernistische Haus eines Künstlerpaars (Exhibition) oder das nach Hoggs Erinnerung «original» rekonstruierte Apartment in The Souvenir.

The Souvenir: 3. Mai, 19.30 Uhr, Kinok St.Gallen, Premiere in Anwesenheit von Joanna Hogg.

kinok.ch

Diverse weitere Vorstellungen und Filme von Joanna Hogg im Mai.

Hogg setzt in diese Räume Menschen bzw. Körper hinein und erforscht aus bestimmt, aber nie ausgestellt weiblicher Perspektive, wie diese mit ihrer Umgebung zusammenwirken. Wie sie sich darin bewegen oder im Gegenteil: Wie sie darin erstarren, eingekapselt in sich selbst, abgetrennt von den anderen, der sozialen Gruppe, dem Lebenspartner, aber auch dem Selbst und seinen Bedürfnissen. Hoggs Filme vermessen immer auch Distanzen zwischen Menschen, die, um mit dem Titel ihres Debuts zu sprechen, «unrelated» sind, also beziehungslos. Und nicht zuletzt meint Raum auch einen metaphorischen «room of one’s own»: in einer Beziehung, einem Familiengefüge, im Feld der künstlerischen Produktion.

In The Souvenir: Part II sitzt Julie einmal ihren Filmdozenten gegenüber, um ihnen die Idee für ihren Abschlussfilm vorzustellen. Die vier Männer blättern ratlos in ihrem Drehbuch. Das Skript sei unprofessionell, unklar und nicht präzise durchdacht, habe mit Art is life ja nicht einmal einen richtigen Titel. Frustriert fragen sie sich, wohin denn die Welt prekärer Lebensverhältnisse verschwunden sei, deren Abbildung die Studentin bei ihrer Bewerbung noch zu ihrer dringendsten Aufgabe erklärt hatte.

Eben diese Julie sagt jetzt: «I don’t want to show life as it plays out in real time. I want to show life as I imagined it. That’s what cinema is all about.» Wie dieser Grundsatz filmische Wirklichkeit wird: Auch das zeigt die Werkschau zu Joanna Hogg.

 

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