, 12. März 2016
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Ich antworte mit: Blut.

Noch fünfmal schlafen bis zu den Slam-Meisterschaften in St.Gallen – hier als Vorgeschmack der Hintergrund: Was Slam mit Queen Viktoria zu tun hat, wie es in den legendären Anfängen in SlamGallen zu und her ging und warum es auf die saublöde Frage nach der Kommerzialisierung des Slam nur eine Antwort gibt.

Etrit Hasler (Bild: Tobi Heyel)

Die ersten zehn Jahre meiner Bühnenkarriere habe ich so häufig die Frage «Was ist ein Poetry Slam?» beantworten müssen, dass ich mir irgendwann geschworen habe, das aus Prinzip nicht mehr zu tun. Immerhin leben wir in einer Informationsgesellschaft. Und wer zu faul ist, selber auf Wikipedia nachzuschlagen, gehört wohl eher nicht zum potentiellen Zielpublikum. Igitt. Hat der selbsternannte Dichter gerade Zielpublikum gesagt? Jep, hat er. Und den Begriff hat er nicht an der HSG gelernt, sondern beim Slam. Aber dazu später mehr.

Stattdessen ging ich irgendwann dazu über, auf die Frage (oder andere saublöde Fragen, wie zum Beispiel: «Wie kommst du auf deine Ideen?», «Aber davon leben kannst du nicht, oder?» oder auch «Was ist deine Lieblingsfarbe?») völlig willkürliche Antworten zu geben. Diese schreibe ich vor Interviews auf verschiedene Zettel und stecke sie in den Hosensack. «Die Frage nach dem ontologischen Bewusstsein des Nichts widerspricht zutiefst dem Bedürfnis nach Autonomie in einer querdeterminierten Realität mit metaphorischen Analogien zum Suppentopf.» Oder einfacher: «Blut.» Diese Antwort führte einmal zum Abbruch einer Fernsehaufnahme – interessanterweise wurde nicht ich aus dem Studio geworfen, sondern der äusserst verwirrte Moderator von der Produzentin zusammengestaucht.

Finden Sie das arrogant? Ich schon. Aber wenn ich etwas in den ersten Jahren der Poetry Slam-Geschichte gelernt habe, dann, dass Arroganz eine der wichtigsten Voraussetzungen ist, ein Publikum für seine Kunst zu finden. Seien wir ehrlich: «Slampapi» Marc Kelly Smith, der Mann, der in Chicago 1986 den Poetry Slam begründete, war nicht minder arrogant, als er befand: Der Stuhl muss weg, der Tisch muss weg, DichterInnen sollen gefälligst stehen und ihre Texte zum Leben erwecken. Als ob alle Schreibenden automatisch auch Performende wären und wenn nicht, gefälligst weiter für die Schublade, ungelesene Anthologien und Lesungen mit 15 intellektuellen Nasen schreiben sollen.

Verdammt arrogant, sowas.

Aber brillant: Wer sich mit der Geschichte der Literatur und insbesondere jener der Poesie auseinandersetzt, merkt recht schnell, dass die Idee, dass literarische Texte auch ohne Bühne funktionieren könnten, ziemlich neu ist. In Europa kommt sie um das viktorianische Zeitalter herum auf, mit der Entstehung eines Bürgertums, das auf Bildung setzte und parallel dazu alles verdammte, was nur ansatzweise mit Lust und Genuss zu tun haben könnte. Poesie wurde wortgewandt, strukturiert und steril. Und gedruckt, im Derrida’schen Sinn von Schrift als toter Sprache. Wir haben vorhin schon geklärt, dass ich arrogant bin. Da gehört ein besserwisserischer Bezug auf einen unverständlichen französischen Philosophen einfach dazu.

Zugegeben: Queen Viktoria ging an uns in der Schweiz vorbei. Doch auch hierzulande wurde das Schicksal der Poesie vom Bildungsbürgertum besiegelt. Der letzte poetische Unruhezustand fand während des ersten Weltkriegs statt, als Tristan Tzara und Hugo Ball mit dem dadaistischen Vorschlaghammer die Sprache zerschmetterten – und übrigens ganz nebenbei poetische Formen erfanden, die sich im Slam grösster Beliebtheit erfreuen, wie etwa das Teamgedicht. Doch von der revolutionären Kraft der Dadas blieb spätestens dann nichts mehr übrig, als MittelschullehrerInnen ihren desinteressierten Schulklassen anhand von Ottos Mops Wortspiele und Lautgedichte beibringen wollten.

Slam-Meisterschaften 2016: 17. bis 19. März, Palace, Grabenhalle und Tonhalle St.Gallen. Infos: hier.

Vielleicht war das der Grund, warum Slam in der Schweiz so gut funktionierte: Die Schulen hielten sich von uns fern. Wir waren zu rau, zu arrogant. Wir standen (Gott bewahre) dazu, dass wir uns in rauen Mengen Alkohol hinter die Binde kippen, vor, während und nach den Auftritten. Wir waren gekommen, um die Poesie zu revolutionieren und das, obwohl wir im besten Fall Ginsberg und Brinkmann und im schlimmsten Fall Stuckrad-Barre gelesen hatten. Wir gingen nicht zuerst in die Kleintheater, wo uns die Lehrer als Publikum hätten entdecken können – wir gingen in die Bars und Konzertsäle. Wir stiessen uns die Hörner ab an einem Publikum, das nicht gekommen war, um uns zu sehen, aber blieb, wenn wir gut waren.

Es waren wilde Zeiten, die ich trotz allem nicht verklären will: Es macht keinen Spass, die erste Viertelstunde einer Show damit zu verbringen, eine besoffene Horde dazu zu bringen, im 6-Minuten-Rhythmus die Klappe zu halten und sich Literatur reinzuziehen. Es macht auch keinen Spass, sich von der Bühne aus zu erkundigen, wer aus dem Publikum noch sechs Slammerinnen für die Nacht aufnehmen könnte, weil der Veranstalter das nicht für seine Aufgabe hält. Oder für zwei Getränkegutscheine quer durch Europa zu fahren.

Dennoch waren es legendäre Zeiten.

Mit legendären Slammerinnen und Slammern. Ich sage gerne, ich sei Slammer der eineinhalbten Stunde, weil ich mir nicht anmassen will, von Anfang an dabei gewesen zu sein. Diese Ehre gebührt anderen: Matthias Burki und Yves Thomi, die die ersten Slams in der Schweiz organisierten und später den «Gesunden Menschenversand» gründeten – heute einer der bedeutendsten Verlage für Spoken Word Literatur im deutschsprachigen Raum. Tom Combo, dem ersten Slammer überhaupt, der sich diesen Archetyp aneignete, der als erster Schweizer Teilnehmer an die deutschsprachigen Slam-Meisterschaften fuhr und die Schweizer Szene (und mich) in den ersten Jahren wie kein Zweiter prägte. Es ist eine Schande, dass er bis heute am Flughafen Kloten Gepäckwagen durch die Gegend schiebt, statt die im gebührenden Literaturpreise einzuheimsen. Martin Otzenberger, der etwas schusslig, aber mit einer unbändigen Leidenschaft in Zürich so lange Slams veranstaltete, bis das Schauspielhaus das Format entdeckte. Sandra Künzi natürlich, die der Szene bis heute treu geblieben ist. Und auch jenen, die der Szene irgendwann den Rücken kehrten, sei das mit einem freundlichen «So long and thanks for all the drinks» wie Suzanne Zahnd oder mit einem unnötigen «Fickt euch alle» wie Jürg Halter oder Daniel Ryser.

Es war zu den Zeiten, als Ryser noch aktiv war, dass St.Gallen das erste Mal eine Hochburg des Poetry Slams genannt wurde. Es ist wahr: Wir hatten den Begriff selber in die Welt gesetzt – aber er stimmte. Mit Ryser hatten wir den erfolgreichsten Schweizer Slampoeten (bis ihm Gabriel Vetter 2004 den Rang ablief) und mit mir den ersten, der fast jedes Wochenende nach Deutschland reiste, um sich zu vernetzen, andere Slammer kennenzulernen und diese nach St.Gallen zu holen. Dazu kam, dass wir mit Lukas Hofstetter den ersten Veranstalter hatten, der grösser denken wollte.

Mehr Zuschauer. Bessere Shows. Professionalität. Zielpublikum. Glamourfaktor.

Wir veranstalteten die ersten Slams der Schweiz, bei denen das Urprinzip des Slams, die offene Liste, in die sich am Abend noch alle eintragen konnten, ausser Kraft gesetzt wurde. Stattdessen planten wir Line-Ups, die unserem Publikum ein Best-Of der deutschsprachigen Szene boten. War das bereits Verrat? Eine «Kommerzialisierung» der Szene? Ich antworte mit: «Blut.» Oder vielleicht: «Töro, sagt der Irrelefant.»

Viel relevanter war die Breite des literarischen Angebots. In St.Gallen trat Ingeborg Bachmann-Preisträger Michael Lentz am Slam auf – obwohl er schon seit Jahren nicht mehr an Wettbewerben mitmachte. Ein junger aufstrebender Kabarettist namens Andreas Thiel – dass er als erster dran kam und von einem betrunkenen Zuschauer ausgebuht wurde, kann man im Nachhinein fast als karmische Fügung ansehen. War Nora Gomringer auch einmal bei uns? Ich weiss es nicht mehr. Wir zogen Menschen aus verschiedenen Kunstrichtungen an. Die Lyrikerin Andrea Graf trat genauso auf wie der Fluxus-Künstler Ekk-Art Lory. Der (damals noch) junge Lokaljournalist Kaspar Surber. Der Lyrikverleger und Vernetzer Richi Küttel – den musste ich drei Jahre lang bearbeiten, heute ist sein Name aus der Schweizer Slam-History nicht mehr wegzudenken. Der Schauspieler Romeo Meyer. Der Rapper und Videokolumnist Knackeboul.

Kurze Abschweifung:

Die Ostschweizer Szene der letzten 15 Jahre wäre undenkbar gewesen ohne das Netzwerk im Rest der Ostschweiz. In Frauenfeld veranstalteten während fast zehn Jahren Mathias Frei, Ivo Engeler und ihr Team einen der wildesten Slams des Landes. In Winterthur machte Patrick Armbruster ähnlich lange Basisarbeit, bis Lara Stolls Erfolg der Szene den Weg ins Casinotheater ebnete. In Kreuzlingen fungierte die irrste Slam-WG Europas um Charlotte Rieber, Matze B und Thomas Geyer als Eintrittspforte in die Schweiz. Ebenfalls nicht vergessen werden darf das TapTab Schaffhausen, wo Christian Erne und später Philipp Vlahos den rausten Slam der Schweiz betreiben. Für all jene, die ich vergessen habe, mache ich die Siegerabsinths der letzten zehn Jahre verantwortlich.

Wir waren 2003 in St.Gallen die ersten im deutschsprachigen Raum, die Slams mit Jugendlichen veranstalteten. Interessanterweise nicht auf Impuls der Schule hin, sondern auf jenen der Freihandbibliothek. Heute sind U20-Slams ein so zentraler Teil der Szene, dass die meisten Slam-Profis in Deutschland ihr Haupteinkommen mit U20-Workshops verdienen. Natürlich hat das auch zu einem Mainstreaming geführt, was sich unter anderem in Schimpfworten wie «U20-Deepness» und «Engelmannerei» manifestiert.

Natürlich höre ich die Unkenrufe (übrigens schon seit zehn Jahren), der Mainstream habe beim Slam allgemein Einzug gehalten. Darüber könnte man länger streiten. Die letzten zwei Meisterschaften hat Christoph Simon gewonnen, ein begnadeter, stiller Feingeist. Zuvor war es Hazel Brugger – eine Frau, die Schweizer Stand-Up Comedy im Alleingang erfindet. Lara Stoll, Gabriel Vetter, Renato Kaiser – die mögen alle manchmal massentauglich sein, aber ist das Mainstream?

Sie kennen meine Antwort.

Viel wichtiger ist diese Frage: Wie lange hält das noch an? Selbst Cats war nicht für immer. Poetry Slam wahrscheinlich auch nicht. Noch ist es jedenfalls nicht soweit. Und auch wenn ich das bereits fünfzehn Jahre mache – ich hab die Schnauze noch lange nicht voll.

Etrit Hasler, 1977, ist Slampoet, Kantonsrat und lebt in St.Gallen. Im Dezember 2015 feierte er sein 15-jähriges Bühnenjubiläum.

Dieser Beitrag erschien als Auftakt zum Slamschwerpunkt im Märzheft von Saiten.

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