, 30. November 2017
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«Ich hatte lange Zeit Angst, dass mich die Frauen von der Bettkante stossen»

René Rohner hat Aids. Im Interview spricht er über seine wechselvolle Vergangenheit, über gesellschaftliche Diskriminierung und die Präventionsarbeit mit Jugendlichen.

Corinne Riedener: Wie hast du dich angesteckt?


René Rohner: Mit einer Nadel. Das war 1986. Ich war auf Heroinentzug und eine Bekannte bot mir an, ihren Schuss mit mir zu teilen. Sie ist zusammengebrochen nach der Hälfte und ich musste Hilfe holen. Nachdem sie von der Ambulanz mitgenommen wurde, nahm ich die Spritze vom Boden auf und habe mir den Rest injiziert.

Wie konntest du wissen, dass es gerade diese Nadel war?


Weil es das einzige Mal war, dass ich mit jemandem die Na­ del geteilt habe. Und weil sie mir einige Tage später gebeichtet hat, dass sie HIV-­positiv ist.

Das muss dich wahnsinnig wütend gemacht haben…


Nein, wütend war ich nur auf mich selber, schliesslich habe ich mir den Schuss ja selber gesetzt. Sie hat mich zu nichts gezwungen. Als sie dann zu mir kam und sich entschuldigte, konnte sie es kaum glauben, dass ich ihr keins reinhauen wollte, aber ich bin einfach nicht der Typ dafür. Ich habe auch niemals gestohlen oder betrogen, als ich auf Drogen war. Sowas kann ich einfach nicht.

René Rohner, 1968, lebt in St .Gallen und hat eine steile Drogenkarriere hinter sich. Nach der obligatorischen Schulzeit war er bereits stark medikamenten- und alkoholabhängig. Zum ersten Mal Heroin gespritzt hat er sich mit 17 Jahren. Wenig später hat er sich mit dem HI-Virus angesteckt, ausgebrochen ist AIDS bei ihm vor 15 Jahren. Ursprünglich hat René Müller gelernt, später arbeitete er in verschiedenen Branchen, unter anderem auf dem Bau. Heute ist er drogenfrei, lebt von der IV, macht Yoga und besucht Schulklassen für die HIV-/Aidsprävention.

Wie bist du damit umgegangen?


Anders als andere, meine ich. Ich bin zum Beispiel von Anfang an zu meiner Krankheit gestanden, auch im Job, und diese Ehrlichkeit war für mich rückblickend eher von Vorteil. Vielleicht hat es auch mit meiner Einstellung zu tun: Ich glaube nicht an Diskriminierung. Ich weiss, es gibt sie, aber ich selber habe selten Derartiges erlebt. Ab und zu hat vielleicht jemand die Hand zurückgezogen, aber das hatte wohl mehr mit fehlender Aufklärung zu tun, weniger mit Diskriminierung. Früher war ich auch oft an Kongressen, wo sich Aidskranke getroffen haben, und ich bin erschrocken, wie viele Leute sich da immer nur auf das Negative konzentriert haben. Viel zu viele sind in permanentem Selbstmitleid versunken, darum behaupte ich: Selbstdiskriminierung ist die grösste Diskriminierung.

Schwer zu glauben, dass Du schon immer so souverän warst.


Ganz am Anfang war das natürlich anders: Ich erlitt den totalen Zusammenbruch. Danach bin auch ich erstmal im Selbstmitleid versunken. Und habe mir so auch meinen Drogenkonsum finanziert: Weil ich nicht stehlen oder lügen wollte, habe ich angefangen zu betteln und allen meine Lebensgeschichte erzählt. So bin ich zu Stoff gekommen. Diesem Teufelskreis entkommen bin ich erst, als ich vor etwa 15 Jahren endgültig mit den Drogen aufgehört habe – und endlich angefangen habe, mich mit den wichtigen Fragen des Lebens zu befassen: Wer bin ich und was will ich hier?

Wie hat deine Familie damals auf die Diagnose reagiert?


Sehr speziell. Ich muss dazu sagen, dass man sich in unserer Familie immer gegenseitig geschont hat. Ich habe zum Beispiel meinem Vater nie erzählt, dass meine Mutter wieder die Rechnungen versteckt hat, wenn sie sich im Alkohol­ rausch dem Kaufrausch hingegeben hat. Sie ist schwer abhängig. In meiner Kindheit habe ich ihr sicher dreimal das Leben gerettet, indem ich den Krankenwagen gerufen habe. Dass ich HIV habe, wusste lange Zeit nur mein Vater. Er hat immer für mich gesorgt. Aber er hat damals auch bestimmt, dass wir es meiner Mutter verheimlichen, weil er sie schonen wollte. Sie war am Boden zerstört, als ich es ihr nach zwei Jahren dann doch gesagt habe.

Nochmal zur Diskriminierung: Wirklich nie erlebt?


Doch, ehrlich gesagt schon. Früher zum Beispiel, als ich eine Zeit lang auf dem Bau gearbeitet habe, gab es dort einen Primitivling, der die ganze Zeit über «Drögeler und Junkies» gelästert hat. Und die Aidskranken müsse man alle auf eine Insel werfen und sie in die Luft sprengen, wenn es nach ihm gehen sollte. Aber wie gesagt: Ich versuchte, das an mir abprallen zu lassen und es nicht persönlich zu nehmen.

Wie ist dein Alltag mit Aids? Wie muss man sich die Therapie vorstellen?

Heute nehme ich nur noch ein Medikament pro Tag, früher musste ich noch drei verschiedene Präparate schlucken – 18 Pillen pro Tag. Sechs am Morgen, sechs am Mittag und sechs am Abend. Und ich musste es pünktlich tun, denn andernfalls hätte ich eine Resistenz entwickeln können.

Trotzdem ist das Virus vor 15 Jahren ausgebrochen. Wie ging es dir damals?

Ich war obdachlos zu dieser Zeit. Eines Tages bin ich im Spital erwacht, sechs Ärzte standen ums Bett. Sie sagten mir, dass ich eine Viruslast von 800’000 Kopien pro Milliliter Blut habe und sie sich nicht erklären können, wie ich überhaupt noch atme, da ich über zwei Liter Wasser in der Lunge habe. Dann haben sie mir wegen der hohen Infektionsgefahr alle Zähne entfernt und gesagt, dass ich mir unverzüglich eine Sterbe­WG suchen muss. Sie gaben mir nur noch wenige Wochen.

Und jetzt sitzen wir hier und reden.


Die Betreuerin der Arche, wo ich zum Sterben hin sollte, hat mich damals strahlend angesehen und gesagt: «René, du schaffst das, du stirbst noch nicht.» Da habe ich beschlossen, ihr zu glauben und nicht den Ärzten. Ich bin dann trotzdem in die Arche, aber nicht um zu sterben, sondern um an meinem Drogenproblem zu arbeiten – und habe den Absprung tatsächlich geschafft, auch dank dem Buddhismus, der mir sehr viel Kraft gibt. Seither lebe ich drogenfrei, abgesehen von 30 Milligramm Methadon am Tag.

Hattest Du, abgesehen von deiner Betreuerin und deiner Lebensphilosophie, noch weitere Unterstützung – eine Partnerin oder einen Partner vielleicht?

In der Anfangszeit meiner Drogenkarriere lernte ich C. kennen, meine erste grosse Liebe. Wir waren nur etwa ein Jahr zusammen, aber sind immer noch gute Freunde. Sie hat mir sehr geholfen.

Hast du Sex?


Jetzt schon, aber lange Zeit nicht. Ich hatte aber auch nicht das Bedürfnis danach. Einerseits, weil ich niemanden anstecken wollte, andererseits – und das ist der Hauptgrund – weil ich Angst hatte vor der Ablehnung: Ich habe den Frauen zwar immer von Anfang an gesagt, dass ich HIV­-positiv bin, habe aber lange geglaubt, dass sie mich am Schluss dann doch von der Bettkante stossen. Darum habe ich es gar nie soweit kommen lassen.

Und später?


Habe ich eine zweite Pubertät erlebt! Als ich vom Heroin und den anderen Drogen weggekommen bin, sah ich die Welt plötzlich mit ganz anderen Augen – und konnte auch anders auf die Menschen zugehen. In den letzten 15 Jahren hatte ich drei Beziehungen. Inklusive Sex. Viel Sex. Aber immer mit Kondom natürlich.

In den letzten 30 Jahren wurde viel aufgeklärt über Aids. Es gibt heute gute Therapien, die Überlebenschancen sind hoch. Manchmal hat man fast das Gefühl, es sei alles «halb so tragisch». Wird da nicht vieles schöngeredet?

Dieses Gefühl habe ich auch. Die Prävention hat heute nicht mehr den gleichen Stellenwert wie in den 80er­ und 90er­Jahren, und von vielen wird die Krankheit zu wenig ernst genommen. Am schlimmsten finde ich es, wenn Leute sagen, sie möchten gerne prophylaktisch ein Aids­-Medikament, damit sie ungeschützt Sex haben können. In der Gesellschaft schauen mittlerweile viele weg oder befassen sich gar nicht erst mit dem Thema. Weil sie denken: «Es gibt ja Medikamente, Aidskranke können gleich alt werden wie die Gesunden, die meisten sind ja nicht einmal mehr infektiös.» Dabei ist ihnen gar nicht bewusst, was es heisst, diese Medikamente zu nehmen: In meinem Körper wurden zum Bei­ spiel alle Fettzellen zerstört von den Aids-Medikamenten der ersten Generation, auch mein Darm und mein Magen sind total kaputt. Kommt hinzu, dass der Körper im Schnitt acht­ mal schneller altert, wenn man Aids hat. Die Ärzte sagen, ich hätte ein Rückgrat wie ein 100­Jähriger und ein Becken wie ein 80­Jähriger. Ich sehe das nicht so drastisch, schliesslich geht es mir heute wesentlich besser als noch vor zehn Jahren.

Du selber leistest auch Aufklärungsarbeit, meist in Schulklassen der Oberstufe, koordiniert von der Fachstelle für Aids­ und Sexualfragen. Wie erlebst du die Jugendlichen?

Entweder sie strahlen mich an oder sie sind mucksmäuschenstill, wenn ich komme. Oder sie siezen mich, was ich gar nicht mag. Dann mache ich einen Witz und schon ist das Eis gebrochen.

Wovon erzählst du ihnen in dieser Doppelstunde?


Von meinem Leben und von meiner Vergangenheit. Aber ich versuche immer positiv zu sein. In den letzten 30 Minuten lege ich jeweils noch ein paar Folien mit Zahlen und Statistiken auf.

Was ist denn das Ziel deiner Aidsprävention? Die Jungen zu sensibilisieren?

Das auch, aber vor allem will ich, dass sie bewusster leben. Dabei geht es nicht nur um das Körperliche, sondern auch um andere Lebensaspekte. Am wichtigsten ist mir, dass sie lernen, die Dinge stets zu hinterfragen und ihren Kopf einzuschalten – egal, worum es geht.

Heute stecken sich ja nur noch die wenigsten auf der Gasse an, viel öfter passiert es beim Sex. Ist dein Lebensweg überhaupt noch «repräsentativ» für die Aids-­Betroffenen?

Nicht wirklich, aber ich kläre die Klassen natürlich auf über die verschiedenen Ansteckungsmöglichkeiten. Schweizweit sind es gerademal noch zwei bis drei Personen, die sich noch mit der Nadel anstecken.

Was gibt dir die Arbeit mit den Schulklassen?


Extrem viel! Etwas vom Schönsten ist, wenn ich nach meinem Besuch Facebook­-Nachrichten bekomme von Schülern. Ich erlaube ihnen das ausdrücklich, weil es immer wieder vorkommt, dass mir jemand im Nachhinein eine vertrauliche Frage stellen will. Kürzlich habe ich zum Bei­ spiel folgende Nachricht erhalten: «Grüezi, ich bin der B. von der 13b. Ich wollte mich nochmals bedanken und dir sagen, dass ich grossen Respekt vor deiner Freude am Leben habe. Ich musste mich zusammenreissen, dass ich nicht weine, als du von deiner Kindheit erzählt hast, denn ich habe Ähnliches erlebt und eine Zeit lang auch keine Freude am Leben gehabt. Du hast mir heute gezeigt, dass man es schaffen kann, wenn man will und daran glaubt.»

Dieses Interview erschien zuerst auf dem Blog der Fachstelle für Aids- und Sexualfragen.
ahsga.ch

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