, 15. April 2022
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Im Teig der Zeit

Andrea Vogel erhält den Konstanzer Kunstpreis 2022. Die St.Galler Künstlerin und Textildesignerin arbeitet multimedial und befasst sich aktuell mit ihrem Langzeitprojekt «Sculpture Massage» und der Strasse des Friedens. Ein Portrait.

Andrea Vogel im Tankkeller in Egnach, wo derzeit ihre Videoarbeit Megabite zu sehen ist, in der sie sowohl die Wegwerfgesellschaft als auch den Sündenfall thematisiert. (Bild: pd)

Teig der Zeit heisst eigentlich eine Arbeit der Künstlerin Olivia Notaro, mit der Andrea Vogel befreundet ist. Gemeinsam haben sie 2018 im bernischen Oberdiessbach die ehemalige Bäckerei der Familie Vogel künstlerisch bespielt: Backförmchen aufgetürmt, Backöfen ausgeräuchert, Backpapier über Kuchenblech eingenässt und trocknen lassen, Salzteiggipfeli produziert, Arbeitsgeräte aufgehängt oder sich über den Kopf gestülpt und sich so fotografiert.

Räume einnehmen ist ein Grundmotiv in Andrea Vogels Schaffen. Im Stop-Motion-Video Auferstäubung liegt sie nackt und mit Mehl überstäubt auf dem Backstubenboden und erhebt sich langsam daraus. Ihre Freundin Olivia Notaro hat über die Uhren in den Backstuben Teig gehängt, der sich im Verlauf der Vernissage je nach Konsistenz in Dalí-Manier nach unten verzog oder einriss, dass es aussah wie achtlos hingeworfene Unterwäsche.

Über Biel und Luzern nach St.Gallen

Der Vater hat es hingenommen, obwohl ihn die künstlerischen Interventionen eigentlich störten, wie er später erst zugab. Wie man da seine Gerätschaften inszenierte, mit denen er über Jahrzehnte mit Fleiss und Stolz arbeitete – als hätte man sie ihrer Funktion beraubt. Andererseits erhielt das Dorf so auch Einblicke in dieses verborgene Universum hinter den Brotregalen, das die spätere Künstlerin schon als Kind inspiriert hatte. Auch ehemalige Angestellte waren zum dreitägigen Kunst-Happening erschienen. Bewegende Momente, schöne Erinnerungen. Die grosse Anteilnahme berührte natürlich auch den Vater.

Andrea Vogel liegt viel daran, immer wieder Neues zu entwickeln, immer auch mit Bezug zum Raum, in dem ihre Kunst stattfindet – egal ob Textiles, Skulpturales, Foto, Video oder Live-Performance. Alltägliches und Absurdes, still oder in Aktion, reduziert auf die Essenz. «Ihre Arbeiten zeugen von Humor und Witz», schreibt der Kunstverein Konstanz, der ihr 2022 den Kunstpreis verleiht. Vogel freut sich sehr über die Wertschätzung von ennet dem Bodensee und von Seiten der Dreiländerjury. Im Pressetext werden gar Parallelen gezogen zu Signer und Fischli & Weiss. Grosse Vergleiche, die die Künstlerin trotz bekundeten Unbehagens ehren. Wenn sie etwa vor der Spülkasten-Weltfirma Geberit in Rapperswil einen Sack mit 15 Litern Wasser so lange hochstemmt, bis ihr die Kraft ausgeht und sich alles über sie ergiesst, hat das schon auch etwas Signer’sches.

Andrea Vogel ist 1974 in Oberdiessbach geboren und aufgewachsen. Dem lebhaften Kind war bald klar, dass es einen kreativen Beruf erlernen will. So trat sie in einer Weberei die Lehre zur Textilentwerferin an. Noch heute webt Vogel gerne. Dieses Oben-durch-unten-durch, diese kleinste Einheit der Stoffgestaltung fasziniert sie bis heute. Nach der Lehre absolvierte sie in Biel den gestalterischen Vorkurs, danach die Fachklasse für Textilgestaltung in Luzern.

Das Diplom war kaum überreicht, da bot ihr die Jakob Schläpfer AG einen Job als Textildesignerin an. Das war 1999. Seither lebt und arbeitet Vogel grösstenteils in St.Gallen. Der Firma Schläpfer blieb sie 12 Jahre lang treu. Die Stoffe, die technischen Möglichkeiten und die Reisen an die Modeschauen in Paris waren Inspiration für ihre ersten freien Arbeiten.

Zwischen Paris und Moskau

Die Selbsterkenntnis, auch eine Künstlerin zu sein, erwachte 2001 mit dem Kauf einer Digi-Cam. Ihr damaliger Mitbewohner richtete die laufende Kamera auf sie und zündelte, mit so einem teuren Gerät müsse sie jetzt schon «öppis Rechts mache». Die Möglichkeit, Körperhandlungen in Kombination mit den unterschiedlichsten Materialien aufzuzeichnen, war der Ausgangspunkt ihrer performativen Arbeit. Eine ihrer ersten Live-Performances, Laufsteg, zeigte sie 2008 in einer ehemaligen Färberei in Oberuzwil, wo sie als Model mit hohen Absätzen einen selbstgebauten Hindernisparcours überwand. Auch hier die Freude am Experiment mit allerlei Fabrikgerümpel und das Spiel mit der ständigen Gefahr, sich bei aller Eleganz zum Affen zu machen.

Nebst dem, dass sie für ihre Kunstpreis-Ausstellung in Konstanz recherchiert, beschäftigt sie sich derzeit wieder intensiv mit ihrem Langzeitprojekt Sculpture Massage. Zusammen mit Filmer Jan Buchholz (z.B. Auf- und Abbruch in St.Güllen, 2007, oder Eigenbrand, 2010) hat sie nach dem ersten Lockdown und auch jüngst wieder die «Strasse des Friedens» bereist. So nannte der deutsche Bildhauer Otto Freundlich seine Vision eines Skulpturenwegs zwischen Paris und Moskau. Bis 1. Mai ist das Video, in dem Vogel in einer Wiese im Saarland eine riesige Fuss-Skulptur des japanisch-deutschen Bildhauers Yoshimi Hashimoto massiert, in der «Klause» in der St.Galler Mülenenschlucht zu sehen.

Und da ist er wieder, der Teig der Zeit. Kurz nach der persönlichen Begegnung mit Hashimoto in Berlin und anderen Kunstschaffenden und nur wenige Stunden nach Putins Marschbefehl kommt es vor dem blau-gelb beleuchteten Brandenburger Tor zu einer ersten grossen Friedenskundgebung. Vogel und Buchholz mittendrin.

Noch ist ungewiss, ob das Weltgeschehen in absehbarer Zeit Reisen in den europäischen Osten zulässt und Skulpturen von Paris bis Moskau massiert werden können. Aber auch das gehört letztlich integral zu Andrea Vogels Schaffen: der freie und befreiende Umgang mit überraschenden Wendungen.

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