, 21. Oktober 2021
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In Aarau galoppiert die Kultur

Aarau hat, was der Ostschweiz fehlt: ein Mehrspartenhaus für freies Theater, Musik & Co. Die St.Galler Architekten Barão-Hutter haben die alte Reithalle umgebaut. Das Kulturmagazin Aaku hat hinter die Kulissen geblickt. Hier der Bericht. Von Michael Hunziker

Szene aus der Eröffnungsproduktion «Tanzhalle Reitpalast» (Bild: Chris Iseli)

Am frühen Morgen öffnet sich eines der glänzenden Stahltore der neuen Reithalle, und Peter-Jakob Kelting, der künstlerische Leiter, betritt einen Traum, der sich nach langen Jahren in der Schwebe in den letzten 24 Monaten sukzessive materialisierte.

Peter-Jakob Kelting am Zugang zur Reithalle. (Bild: Aaku)

Im Innern hängen zehn Meter hohe Vorhänge von der Decke, die Scheinwerfer leuchten bereits, in zwei Bereichen der Halle erheben sich die Reihen der Zuschauertribünen. Hinter der Westbühne befindet sich eine Art mehrstöckiger langgezogener Betonmonolith. In diesen haben Barão-Hutter Architekten, die für die Ausgestaltung des Traums verantwortlich sind, von der Garderobe über die sanitären Anlagen bis zum Sitzungszimmer sämtliche Funktionsräume untergebracht. Die Halle ist somit maximal freigeräumt und erlaubt eine sehr flexible Nutzung.

«Ich bin immer noch überwältigt», sagt Kelting, «obwohl die Halle für mich bereits zum Alltag geworden ist.»

Techniker proben gerade zusammen mit Puppenspieler Hansueli Trüb für ein Figurentheater. Viel High-Tech, viele Funktionen, viele Möglichkeiten, die die Halle kommenden Produktionen bieten wird. «Wir befinden uns in einer wichtigen Phase, in der wir uns den neuen Bau aneignen müssen», sagt Kelting. Es gehe darum, Erfahrungswerte zu sammeln, zu erkennen, was geht und was nicht.

Einheit von alt und neu: die Reithalle. (Bild: pd)

Sämtliche Elemente der Halle sind modular und können verschoben werden. «Theoretisch ist beinahe alles in diesem Bau möglich. Es sind die personellen Ressourcen, die uns die Grenzen aufzeigen werden», erklärt Kelting, der den Bau bereits auswendig zu kennen scheint. Kein Wunder, schliesslich begleitet er seit 11 Jahren die Transformation von Reithalle zur Bühne.

Was lange währt…

Bereits vor fünfzehn Jahren kursierte die Idee unter Kulturschaffenden, die Aarauer Reithalle als kulturellen Veranstaltungsort zu nutzen. Ein solches Gebäude mitten in der Stadt ungenutzt zu lassen, war Luxusindiz und Armutszeugnis zugleich. Die Reithalle als Bühne – diese Idee fand dann auch Eingang in der Aarauer Bewerbung um das damals vom Kanton ausgeschriebene Projekt der sogenannte Mittleren Bühne. 2006 erhielt die Stadt vor anderen Mitbewerbern wie Brugg oder Baden den Zuschlag, das Projekt ausarbeiten zu dürfen, und 2008 konnte ein Projektierungskredit gesprochen werden.

Nachdem 2012 der Entwurf von Barão-Hutter Architekten aus einem Architekturwettbewerb hervorgegangen war, verfiel das Vorhaben jedoch beinahe in einen Dornröschenschlaf. Immerhin erreichten engagierte Theaterschaffende unter der Leitung der damaligen Tuchlaube eine Zwischennutzung für die Sommermonate, die in der Aarauer Bevölkerung allmählich die Bedeutung und den Wert dieses Ortes als Kulturstätte bewusst werden liess.

Als dann mit argovia phiharmonic ein weiterer Akteur sich für die Reithalle einsetzte, kam Bewegung in die Sache, und der bereits etwas angezweifelte Traum wurde politisch wieder mehrheitsfähig. 2018 stimmten 61 Prozent der Aarauer:innen für die städtische Beteiligung am Baukredit von 20,45 Millionen Franken, und der Rest ist heute Geschichte.

Ein Schwerpunkt ist Zirkustheater

«Während der Zwischennutzung haben wir den Raum in seiner provisorischen Form gut kennengelernt und theatrale Formate entdeckt, die sich besonders dafür eignen», erzählt Kelting. So sind die Verantwortlichen durch die Zusammenarbeit mit dem Festival Cirqu’, das in der Zwischennutzung mehrmals Gastrecht genoss, auch auf den Zirkus gekommen. Nun ist geplant, dass die Bühne Aarau in dem neuen Spielort Zirkustheater nachhaltig programmiert.

Impression vom Festival des Cirqu‘ Aarau. (Bild: pd)

Dieses Alleinstellungsmerkmal wird auch überregional wirken. Im gesamten deutschsprachigen Raum ist der Zirkus als Bühnenkunst untervertreten, im Gegensatz etwa zur Romandie, Frankreich oder Belgien, wo dieser selbstverständlich zu den darstellenden Künsten gehört.

Von Zirkus bis zum klassischen Orchester – das ist die Spannweite der neuen Reithalle. Das Programm ist dicht, gleichzeitige Aufführungen lässt die Halle nicht zu, Umbauzeiten müssen bei der Programmierung einberechnet werden.

Ein Verein, viele Nutzer:innen

Zur komplexen operativen Organisation kommt eine komplexe Trägerschaft. Es wird ein herausforderndes, aber aussichtsreiches Einspielen für die Bühne Aarau und das argovia philharmonic. Der Verein ARTA (aus der Fusion verschiedener Interessenverbände hervorgegangen) ist Betreiber der Halle und für alles verantwortlich. Die Bühne Aarau ist Hauptnutzerin mit rund 120 Vorstellungen, argovia philharmonic Ankermieter mit rund 40 Nutzungstagen pro Jahr und etwa 20 Konzerten. «Wir sind bereits im Ideenaustausch für gemeinsame Inszenierungen», sagt Kelting.

Das Buch zur Halle

«Geh nach Aarau, da wird etwas.» So steht es im Buch, das Autorin Anouk Gyssler zur Reithalle herausgebracht hat. Sie hat den Transformationsprozess der Alten Reithalle jahrelang begleitet, über 40 Gespräche mit Menschen aus Kultur, Politik, Technik und Nachbarschaft geführt, Baustellenbesuche unternommen und in Archiven gewühlt.

brokenspaces.ch

Die Reithalle gehört der Stadt (35 Jahre im Baurecht), dem Kanton die Nebengebäude, frühere Ställe, in denen sich Bar und Lager befinden. Auch diese Bauten bilden mit der Reithalle ein Ensemble, das durch einen attraktiven Hof verbunden ist, durch den die Reithalle erschlossen und der auch für sich bespielt werden kann.

Die Ställe wurden in ihrer Struktur bewahrt. Sprechenderweise liessen die Architekten den Wänden entlang die früheren Tränken bestehen und konzipierten hier die zurückhaltende «Bar im Stall», die schon während der Zwischennutzungen zur Legende geworden ist. Künftig wird dieser Raum eine eigene Veranstaltungsreihe erhalten und an seine jüngere Geschichte anknüpfen können.

Möglichst hürdenfrei

Kelting steht im Hof zwischen den Gebäuden, die meisten Hürden sind genommen, alle Eventualitäten scheinen aus dem Weg geräumt, die Eröffnung ist am vergangenen Wochenende über die Bühne gegangen: die Eigenproduktion Tanzhalle Reitpalast (letzte Vorstellung am 22. Oktober). Der Termin wurde bloss einmal verschoben – nein, nicht Corona – wegen einer Baurechtsbeschwerde. Im Nachhinein wohl gar zum Glück der Reithalle, die ansonsten mitten in der Pandemie hätte eröffnen müssen.

Stichwort Hürden: Die Reithalle ist ebenerdig von mehreren Seiten zugänglich. Keine Schwellen – und das soll auch inhaltlich gelten: «Ich wollte nie Theater für die happy five percent machen», sagt Kelting, dessen erklärtes Ziel es ist, das Haus möglichst breit aufzustellen und Synergien mit Künstler:innen und Organisationen aus allen Disziplinen, mit Profis und mit Laien, zu suchen.

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