Kein Kunstsinn!
Für seine neuste Produktion hat sich Kellerbühnen-Leiter Matthias Peter einen Text vorgenommen, mit dem St.Gallen im Jahr 1909 ein literarisches Denkmal gesetzt worden ist. Viktor Hardungs Roman Die Brokatstadt spielt im St.Gallen der Jahrhundertwende und gibt einen Einblick in die Welt des damaligen Theaterbetriebs.
Matthias Peter hat den Roman entschlackt und zu einer Bühnenfassung umgearbeitet. Geblieben ist die elegante Sprache Hardungs, der mit ironischer Schärfe gegen die besserwisserische Theaterkritik, das bornierte Publikum und die korrumpierten Regisseure seiner Zeit austeilt.
Den Roman als Schauspiel umzusetzen, wäre logistisch kaum möglich gewesen, zu gross ist die Zahl an Figuren und Schauplätzen.
Mehr als ein Melodram
Das Format der szenischen Lesung liegt also nahe: Diese Form (sie liegt irgendwo zwischen Lesung und Schauspiel) gibt dem Ensemble die Möglichkeit schnell zwischen Figuren und Schauplätzen hin und her zu springen, Szenen mit einem lauten «Schnitt!» zu beenden und – wenn es arg frauenfeindlich zu und her geht – auch einfach mal einige Szenen zu überspringen.
Diese ironische Leichtigkeit im Umgang mit dem Stoff tut der Geschichte gut und bringt ein schnelles Tempo in den Abend.
Worum geht es? Die Geschichte kreist um das St.Galler Theaterleben vor 100 Jahren. Eine Zeit, in der das Publikum einfach nur unterhalten werden wollte, in der die miserabel bezahlten Schauspielerinnen und Schauspielern Stücke am laufenden Band produzieren mussten und in der die Theaterdirektoren Ausbeuter der übelsten Sorte waren.
Weitere Vorstellungen:
26. September, 20 Uhr
27. September, 17 Uhr
30. Oktober, 20 Uhr
31. Oktober, 20 Uhr
1. November, 11 Uhr
Im Zentrum stehen der Kritiker Ulrich Wegell (Matthias Peter) und der Spielleiter Karl Möllenhof (Alexandre Pelichet), die sich aus ihrer Jugend in Deutschland kennen und sich nun in St.Gallen wiedertreffen («Unsere Jugend hätte ein besseres Ende verdient»). Im anderen finden sie einen Verbündeten im Kampf gegen die Zustände am Theater. Zwischen den beiden Männern steht die junge Schauspielerin Lora van Born (Simone Stahlecker), in die sich Wegell verliebt, obwohl er noch in eine Liebelei mit der reichen Rikarda Wessemberg verstrickt ist.
Weit spannender als die etwas schnulzige Liebesgeschichte sind die Episoden über das Theaterleben der Zeit: Einblicke in das Milieu der Schauspielerinnen und Schauspieler, die mit Kürzungen der Gagen, der eigenen Gedächtnisleistung oder mit reichen Liebhabern aus dem Publikum zu kämpfen haben.
Dabei tauchen herrlich groteske Figuren auf: Eine Souffleuse, die wütend ihr Textbuch zerreisst, ein Schauspieler, der aus Abneigung gegen den Regisseur keinen Text mehr auswendig lernt oder ein junges Mädchen, das sich während einer Vorstellung unsterblich in den Hamlet verliebt.
Alle Episoden werden mit einer ironisch distanzierten Leichtigkeit erzählt und von Live-Musik (Urs Gühr am Klavier) begleitet. Wenn sich dann aber ein alternder Schauspieler während einer Vorstellung erhängt, nachdem sein Gehalt halbiert worden ist, dann ist das Stück plötzlich mehr als ein musikalisches Melodram. In diesen Momenten zeigen sich die tiefen Abgründe der Figuren.
Schnitt!
Die Schauplätze wechseln in schnellem Rhythmus, der grösste Teil der Geschichte spielt aber im und um das Stadt- und Aktientheater am Bohl.
Zur Orientierung werden historische Fotografien der jeweiligen Schauplätze in einen goldenen Bilderrahmen auf der Bühne projiziert. Das hätte es gar nicht gebraucht, die drei SchauspielerInnen führen das Publikum souverän und mit viel Witz durch das Stück. Dabei stecken sie in historischen Kostümen (vom Kostümverleih Jäger): Das pompöse Seidenkleid der Frau und die historischen Anzüge der Männer verweisen dabei nicht nur auf die Zeit um die Jahrhundertwende, sondern führen gleichzeitig auch die Mittel des Theaters vor, das mit Kostümen und Requisiten Welten erschaffen kann, wie das auch in der erzählten Geschichte ständig geschieht. Auf schöne Art vermischen sich hier die Ebene der Lesung mit derjenigen der Geschichte.
Die Schauspielerin Simone Stahlecker und die Schauspieler Alexandre Pelichet und Matthias Peter sind ein starkes Trio. Sie springen alle mühelos zwischen den verschiedenen Figuren, Stimmen und Dialekten (halb Deutschland taucht im Stück auf). Die Musik von Urs Gühr unterstützt den ironischen Gestus der Inszenierung und nimmt in den richtigen Momenten die Emotionen auf der Bühne auf und spitzt sie musikalisch zu.
Wahrlich, Matthias Peter kann mit Kulissenklatsch zwei Erfolge für sich verbuchen: Er hat Viktor Hardungs angestaubten Theaterroman nicht nur gelungen dramatisiert, sondern die verdichtete Fassung auch mit dem richtigen Gespür für Tempo und ironische Leichtigkeit auf die Bühne gebracht.
Titelbild: Simone Stahlecker, Matthias Peter, Alexandre Pelichet und Pianist Urs Gühr (v. r.), im Hintergrund das alte Stadttheater am Bohl. (Bild: Timon Furrer)