, 29. Januar 2023
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Kein schöner Mord

Das Theater Konstanz inszeniert Georg Büchners Geschichte des Femizids an Marie aus ihrer Perspektive. «Woyzeck» ist noch bis 17. Februar zu sehen. von Franziska Spanner

Marie (Anne Rohde) und Woyzeck (Ruby Ann Rawson). (Bild: Ilja Mess)

Marie. Da sitzt sie auf einem Stuhl mit leicht zerzaustem rosafarbenem Haar, in helle Cremetöne gekleidet, ein zaghaftes Lächeln umspielt ihre Lippen. Sie spielt eine Melodie auf einem unsichtbaren Klavier. «Ich bin Marie. Ich bin eine Frau, die Marie war.»

In ihrer Woyzeck-Inszenierung am Theater Konstanz macht Nina Mattenklotz die Frau nicht nur zur Hauptfigur, sondern auch zur Erzählerin einer unvermeidbaren Tragödie. «Die Frau, die ich war, war keine schöne Leiche und ihr Mord war Mord.» So eröffnet sie die Inszenierung mit dem Schluss des Stücks.

Schauspielerin Anne Rohde singt, tanzt und lächelt gequält angesichts des tragischen Schicksals einer unverheirateten Mutter, die dem einfachen Soldaten Woyzeck untreu wird und dafür mit ihrem Leben zahlt.

Eine trostlose Welt

Die Bühne von Lise Kruse bietet mit einem toten Wald aus grauen Baumstümpfen eine triste Szenerie. Dazwischen entfaltet sich die ganze Brutalität einer gnadenlosen Klassengesellschaft, in der Machtmissbrauch an der Tagesordnung ist und psychischen wie physischen Zoll fordert. Einzig die Leuchtbuchstaben im Hintergrund stechen hervor, schreien dem Publikum «Hurenkind» ins Gesicht.

Maries Kind wird im Stück durch eine kleine kantige Holzfigur mit beweglichen Gliedmaßen repräsentiert. Sie ist das einzige andere Wesen, das die junge Frau sicher liebt. Die Konstanzer Inszenierung will zeigen, dass Marie Angst vor ihrem Partner hat, doch wird diese Idee nicht durchgehalten.

Woyzeck von Georg Büchner:
bis 17. Februar, Theater Konstanz

theaterkonstanz.de

Die junge Frau hat eine Affäre mit dem Tambourmajor (Patrick O. Beck), der eher ihrer Vorstellung von einem starken Mann – jedenfalls dem gesellschaftlichen Ideal («wie ein Löwe») – zu entsprechen scheint als der dumpf gehorsame Soldat Woyzeck. Der Liebhaber, ganz Draufgänger, trägt Stiefel und lange weisse Unterhosen, ein Baselball-Shirt und darüber eine schmutzig-weisse Jacke, die eine Uniform nur im Schnitt andeutet.

Durch ihre dezente, aber zielsichere Auswahl von Kleidungsstücken erweitert Lise Kruse die Charaktere und knüpft an moderne Archetypen (beispielsweise den Highschool-Beau) an, die die Zuschauer:innen mit den einzelnen Figuren verbinden können.

Der Hauptmann, dessen melancholische Züge Anna Eger geschickt herausarbeitet, tritt in blauer Stoffhose mit Bügelfalte und einem Feinripp-Unterhemd auf, an das seine militärischen Auszeichnungen geheftet sind. Mit nur einem Auge vom Kampf (?) gezeichnet lässt Eger den Hauptmann sorgenvoll in die Zukunft einer Welt blicken, in der ohnehin schon alles zerstört scheint: «Es wird mir ganz angst um die Welt, wenn ich an die Ewigkeit denke.»

Zwischen Klassen und Geschlechtern

Nina Mattenklotz Inszenierung baut zum einen auf die klassischen Elemente des Stücks, indem sie die sozialen Macht- und Missverhältnisse aufzeigt, denen Woyzeck ausgesetzt ist:

Als Patient und Versuchskaninchen des Doktors (Ulrich Hoppe), der ihm mit beeindruckender Nonchalance klarmacht, dass er gar keine andere Wahl hat als sich dem «überlegenen» Wissenschaftler zu fügen.

Als Untergebener des Hauptmanns, der sich polternd über die Dummheit und Verdorbenheit des einfachen Soldaten lustig macht: «Er ist ein guter Mensch, ein guter Mensch – aber Woyzeck, er hat keine Moral!»

Als Person niederen Stands, der sich in dieser wie in der anderen Welt zum Fussabstreifer verdammt glaubt: «Ich glaub, wenn wir in den Himmel kämen, so müssten wir donnern helfen.»

Nahezu alle Darstellenden befinden sich permanent auf der Bühne, agieren aktiv oder halten sich in Standbildern im Hintergrund. Zum anderen arbeitet die Regisseurin Geschlechterrollen und -konflikte heraus. Etwa wenn der Tambourmajor Woyzeck erklärt, dass ein Mann saufen müsse und ihm dabei eine Flasche Schnaps über dem Kopf auskippt.

Immer wieder kehrt die Erzählung zu Maries Perspektive zurück, schildert ihre Sehnsüchte und Bedürfnisse, den Druck, den «die Leute» und die Kirche auf sie als unverheiratete Mutter ausüben. Als Frau ist sie die Einzige, die sich niemandem gegenüber in einer Machtposition befindet. Selbst Woyzeck ist sie letzten Endes unterlegen. Und sie wiederum ist die Einzige, an der der «kleine» Mann seine pathologische Ohnmacht entladen kann. Woyzeck wehrt sich nicht gegen seine Oppressoren, sondern tritt wie auch sie nach unten.

Woyzeck als Opfer und Täter

Ruby Ann Rawson spielt einen präsenten Woyzeck, der empfindsam ist bis hin zum Wahn. Büchners eingängiger Sprache verleiht Rawson mit ihrer Stimme den notwendigen Tiefgang («Was der Mond rot aufgeht, wie ein blutig Eisen»). Als Spielball der Klassenhöheren ist Woyzeck zwar präsent, aber reagiert statt zu agieren. Erst als Woyzeck Marie ermordet, wird Rawsons Stimme laut.

Die Wahl der Besetzung wirkt nicht in jeder Szene rund – besonders bleibt die (wachsende) krankhafte Unruhe im Laufe der Inszenierung auf der Strecke, die Woyzeck erst zum Mörder macht. Die Botschaft dieser Inszenierung geht über klassische Interpretationen des Stücks hinaus. Miserable äussere Umstände mögen Woyzeck zwar zum Psychopathen Mörder werden lassen, dennoch bleibt die Frage im Raum, inwiefern der Mord an Marie nicht auch seine freie Entscheidung war. Das Original dagegen sucht die Schuld woanders.

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